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Full text of "Klinische Ergebnisse : gesammelt in dem Königlichen poliklinischen Institut der Universität"

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Klinische  Ergebnisse. 

Gesammelt 

in  dem 

Königlichen  poliklinischen  Institut  der  Universität 

von 

dessen  Assistenzärzte 

Dr.  Ouarö  jfijcnoclj, 

und  herausgegeben 


VM 


' 


%_V:  M.-/ 


von 

Dr.  iltorit;  fjeinrirl)  Komb  erg, 

Ritter  des  rothen  Adlerordens  dritter  Klasse  mit  der  Schleife,  ordentlichem  • 
öffentlichem  Professor  der  Heilkunde,  und  Direktor  des  Königlichen 
poliklinischen  Instituts  der  Friedrich  - Wilhelms  - Universität 

zu  Berlin. 


Mit  zwei  Abbildungen. 


Berlin,  1846. 


Albert  Förstner. 


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Digitized  by  the  Internet  Archive 

in  2015 


https://archive.org/details/b22327903 


Seiner  Excellenz 


dem  Königlichen  Preussischen  Wirklichen  Geheimen 
Staats-  und  dirigirenden  Minister  der  geistlichen, 
Unterrichts-  und  Medizinal- Angelegenheiten  , 

Ritter  des  rothen  Adlerordens  erster  Klasse, 

Herrn  Doctor  Eichhorn, 


aus  inniger  Verehrung  und  Dankbarkeit. 


Vorwort. 


Bei  dem  Antritte  meines  klinischen  Lehramts  über- 
nahm ich  eine  dreifache  Verpflichtung:  gegen  die  Zu- 
hörer, gegen  die  Staatsbehörde,  gegen  die  Wissenschaft. 

Meinen  Zuhörern  gegenüber  setze  ich  die  Treue 
der  Wahrheit  allem  Andern  vor.  Die  Lücken,  wo 
sie  vorhanden,  aufzudecken,  ist  mein  Bemühen,  nicht 
sie  mit  phantastischen  Ausschmückungen  zu  verhüllen. 
Ich  halte  es  für  unverträglich  mit  meinem  Gewissen, 
Erklärungen  abzugeben , wo  keine  gegeben  werden 
können,  wo  die  Zwischenglieder  noch  unbekannt  sind. 
Den  Fortschritten  der  Medizin  hat  diese  Erklärungs- 
sucht geschadet,  hat  dem  Dilettantismus  freie  Bahn 
gemacht,  während  die  exacten  Wissenschaften  mit  ge- 
bührender Strenge  sie  von  sich  weisen.  Eben  so 
sehr  liegt  mir  aber  daran,  den  Weg  anzudeuten,  auf 
welchem  Thatsachen  gewonnen  werden.  Die  Zeiten 
sind  zum  Glück  vorüber,  wo  ein  von  der  Menge 


angestauntes  Ahnungsgefühl  den  Nimbus  strahlender 
machte  — in  unsern  Tagen  kann  und  muss  die  Me- 
thodik der  Beobachtung,  womit  die  propädeutische 
Einübung  der  einzelnen  Untersuchungsweisen  nicht  zu 
verwechseln  ist,  einen  Haupttheil  des  klinischen  Unter- 
richts bilden.  Der  Zuhörer  darf  jetzt  Anspruch  an  den 
Schlüssel  zu  den  Bestimmungen  des  Lehrers  machen, 
und  wird  dieselben  nicht  mehr  wie  Sprüche  vom  py- 
thischeu  Dreifuss  hinnehmen  wollen.  Den  Gans;  und 
Zusammenhang  in  der  Untersuchung  klar  zu  machen, 
ist  eine  wichtige  Aufgabe  des  klinischen  Lehrers,  deren 
Lösung  er  nicht  voraussetzen  darf.  Der  Zuhörer  lernt 
dadurch  von  Anfang  an  seine  Fragen  motiviren  und 
überflüssige  meiden , was  den  Aerzten  wahrlich  nicht 
immer  als  Vorzug  angerühmt  werden  kann.  Auch 
stellt  sich  dabei  die  Schwierigkeit  der  Forschung  deut- 
lich heraus  und,  was  besonders  wichtig  ist,  in  vielen 
Fällen  die  Unmöglichkeit,  bei  der  ersten  Untersuchung 
zu  einem  genügenden  Resultate  zu  gelangen.  So  wird 
die  Oberflächlichkeit  vermieden,  der  Ernst  augeregt, 
der  Eifer  belebt,  mehr  als  durch  die  flüchtige  Ueber- 
raschung  mit  einer  diagnostischen  Entdeckung.  Allein 
nicht  nur  der  Erkenntniss  und  Beobachtung  der  Krank- 
heit und  ihrer  Eigentümlichkeit  in  dem  Individuum, 


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auch  der  Behandlung  suche  ich  in  vollem  Umfange  die 
Methode  und  Kritik  der  Beobachtung  zu  Thoil  werden 
zu  lassen.  Wenn  die  ältere  Zeit  sich  nicht  frei  von 
Pedanterie  und  therapeutischer  Orthodoxie  hielt,  so 
tritl't  die  neuere  der  Vorwurf  der  Nichtachtung  und 
Leichtgläubigkeit,  und  immer  mehr  und  mehr  droht 
der  Heilzweck  Nebensache  zu  werden.  Daher  drängen 
sich  von  allen  Seiten  Unberufne  ein,  und  finden  wegen 
grosser  Consequenz  leicht  Anhang  bei  den  in  Betreff 
ihrer  Gesundheit  stets  abergläubigen  Menschen.  Wer 
jedoch  im  Rezept  das  Auskunftsmittel  sucht,  irrt  gewal- 
tig, täuscht  sich  und  Andere:  vielmehr  sei  das  Stre- 
ben im  klinischen  Vortrage  darauf  gerichtet,  die  Fälle, 
wo  der  Pruritus  praescribendi  überwunden  werden 
muss,  von  jenen  zu  unterscheiden,  wo  wir  mit  unsern 
Hülfsmitteln  einschreiten  müssen.  Auf  diesem  Wege 
werden  Skepsis  und  Superstition,  beide  gleich  un- 
fruchtbar für  das  therapeutische  Wirken,  am  sichersten 
verhütet.  Müssen  Verordnungen  getroffen  werden,  so 
liege  das  Detail  nicht  minder  ob  wie  bei  einer  diagno- 
stischen Untersuchung.  An  den  Physikern  und  Che- 
mikern nehme  der  Arzt  ein  Beispiel,  mit  welcher  Ge- 
nauigkeit die  zeitlichen  und  räumlichen  Verhältnisse 
für  das  Experiment  bestimmt  werden.  In  einem  poli- 


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klinischen  Institut  sind  solche  Maassgaben  um  so  noth- 
wendiger,  weil  sich  der  sorgfältigen  Ausführung  ohne- 
hin Schwierigkeiten  entgegenstellen,  die  in  einer  sta- 
tionären Klinik  nicht  obwalten.  Ueberhaupt  erschwert 
der  Mangel  an  einer  Controlle  der  Kranken,  *wie  sie 
im  Hospital  durch  das  Wartungspersonal  erzielt  wird, 
die  Beobachtungen,  und  lässt  manche  unvollständig. 
Dafür  werden  der  Poliklinik  andre  unverkennbare  Vor- 
züge zu  Theil.  Abgesehen  von  der  Kenntniss  des 
Anfangs  vieler  Krankheiten  und  ihrer  Successionen  ist 
die  Bekanntschaft  mit  leichten  und  flüchtigen  Affektionen 
von  Wichtigkeit,  weil  sie  die  häufigeren  Vorkommnisse 
des  Praktikers  sind,  hinter  denen  in  unsern  Tagen  so 
oft  kolossale  und  gefährliche  Zustände  gewittert  wer- 
den. Während  im  Hospitale  nur  die  Krankheit  im 
Menschen  den  Zuhörer  fesselt,  lernt  er  hier  den  Men- 
schen in  der  Krankheit  kennen.  Der  grosse  Einfluss 
der  Leidenschaften  und  Vorurtheile,  der  sich  in  der 
Hütte  wie  im  Pallaste  geltend  macht,  tritt  unverhüllt 
vor’s  Auge,  und  der  Anblick  eines  schweren  Kranken, 
umringt  von  den  Seinen,  weckt  früh  die  humane  Rich- 
tung, welche,  wenn  sie  nicht  in  Heuchelei  und  Schein- 
heiligkeit  ausartet,  des  Arztes  harte  Laufbahn  mit  ihrer 
Milde  erleichtert. 


IX 


Die  Wirksamkeit  des  klinischen  Lehrers  beschränkt 
sich  jedoch  nicht  auf  die  Zuhörer,  auch  aul  den  ärzt- 
lichen Bildungsgang  im  Allgemeinen  muss  sie  sich  aus- 
dehnen, und  dies  ist  der  Standpunkt,  welchen  jener 
zur  Staatsbehörde  einzunehmen  hat.  Ihm  wird  es  vor 
Andern  durch  seine  nahe  Verbindung  mit  dem  selbst- 
thätigen  Zuhörer  möglich,  eine  gründliche  Einsicht  in 
die  gegenwärtige  Haltung  des  medizinischen  Studiums 
zu  erwerben,  und  dessen  androhendem  Verfalle  nach 
Kräften  entgegenzuwirken.  Es  ist  hier  nicht  der  Ort,  auf 
die  mannigfaltigen  Ursachen  mangelhafter  Vorbereitung 
und  Durchbildung,  worüber  so  häufige  Klagen  erhoben 
werden,  einzugehen,  allein  zwei  scheinen  mir  wichtig 
genug  namhaft  gemacht  zu  werden:  die  nutzlose  Ver- 
vielfachung der  von  den  Docenten  gehaltenen  klinischen 
Vorträge,  und  das  drohende  Gespenst  der  Staatsprüfungen. 
Die  erstere  bringt  Verwirrung,  und  erschwert  der  be- 
treffenden Behörde  die  Sorge  und  den  Schutz,  welche 
für  die  von  ihr  für  hinreichend  erachteten  medizinischen 
Seminare  nothwendig  sind;  das  zweite  treibt  zur  exa- 
minatorischen Einschulung,  die  mit  dem  Aufschwung 
des  akademischen  Lehrens  und  Lernens  unverträglich  ist. 

Endlich  darf  mit  vollem  Rechte  die  Wissenschaft 
Ansprüche  an  den  klinischen  Lehrer  machen,  und  zwar 

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den  wichtigsten  unter  allen  in  unsrer  Zeit:  das  Zer- 
splittern in  vereinzelte  Richtungen  zu  verhüten,  damit 
nicht  in  blosse  Virtuositäten  ausarte,  was,  wenn  auch 
in  geringerer  technischer  Ausbildung,  durch  Ineinander- 
greifen  und  Zusammenwirken  den  Fortschritt  der  Wis- 
senschaft fördern  kann. 

Die  folgenden  Blätter  enthalten  klinische  Ergeb- 
nisse, welche,  aus  den  über  die  Kranken  aufgenom- 
menen Protokollen  gewissenhaft  zusammengestellt,  Zeug- 
niss  geben  sollen  von  meinem  Bemühen,  das  physio- 
logische Princip  in  der  Beobachtung  aufrecht  zu  halten, 
und  einige  therapeutische  Wahrheiten  gemeinnützig  zu 
machen,  deren  wir  noch  weit  mehr  bedürfen. 

Berlin,  im  Januar  1846. 


Dr.  Romberg. 


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Inka  1 t. 


Seite. 

Krankheiten  des  Nervensystems. 

l.  Sensibilitätneurosen. 

1.  Hyperästhesieen 1 

2.  Anästhesieen 12 

II.  Motilitätneurosen. 

c 

1.  Hypercinesen IS 

2.  Acinesen 47 

m.  Logoneurosen 72 

IV.  Trophoneurosen 75 

Krankheiten  des  Blutes 82 

Krankheiten  des  Nahrungskanals  und  seiner  Anhänge 119 

Krankheiten  der  Geschlechts  - und  Harnorgane 141 

Krankheiten  der  Respirationsorgane 152 

Krankheiten  des  Circulationsapparats 172 

Krankheiten  der  Haut 178 


. 

. 


• 

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. 

Krankheiten  des  Nervensystems. 


I.  Sensibilitätneurosen. 

1.  HYPER  AEST  HESLEEN . 

"W"  ährend  schmerzhafte  Empfindungen  im  Gesichte  häufig 
auf  hysterischer  Basis  beobachtet  wurden,  boten  sich  nur  zwei 
Fälle  von  achter  Neuralgia  Quinti  dar,  in  welchen  die 
Symptome  der  Krankheit  entschieden  ausgesprochen  waren. 

Ein  72 jähriger  Mann  litt  bereits  seit  fünf  Jahren  an 
einer  Neuralgie  des  ersten  und  zweiten  Astes  des  rechten 
Quintus  in  i Irrer  ganzen  Ausdehnung.  Vorzüglich  heftig 
war  der  Schmerz  zwischen  dem  Nasenflügel  und  dem  innern 
Augenwinkel,  wo  schon  die  leiseste  Berührung  genügte,  den 
Schmerzanfall  und  durch  Reflexaction  Muskelzuckungen  her- 
vorzurufen. Bemerkungswerth  war  der  Umstand,  dass  sich  bei 
diesem  Kranken  ein  Zoster  auf  der  rechten  Seite  des  Rückens 
mit  augenblicklicher  Linderung  der  Neuralgie  entwickelte. 
Nach  dem  Abtrocknen  des  Exanthems  jedoch  kehrte  dieselbe 
in  ihrer  früheren  Heftigkeit  wieder,  und  widerstrebte  hart- 
näckig allen  angewandten  Mitteln. 

In  dem  zweiten  Falle,  bei  einer  48 jährigen  Wittwe, 
hatte  die  Krankheit  schon  zwölf  Jahre  bestanden.  Die  bis 
zu  jener  Zeit  stets  gesunde  Frau  hatte  sich  damals  beim 
Waschen  der  Zugluft  ausgesetzt,  wobei  sie  nach  ihrer  Aus- 
sage plötzlich  die  Empfindung  hatte,  als  ob  etwas  den  Rücken 
aufwärts  über  Nacken  und  Scheitel  fortlaufe,  und  sich  in  der 
regio  zygomatica  dextra  fcstsetze.  Hieraus  entwickelte  sich 
die  Neuralgie,  deren  Anfälle,  anfangs  seltener,  alftnäldig  an 
Häufigkeit  Zunahmen,  vorzugsweise  zur  Nachtzeit  eintraten, 
und  eine  entschiedene  Abhängigkeit  von  den  Veränderungen 

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des  Wetters  kund  gaben.  Auch  zeigte  sich  eine  bedeutende 
Steigerung  der  Schmerzen  nach  dem  Aufhören  der  Catame- 
nien.  In  diesem  Falle  beschränkte  sich  die  Neuralgie  nicht 
allein  auf  den  ersten  und  zweiten  Ast,  sondern  auch  der  sensible 
Nerv  der  Zunge  nahm  lebhaften  Antheil.  Im  Anfälle  schwoll 
die  leidende  Gesichtshälfte  stark  auf,  die  Arterien  derselben 
klopften  stürmisch,  und  es  machten  sich  Mitempfindungen 
im  Hinterhaupt  und  Nacken  bemerkbar.  Ueber  che  Art  des 
Schmerzes  befragt,  gab  die  Kranke  zur  Antwort,  es  käme  ihr 
vor,  als  sei  die  rechte  Seite  des  Gesichts  mit  Fäden  durch- 
zogen, an  denen  von  innen  her  langsam  und  nachhaltig  gezerrt 
würde.  Aeussere  Berührung,  Sprechen  und  Bettwärme  riefen 
den  Anfall  leicht  hervor,  weshalb  die  Unglückliche  vorzog,  die 
Nächte  in  fast  sitzender  Stell img  auf  dem  Sopha  zuzubringen. 
Alle  angewandten  Mittel,  sowohl  antiphlogistische,  als  reizende, 
Dampfbäder,  das  kohlensaure  Eisen,  der  endermatische  Ge- 
brauch des  Morphium,  das  Veratrin,  waren  ohne  Erfolg  ge- 
blieben, und  der  Elektromagnetismus  hatte  das  Uebel  noch 
verschlimmert.  In  diesem  Zustande  wurde  am  18.  Februar 
1845  das  von  Bell  empfohlene  Oleum  Crotonis  zu  ^ Tropfen 
Morgens  und  Abends  verordnet,  worauf  bereits  am  6.  März 
die  Kranke  nicht  allein  im  Allgemeinen  Linderung  spürte, 
sondern  auch  von  dem  unerträglichen  Schmerze  in  der  Zunge 
gänzlich  befreit  zu  sein  angab.  Allein  nach  einiger  Zeit  ist 
derselbe  wieder  in  seiner  früheren  Heftigkeit  zurückgekehrt. 

Ausserdem  kamen  noch  zwei  Fälle  von  intermittiren- 
d e m Gesicht sschmerz  zur  Behandlung.  In  beiden  hatte  der 
Schmerz  im  ersten  Aste  seinen  Sitz,  und  war  von  Röthung 
der  Bindehaut  und  reichlichem  Thränenausfluss  begleitet.  Der 
Typus  war  der  quotidiane,  die  Zeit  des  Anfalls  zwischen  9 
und  11  Uhr  Vormittags.  Der  eine  dieser  Kranken  war  be- 
reits seit  acht  Jahren  in  jedem  Herbst  von  dieser  Affektion 
befallen  worden.  Das  schwefelsaure  Chinin  bewirkte  bei  ihm 
schnelle  Heilung;  im  zweiten  Falle  kann  der  Erfolg  des 
Mittels  nicht  mit  Gewissheit  angegeben  werden,  da  der  Kranke 
während  der  Kur  wegblieb. 


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Unter  den  Spinalnerven  waren  die  N.  occipitales 
und  cervicales,  nächstdem  die  N.  intercostales , vor- 
zugsweise beim  weiblichen  Geschlecht,  am  häufigsten  der 
Sitz  neuralgischer  Affektionen.  Doch  sei  man  vorsichtig  in 
der  Annahme  einer  Neuralgia  o c c i p i t a 1 i s,  indem  dieselbe 
leicht  zur  Verwechslung  mit  andern  wichtigeren  Affektionen 
Anlass  ff  eben  kann.  Die  Schmerzanfälle  im  Verlaufe  der 

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Hinterhauptsnerven  mit  erschwerter  Beweglichkeit  des  nach 
der  leidenden  Seite  hinübergezogenen  Kopfes  können  nämlich 
auch  da  Vorkommen,  wo  ein  entzündlicher  Process  in  den 
knöchernen  imd  ligamentösen 'Hüllen  des  Rückenmarks  statt 
findet.  Als  Beispiel  diene  folgender  Fall: 

Eine  43jährige  kräftige  Frau  klagte  seit  einem  halben 
Jahre,  ohne  eine  Veranlassung  angeben  zu  können,  Aiber 
reissende  Schmerzen  hn  Hinterhaupte  und  Nacken,  die  in 
Anfällen,  besonders  zur  Nachtzeit,  auftraten  und  dann  sowohl 
aufwärts  bis  zum  Scheitel,  als  auch  abwärts  in  die  Schultern 
und  Oberarme  strahlten.  Schwindel  und  Flimmern  vor  den 
Augen  verliessen  die  Kranke  nur  selten.  So  weit  waren  die 
Symptome  denen  einer  Occipitalneuralgie  ganz  ähnlich.  Bei 
genauerer  Untersuchung  ergab  sich  jedoch,  dass  die  Beweg- 
lichkeit des  Kopfes  auch  ausser  der  Zeit  der  Schmerzanfälle 
erschwert  war,  und  Drehbewegungen  desselben  nur  unter 
lebhafter  Schmerzäusserung  ausgeführt  wurden.  Ein  starker 
Druck  auf  die  obersten  Halswirbel  rief  sogleich  den  Schmerz 
hervor.  Dazu  gesellte  sich  das  Merkmal,  dessen  schon  Rust 
als  eines  pathognomonischen  erwähnt,  dass  die  Kranke,  sobald 
sie  die  liegende  Stellung  mit  der  aufrechten  vertauschen  wollte, 
den  Kopf  nicht  ohne  Hülfe  aufzurichten  vermochte,  sondern 
diese  Bewegung  durch  die  unter  das  Hinterhaupt  gelegte 
Hand  unterstützten  musste.  Diese  Symptome  machten  die 
Annahme  einer  reinen  Neuralgie  in  diesem  Falle  unstatthaft, 
dagegen  die  einer  chronisch  entzündlichen  Reizung  in  den 
obersten  Halswirbeln,  zumal  in  ihrem  ligamentösen  Apparate, 
wahrscheinlich.  Demgemäss  ward  die  Kur  mit  der  Application 
blutiger  Schröpfköpfe  in  die  Hinterhauptsgegend  erüflhet,  dann 

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ein  Vesicator  in  den  Nacken  gelegt  und  lange  Zeit  offen 
erhalten.  Im  Umkreise  desselben  wurden  Einreibungen  mit 
grauer  Salbe  gemacht  und  innerlich  starke  Ableitungen  auf 
den  Darmkanal  mittelst  Calomel  und  Rad.  Jalappae  verordnet. 
Durch  diese  beharrlich  fortgesetzte  Behandlung  wurde  die 
Kranke  binnen  sechs  Wochen  vollständig  hergestellt.  Gegen 
die  reine  Neuralgia  occipitalis  verordnete  man  mit  dem  besten 
Erfolge  Einreibungen  der  Veratrinsalbe  (3ß  auf  Fett),  vier- 
mal täglich  eine  Haselnuss  gross  so  lange  verrieben,  bis  ein 
Gefühl  der  Erstarrung  und  des  Prickelns*  eintrat. 

Sehr  häufig  beruhen  die  Neuralgieen  der  Occipital-  und 
Cervica Inerven  auf  einer  hysterischen  Basis,  ein  Umstand, 
der  in  therapeutischer  Hinsicht  gewürdigt  werden  muss.  In 
einem  solchen  Falle,  bei  einer  36jährigen  Frau,  entwickelten 
sich  auf  der  Höhe  jedes  Schmerzanfalls  unter  der  Kopfhaut  am 
Hinterhaupt  und  Scheitel  kleine  Geschwülste,  die  bald  von  selbst 
wieder  verschwanden.  Der  längere  Zeit  fortgesetzte  Gebrauch 
von  Pillen  aus  Ferrum  carbonicum  und  Rheum  hatte  in  diesem 
wie  in  einem  ähnlichen  Falle  entschiedene  Besserung  zur  Folge. 

Dieselben  Mittel  erwiesen  sich  hülfreich  in  vielen  Fällen 
der  Neuralgia  inte r costa  1-is,  einer  Krankheit,  die  fast 
nur  beim  weiblichen  Geschlecht  vorkommt  und  sein  häufig 
unter  dem  heutigen  Collectivnamen  „Spinalirritation”  begriffen 
wird.  Ein  Druck  auf  die  Stelle,  wo  der  befallene  Intercostalnerv 
aus  dem  Wirb  elkanale  heraustritt,  erregt  lebhaften  Schmerz, 
der  sich  nach  dem  Gesetz  der  excentrischen  Erscheinung  in 
der  Ausbreitung  des  Nerven  auf  der  vordem  Brustfläche 
äussert.  Nur  einmal  winde  diese  Neuralgie  bei  einem 
(53jährigen)  Manne  beobachtet,  welcher  seit  sechs  Jahren 
nach  dem  Verschwinden  eines  nässenden  Flechtenausschlags 
an  derselben  litt.  Der  Schmerz  wurde  hier  durch  einen  Druck 
auf  den  siebenten  und  achten  Dorsalwirbel  geweckt,  imd  gab 
dann  die  Empfindung,  als  wäre  ein  eiserner  Reif  um  das 
Epigastrium  gespannt.  Aber  auch  in  diesem  Falle  gingen 
hysterische  Erscheinungen,  Gähnen,  Zittern  und  Kälte  der 
Extremitäten  dem  Schmerzanfalle  voraus. 


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Neuralgieen  dev  obern  Extremitäten  kamen  in 
der  Klinik  sein-  häufig*  vor,  sowold  als  Begleiter  von  organi- 
schen Krankheiten  des  Herzens  und  der  grossen  Gefässe,  als 
auch  in  Verbindung  mit  neuralgischen  Affektionen  andrer 
Ivörpertheile. 

Gegen  Ischias  zeigte  sich,  nach  vorgängiger  Ableitung 
auf  den  Darmkanal  mittelst  starker  Abführmittel,  der  äussere 
und  innere  Gebrauch  des  Oleum  Terebinthinae  aethereum  (zu 
15 — 25  Tropfen,  dreimal  täglich)  grÖsstentheils  von  entschie- 
dener Wirksamkeit. 

Nicht  selten  wurden  Fälle  beobachtet,  welche  eine  Gruppe 
von  Neuralgieen  in  verschiedenen  Körpertheilen  darboten. 
Die  Kranken , ohne  Ausnahme  dem  weiblichen  Geschleckte 
angehörig,  klagten  über  schmerzhafte  Empfindungen  reissender 
Art,  die  zwischen  den  Schultern,  längs  des  ßückgraths,  auf 
der  äussem  Fläche  der  Brust,  in  den  obern  und  untern  Ex- 
tremitäten ihren  Sitz  hatten,  ohne  sich  auf  eine  bestimmte 
Stelle  zu  fixiren.  Bei  einigen  nahm  der  Schmerz  auch  das 
Kniegelenk  ein:  die  grösste  Heftigkeit  erreichte  er  in  den 
Fusssohlen  und  Fersen.  Der  Einfluss  auf  die  Motilität  war 
in  einigen  Fällen  unverkennbar:  die  Kranken  litten  zuweilen 
an  einem  plötzlichen,  einer  elektrischen  Erschütterung  ähn- 
lichen Zucken  der  Glieder,  wobei  sie,  wemi  die  obern  Ex- 
tremitäten der  Sitz  des  Leidens  waren,  die  in  ihren  Händen 
befindlichen  Gegenstände  fallen  liessen.  Gleichzeitig  klagten 
sie  über  ein  allgemeines  Schwächegefühl,  und  nicht  selten 
über  die,  unter  dem  Namen  ardor  volaticus  bekannte  Em- 
pfindung einer  sich  plötzlich  über  das  Gesicht  verbreitenden 
Brühhitze  mit  hervorbrechendem  dünnen  Schweisse.  Fast 
alle  diese  Kranken  befanden  sich  in  den  climakterischen  Jahren, 
und  leiteten  ihre  Leiden  von  dem  Zeitpunkte  her,  wo  die 
Catamenien  zu  fliessen  aufgehört  hatten.  Auch  in  den  Fällen, 
wo  solche  Schmerzen  jüngere  Frauenzimmer  befielen,  liessen 
sich  Störungen  des  normalen  Verlaufs  der  Menstruation  nach- 
weisen. 

In  der  Behandlung  wurde,  wenn  es  die  Nothwcndigkeit 


ß 


erheischte,  zuerst  der  congestive  Antheil  durch  Blutentlee- 
rungen  und  ableitendc  Mittel  beseitigt,  dann  aber  das  Oleum 
Terebinthinae  aether.  sowohl  als  Einreibung,  wie  auch  inner- 
lich, und  in  V erbindung  mit  lauwarmen  Bädern  mit  entschie- 
denem Erfolge  angewandt.  In  einem  Falle  bei  einer  37jäh- 
rigen  Frau  zeigte  sich  auch  der  fortgesetzte  Gebrauch  des 
Kali  hydriodicum  sehr  wirksam : die  Schmerzen  bestanden 
liier  seit  sechs  Jahren,  seit  welcher  Zeit  auch  die  sonst  sehr 
reichlichen  Catamenien  sparsam  und  schmerzhaft  geworden 
waren.  Die  gute  Wirkung  des  Jods  in  diesem  Falle  mochte 
grösstentheils  von  seiner  die  Menses  befördernden  Eigenschaft 
abhängig  sein  : denn  die  Dysmenorrhoe  verschwand,  und  die 
Quantität  des  ausfliessenden  Blutes  nahm  wieder  merklich  zu. 

Hy perästhesieen  der  Sinnesnerven,  insbeson- 
dre des  N.  opticus,  kamen  zwar  nicht  selten,  meistens  jedoch 
in  Begleitung  organischer  Leiden  des  Centralapparats,  oder 
als  Vorboten  epileptischer  Anfälle  vor.  Nur  in  einem  Falle 
trat  die  optische  Hyperästhesie  als  Hauptleiden  auf,  und 
wiu’de  durch  eine  entsprechende  Behandlung  auch  glücklich 
beseitigt.  Die  Krankheit  hatte  einen  24jährigen,  bisher  ge- 
sunden Mann  befallen,  der  sich  keiner  Excesse  bewusst, 
jedoch  durch  eine  unglückliche  Liebe  psychisch  sein  ange- 
griffen war.  Als  er  vor  sechs  Wochen  einen  Freund  auf 
dessen  dunkles  Zimmer  begleitete,  erfasste  er  spielend  einen 
auf  dem  Tische  liegenden  Gegenstand,  in  welchem  er,  beim 
Einfallen  eines  blendenden  Lichtstrahls  durch  die  plötzlich 
geöffnete  Thür,  zu  seinem  Schrecken  einen  Menschenschädel 
erkannte.  Von  diesem  Augenblicke  an  litt  er  an  Phantasmen 
vor  dem  rechten  Auge : ein  formloser  leuchtender  Gegenstand 
schien  sich  seitlich  ilun  zu  nähern,  und  nahm  aümählig  die 
Gestalt  einer  in  allen  Farben  strahlenden  Scheibe  an,  welche 
mit  einer  schwindelnden  Schnelligkeit  vor  dem  rechten  Auge 
licrumge schwungen  wurde.  Diese  Erscheinung  beunruhigte 
den  Kranken  in  so  hohem  Grade,  dass  er,  vorzugsweise  zur 
Nachtzeit,  von  der  heftigsten  Angst  ergriffen,  Mutter  und 
Schwester  Schutz  suchend  umklammerte,  und  sich  endlich 


in  Verzweiflung  weinend  aufs  Bett  warf.  Das  Bewusstsein 
blieb  zwar  in  diesen  Anfällen  vollkommen  imgestört,  man 
erkennt  aber  hieraus  den  mächtigen  Eindruck,  welchen  die 
optische  Hyperästhesie  auf  die  psychische  Sphäre  des  von 
ihr  befallenen  Kranken  macht.  Antagonistische  Erregung  der 
Magennerven  durch  Emetica,  denen  man  den  Gebrauch  der 
Abführmittel  folgen  Hess,  brachte  in  zehn  Tagen  die  Heilung 
zu  Stande.  *) 

*)  Ein  diesem  sich  anreihender  Fall,  wo  durch  plötzliche  Erregung 
der  Ketina  eine  centrale  optische  Hyperästhesie  entwickelt  wurde,  welche 
eine  Monomania  suicida  zur  Folge  hatte,  bot  sich  mir  vor  drei  und 
zwanzig  Jahren  zur  Beobachtung  dar: 

'Wilhelmine  F . . .,  die  27  jährige  Frau  eines  Handwerkers,  von  wohl- 
genährtem, kräftigem  Ansehen,  erfreute  sich  stets  einer  ungestörten  Ge- 
sundheit. Mit  einem  biedern  Charakter  verband  sie  ein  Gefühl  von 
Sittlichkeit,  wie  man  es  nur  selten  im  niedern  Stande  antrifft,  und  grosse 
Liehe  zu  ihren  Angehörigen,  besonders  zu  ihrer  Mutter,  über  deren  Tod, 
welcher  drei  Jahre  vor  dem  Ausbruche  ihrer  Krankheit  erfolgt  war,  sie 
sich  nicht  trösten  konnte.  Ihr  steter  Gedanke,  sowohl  im  täglichen  V er- 
kehr  als  bei  Vergnügungen,  war  die  Verstorbene.  So  nahte  sie  ihrer 
vierten  Entbindung,  welche  wie  die  früheren  glücklich  von  statten  ging. 
Am  sechsten  Tage  nach  derselben,  als  die  Nacht  hereinbrach,  stand  sie 
aus  dem  Bette  auf,  um  ihr  Licht  an  einem  hinter  dem  Bette  stehenden 
Lämpchen  anzuzünden.  Indem  sie  sich  demselben  nähert,  erblickt  sic 
plötzlich  an  der  dunkeln  Wand  eine  von  dem  Schimmer  der  halbver- 
deckten Lampe  erleuchtete  Stelle,  und  glaubt  darin  die  Gestalt  ihrer 
Mutter  zu  erkennen,  wie  sie  mit  aufgehobener  Hand  sie  zu  sich  winkt. 
Angstvoll  hebt  sie  zurück,  und  kann  von  diesem  Augenblicke  an  sich 
nicht  von  dem  Wahne  befreien,  dass  sie  sterben  müsse  und  auch  wolle, 
da  ihr  die  Mutter  selbst  die  Trennung  von  dem  Leben  angedeutet  habe. 
Nachdem  der  Locliialfluss,  welcher  in  den  früheren  Wochenbetten  stets 
anderthalb  Monate  geflossen,  schon  am  siebenten  Tage  aufgehört  hatte, 
während  die  Milchabsonderung  ungestört  fortdauerte,  stellte  sich  eine 
entzündliche  Affektion  des  Bauchfells  ein,  die  durch  geeignete  Mittel  be- 
seitigt wurde.  Allein  der  Wahn  fasste  von  Tag  zu  Tag  festeren  Fuss. 
Einige  Wochen  später  traten  gegen  Abend  Fieberbewegungen  ein,  mit 
erhöhter  Gesichtsrötlie , Ohrensausen , F unkensehen  und  Erscheinungen 
farbiger  Kreise  vor  den  Augen,  welche  die  Kranke  sehr  beunruhigten 
und  in  ihrem  Geisterglauben  noch  mehr  bestärkten.  Eine  massige  anti- 
phlogistische Behandlung,  in  Verbindung  mit  kalten  Uebergiessungen  im 
lauen  Bade,  hatte  indessen  einen  erwünschten  Erfolg.  Man  sah  der 
Genesung  entgegen,  als  sie  in  der  zehnten  Woche  nach  Eintritt  der 
Krankheit  eines  Morgens,  während  die  Verwandte,  die  stets  um  sic  war, 
sich  aus  dem  Zimmer  entfernt  hatte,  den  längst  gehegten  Vorsatz  schnell 


8 


Neuralgieen  im  Gebiete  des  N.  sympathicus  ga- 
ben sich  am  häufigsten  im  Plexus  mesentericus  kund,  boten 
jedoch  wenig  Erhebliches  dar.  Nächst  dem  rheumatischen 
Anlass  und  der  Suppression  der  Catamenien  war  Bleiin  - 
toxication  die  häufigste  Ursache.  Der  Unterleib  zeigte  in 
einigen  dieser  Fälle  weder  in  seiner  Form  noch  Spannung 
eine  Abweichung  vom  Nonnalzustande.  Brustbeklemmung, 
neuralgische  Schmerzen  in  den  obem  Extremitäten  (einmal 
auch  eine  unerträgliche  stechende  Empfindung  in  den  Fuss- 
sohlen),  waren  gewöhnliche  Begleiter.  Der  blaue  Bing  um 
das  Zahnfleisch  wurde  nie  vermisst,  nicht  selten  auch  der  eigen- 
thumkehe,  von  Stoll  erwähnte,  maniakalische  Ausdruck  des 
Auges  beobachtet.  Die  Behandlung  bestand  in  Darreichung 
des  Ol.  Croton.  (zu  einem  Tropfen  zweistündlich)  bis  Stuhlgang 
erfolgte,  und  dem  abendlichen  Gebrauche  eines  Opiats. 

DieNeuralgia  car di a ca  (Angina  pectoris)  wurde  nur 
in  einem  Falle,  bei  einem  4,0 jährigen  Schneider,  beobachtet, 
welcher  alle  Erscheinungen  der  Krankheit  in  einem  ausge- 
zeichneten Grade  darbot.  Seit  dem  October  1843,  bis  zu 
welcher  Zeit  er  eine  ungestörte  Gesundheit  gehabt,  litt  er  an 
Anfällen  eines  heftigen  Schmerzes  in  der  Herzgegend,  der, 
mit  einem  überwältigenden  Gefühl  von  Angst  und  Druck 
verbmiden,  eine  olmmachtähnliche  Empfindung  erzeugte,  und 
dem  Kranken  fast  das  Bewusstsein  raubte.  Der  Schmerz 
verbreitete  sich  nach  dem  Nacken,  den  Schultern  und  strahlte 
auch  in  die  obern  Extremitäten  bis  zu  den  Fingerspitzen 

ausführte.  Man  fand  sie  mit  ihrem  seidnen  Halstuch  an  einem  Fenster- 
haken aufgeknüpft.  Rettungsversuche  blieben  erfolglos.  Bei  der  Lei- 
chenöffnung fand  ich  die  Arachnoidea  stellenweise  von  trübem  milchigem 
Ansehen,  und  in  der  Gegend  des  Scheitels  mit  kleinen  dünnen  albumi- 
nösen  Exsudationen  bedeckt.  Die  Pia  mater  liess  sich  sehr  leicht  von 
den  Hirnwindungen  ablösen.  Die  Consistenz  des  Gehirns  war  überaus 
derb  und  elastisch,  so  dass  sich  die  mit  der  Fingerspitze  hineingedrückten 
Gruben  sogleich  von  selbst  wieder  ausglichen.  Die  Seitenventrikel,  deren 
Epithelium  injicirt  war,  enthielten  eine  unbedeutende  Quantität  seröser 
Flüssigkeit.  In  der  Brust-  und  Bauchhöhle  zeigte  sich  keine  krankhafte 
Veränderung  der  Organe.  Die  Corpora  cavernosa  der  Clitoris  strotzten, 
wie  gewöhnlich  bei  erhängten  Frauenzimmern,  von  venösem  Blute.  R. 


9 


hinab.  Hatte  ein  solcher  Sohmerzanfall,  der  sein’  leicht  durch 
Anstrengungen  und  Bewegungen,  vorzugsweise  in  der  Kälte, 
geweckt  wurde,  fünf  bis  zehn  Minuten  angehalten,  so  ver- 
schwand er  bei  ruhigem  Verhalten  allmählig  von  selbst. 
Die  sein  häufig  beobachtete  Abhängigkeit  der  Angina  pec- 
toris von  Krankheiten  des  Herzens  und  der  grossen  Ge- 
fässe  veranlasste  eine  sorgfältige  Untersuchung  dieser  Or- 
gane. Zwar  ergab  die  Percussion  keine  Volumen  Veränderung 
des  Herzens,  allein  der  Impuls  war  bedeutend  verstärkt  und 
ein  mit  dem  zweiten  Herzton  isochronisches  Geräusch  in 
der  Gegend  der  dritten  Kippe  am  Rande  des  Brustbeins 
deutlich  wahrzunehmen,  welches  einer  Veränderung  in  den 
Aortaklappen  seinen  Ursprung  verdankte.  Wurde  nun  schon 
diuch  diese  Complication  die  Prognose  getrübt,  so  musste 
dies  um  so  mehr  der  Fall  sein,  als  die  Behandlung,  bei  dem 
gänzlichen  Mangel  jeder  Causalindication,  keine  feste  Grund- 
lage haben  konnte.  Aus  der  Anamnese  ergab  sich  durchaus 
kein  Moment,  welches  über  die  Enstelnmg  der  Krankheit 
hätte  Aufschluss  geben  können : es  leugnete  der  Kranke  jede 
Spm  von  Arthritis , deren  Beziehung  sowohl  zur  Angina 
pectoris,  wie  zu  den  Affektionen  der  Klappen  bekannt  ist. 
Unter  diesen  Umständen  schritt  man  am  8.  Mai  zum  Ge- 
brauche des  Argentum  nitricum,  eines  Mittels,  welches  in 
solchen  Fällen,  wenigstens  zur  palliativen  Linderung,  sein*  zu 
empfehlen  ist.  Es  wurde  anfangs  zu  ’ gr.  zweimal  täglich 
in  Verbindung  mit  Extr.  Rhei  comp,  gegeben.  Am  25.  Mai, 
nachdem  die  Dosis  allmählig  auf  3 gr.  erhöht  worden,  hatten 
die  Schmerzanfälle  sowohl  an  Frequenz  wie  an  Intensität 
nachgelassen,  obwohl  die  physikalischen  Symptome  imverän- 
dert fortbestanden.  Bei  der  wiederholten  Vorstellung  des 
Kranken  am  5.  November  zeigte  sich  die  Besserung  noch 
mehr  vorgeschritten,  die  Anfälle  traten  nur  noch  selten  ein. 
Im  Januar  1845  erfolgte  plötzlich  ohne  alle  Vorboten  der  Tod 
des  Kranken.  Die  Sektion  wurde  verweigert. 

Beiläufig  sei  bemerkt,  dass  das  salpetersaure  Silber  auch  in 
einer  andern  neuralgischen  Affektion,  der  II  ein  i cran  i a,  welche 


10 


die  Plage  so  vieler,  besonders  weiblicher  Kranken  ist,  sich 
1 hilfreich  erwies.  Die  Kur  wurde  gewöhnlich  mit  dem  aus  einer 
Verbindung  von  Herb.  Trifol.  fibrin.  ($j)  mit  Hb.  Menthae 
piper.  (3 ß)  bestehenden  Tissor’schen  Thee  begonnen,  dessen 
anhaltender  Gebrauch  in  manchen  Fällen  schon  genügte,  die 
Krankheit  zu  lindern.  Bei  grösserer  Hartnäckigkeit  aber 
hatte  die  Anwendung  des  Argentum  nitricum,  zu  \ gr.  pro 
dos.  zweimal  täglich,  in  Verbindung  mit  Extr.  Aloes  (gr.j), 
guten  Erfolg. 

Als  Begleiter  wichtiger  Leiden  des  Centralorgans  winde 
der  Hirn  s c hm  er  z häufig  beobachtet.  Bei  organischen 
Hirnkrankheiten  ward  er  nur  selten  vermisst,  bestand  sogar 
zuweilen  als  einziges  Symptom,  z.  B.  im  Beginne  der  Tu- 
berculosis cerebri,  und  leitete  als  solches  die  Aufmerksamkeit 
auf' das  Gehirn.  In  dieser  Beziehung  verdient  der  Fall  eines 
9 jährigen  Knaben  Erwähnung,  welcher  sich  vor  fünf  Jahren 
durch  eben  Fall  auf  den  Kopf  ein  Cephalaematom  zugezo- 
gen hatte.  Durch  den  Schnitt  geöffnet  war  dies  glücklich 
geheilt;  allem  seit  dieser  Zeit  hatte  sich  ein  heftiger  Kopf- 
schmerz m der  Hinterhauptsgegend  eingefunden,  welcher  zur 
Zeit  der  Vorstellung  des  Kindes  in  der  Klinik,  am  16.  De- 
ccrnber  18-42,  zu  einem  so  hohen  Grade  gestiegen  war,  dass 
der  kleine  Kranke  den  Kopf  nicht  mehr  aufrecht  tragen  konnte, 
sondern  fortwährend  anlehnte.  Obwohl  alle  andern  Symptome, 
welche  ein  Leiden  des  Centralorgans  zu  bezeichnen  pflegen, 
hier  fehlten,  so  musste  doch,  in  Betracht  dieser  hartnäckigen 
Cephalalgie,  der  injicirten  Conjunctiva  und  der  gleichzeitig 
vorhandenen  Stuhl  Verstopfung,  eine  chronisch  entzündliche 
Affektion  in  den  Hirnhäuten  angenommen  werden,  eine  Dia- 
gnose, welche  durch  den  Erfolg  der  angewandten  Heilmethode 
bestätigt  wurde.  Wiederholte  örtliche  Blutentleerungen  am 
Hintei’haupte  und  Nacken,  Ableitungen  auf  den  Darmkanal, 
Einreibungen  der  Pockensalbe  in  die  Haut  des  Nackens  hat- 
ten bis  zum  6.  März  1843  vollständige  Heilung  herbeigeführt.  • 

Ein  andrer  Fall,  in  welchem  indess  der  KopfschmCTz 
noch  mit  andern  wichtigen  Symptomen  verbunden  war,  ist 


11 


durch  seinen  Ausgang  merkwürdig  genug,  um  liier  eine  Stelle 
zu  finden.  Ein  37jäliriger  kräftiger  Maschinenbauer,  der 
nach  seiner  Angabe  vor  einem  Jahre  eine  Gehirnentzündung 
überstanden  hatte,  litt  seit  sechs  Jahren  an  Eingenommenheit 
und  heftigen  Schmerzen  des  Kopfes,  die  beim  Bücken  und 
bei  exspiratorischen  Bewegungen , Niesen , Drängen  zum 
Stuhlo-ans  u.  s.  w.,  bedeutend  Zunahmen.  Eine  taumelnde 
Empfindung  verliess  den  Kranken  selten,  und  sogar  in  sitzen- 
der Stellung  kam  es  ihm  vor,  als  würde  sein  Körper  von 
einer  Seite  zur  andern  geschaukelt.  Die  rechte  Pupille  war 
im  Yerhältniss  zur  linken  verengt;  der  Kranke  sah  die  Ge- 
genstände doppelt,  imd  wurde  von  einem  anhaltenden  Ohren- 
sausen geplagt.  Die  Sprache  war  erschwert,  die  psychischen 
Fähigkeiten,  besonders  das  Gedächtniss,  geschwächt.  Alle 
diese  Symptome,  verbunden  mit  Stuhlverstopfung  und  Brech- 
neigung, mussten  den  Verdacht  auf  ein  wichtiges  Leiden  des 
Gehirns  hinlenken.  Dieser  Annahme  gemäss  wurde  am 
14.  Juli  1843,  dem  Tage  der  Vorstellung  des  Kranken,  die 
Km-  mit  .örtlichen  Blutentlcenmgen  am  Hinterhaupte  und 
starken  Ableitungen  auf  den  Darmkanal  eingeleitet,  und  diese 
Mittel  von  Zeit  zu  Zeit  wiederholt.  Allein  weder  diese  Me- 
thode, noch  das  am  6.  November  in  den  Nacken  gelegte 
Haarseil,  hatten  den  geringsten  Erfolg : Heimeln  nahmen  alle 
Erscheinungen  in  so  hohem  Grade  zu,  dass  sich  der  Kranke 
zu  Anfang  des  Jahres  1844  in  das  Charitekrankenhaus  auf- 
nehmen Hess.  Hier  ward  er  plötzlich  von  einem  mit  dro- 
henden Gehirnsymptomen  auftretenden  Erysipelas  fäciei  be- 
fallen, wobei  er  fünf  Tage  lang  in  einem  soporösen  Zustande 
dalag.  Allein  beim  Erwachen  aus  demselben  fand  er  sich 
zu  seinem  freudigen  Erstaunen  von  allen  seinen  frühem 
Leiden  befreit.  Als  er  sich  im  Mai  wieder  in  der  Klinik 
vorstellte , war  von  den  obengenannten  beunruhigenden 
Symptomen  fast  keine  Spur  mehr  vorhanden,  und  auch  das 
Gedächtniss  vollkommen  wiederhergestellt. 

Die  kritische  Erscheinung  des  Erysipelas  liefert  einen 
neuen  Beweis,  mit  welcher  Macht  und  Schnelligkeit  die  Na- 


12 


tur  Hülfe  schaffen  kann,  wo  die  kräftigsten,  lange  Zeit  be- 
harrlich fortgesetzten  Mittel  unwirksam  geblieben  sind. 

2.  Anaesthesieen. 

Isolirte  Anästhesie  des  N.  trigeminus  wurde  nur  zwei- 
mal beobachtet. 

Der  erste  dieser  Kranken,  ein  42jähriger  Mann,  Avel- 
cher  vor  zwölf  Jahren  an  einem  syphilitischen  Geschwür  der 
Eichel  mit  begleitender  Anschwellung  der  Inguinaldrüsen 
gelitten  hatte,  war  Wächter  in  einem  grossen  Kaufmannshause, 
und  als  solcher  genötliigt,  seit  zwei  Monaten  die  Nächte  in 
einem  Hausflur  zuzubringen,  wo  die  linke  Seite  des  Gesichts 
einem,  wenn  auch  nur  unbedeutenden,  doch  anhaltenden  Zug- 
winde ausgesetzt  war.  In  Folge  davon  empfand  er  bald  reis- 
sende Schmerzen  in  der  linken  Gesichtshälfle , zu  welchen 
sich  Verlust  der  Empfindung  gesellte,  und  den  Kranken  ver- 
anlasste,  in  der  Klinik  Hülfe  zu  suchen.  Bei  der  Untersu- 
chung des  Gesichts  am  6.  Mai  1844  zeigte  sich  der  ganze 
zweite  Ast  des  linken  N.  trigeminus  von  Anästhesie  befallen: 
die  Wange,  die  finke  Nasenhälfte , das  Innere  derselben,  so 
wie  auch  die  Schleimhaut  des  Mundes,  das  Zahnfleisch,  wa- 
ren auf  dieser  Seite  vollkommen  empfindungslos : tiefe  Nadel- 
stiche in  diese  Theile  wurden  durchaus  nicht  gefühlt,  wäh- 
rend bei  nur  oberflächlichem  Stechen  der  Haut,  die  unter  dem 
Einflüsse  des  ersten  und  dritten  Astes  (Ramus  temporal,  su- 
perfic.)  steht,  der  Kranke  sogleich  durch  eine  zuckende  Be- 
wegung die  fortbestehende  Sensibilität  zu  erkennen  gab.  Die 
Bewegungen  der  Gesichtsmuskeln  linkerseits  waren  zwar 
ausführbar,  jedoch  in  gewissem  Grade  beschränkt,  Avie  dies 
beim  Versuch,  eine  schnüffelnde  BeAA'egung  der  Nasenflügel 
zu  machen,  deutlich  hervortrat.  Dabei  klagte  der  Kranke 
über  zeitweise  eintretende  stechende  Schmerzen  in  der  ge- 
fühllosen Gesichtshälfle,  das  Auge  thränte  oft,  die  Nase  Avar 
trocken  und  so  AArie  das  Zahnfleisch  der  leidenden  Seite  sein 
zu  Blutungen  geneigt.  Auch  gab  der  Kranke  ausdrücklich 
an,  dass  die  von  Anästhesie  befallene  Wange  bei  der  Ein- 


13 


Wirkung  der  Kälte  sogleich  blauroth  würde,  womit  die  nor- 
male Färbung  der  gesunden  Wange  auffallend  contrastire. 
Das  Seh-  und  Geruchsvermögen  waren  imgestört,  denn  der 
Umstand,  dass  der  Kranke  den  in  die  linke  Nasenhöhle  ge- 
stopften Schnupftabak  nicht  gewahr  wurde,  ist  nur  als  eine 
Folge  der  Unempfindlichkeit  der  sensibeln  Schleimhautner- 
ven, wobei  der  Olfactorius  selbst  unbetheiligt  war,  zu  deuten. 
Bemerkenswerth  war  noch  eine  Anschwellung  des  linken 
Nasenbeins,  welche  seit  dem  Eintritte  der  reissenden  Schmer- 
zen m der  linken  Gesichtshälfte  entstanden  sein  soll.  In  die- 
sem Falle  war  der  zweite  Ast  des  N.  trigeminus  offenbar  der 
allein  leidende  Nerv.  Die  geringe  Beschränkung  der  mi- 
mischen Gesichtsbewegungen  durfte  nicht  zur  Annahme  einer 
gleichzeitigen  paralytischen  Affektion  des  N.  facialis  verlei- 
ten, da  der  Kranke  auf  Geheiss  alle  diese  Muskeln  in  Thä- 
tigkeit  setzen  konnte.  Auch  stimmen  damit  die  an  Thieren 
gemachten  Beobachtungen  überein,  welche  nach  Durchschnei- 
dung des  Quintus  dieselbe  Beschränkung  der  mimischen  Be- 
wegungen in  der  leidenden  Gesichtshälfte  darbieten.  Nächst 
der  Synergie  zwischen  den  sensibehi  und  motorischen  Nerven 
stellt  sich  der  den  Anästhesieen  überhaupt  zukommende  Ein- 
fluss auf  die  trophischen  Funktionen  heraus.  Die  leidende 
Wange  zeigte  sich  gegen  die  Einwirkung  der  Kälte  ungleich 
empfindlicher  als  die  gesunde ; die  Nasenschleimhaut  und  das 
Zahnfleisch  neigten  zu  Blutungen.  Die  in  der  gefühllosen 
Wange  und  Oberlippe  von  Zeit  zu  Zeit  eintretenden  heftigen 
Schmerzen  (Anaesthesia  dolorosa)  finden  in  dem  Gesetze  der 
excentrischen  Erscheinung  ihre  Erklärung. 

Die  anamnestische  Untersuchung  macht  in  diesem  Falle 
die  Annahme  einer  rheumatischen  Basis  der  Krankheit  sein- 
wahrscheinlich. Beachtenswerth  ist  zwar  die  vor  zwölf  Jah- 
ren stattgehabte  syphilitische  Affektion,  für  deren  Wirkung 
sich  noch  die  Anschwellung  des  linken  Nasenbeins  anführen 
liess ; allein  abgesehen  davon,  dass  seit  jener  Zeit  nicht  die 
geringste  Spur  einer  schlummernden  syphilitischen  Dyscrasie 
bemerkbar  war,  konnte  die  genannte  Anschwellung  auch  ei- 


14 


nem  rheumatischen  Anlasse  zugeschrieben  werden,  und  zwar 
mit  um  so  grösserem  Rechte,  als  sie  gleichzeitig  mit  den 
reissenden  Gesichtsschmerzen  vom  Kranken  bemerkt  wurde. 
In  dieser  Voraussetzung  wurde  dem  Kranken  das  Kali  hydrio- 
dicum  zu  5 Gr.  vier  Mal  täglich  in  Solution  verordnet,  und 
gleichzeitig  die  Jodsalbe  in  die  unempfindlichen  Theile  einge- 
rieben.  Drei  Wochen  nach  dem  Beginne  dieser  Kur  waren 
bereits  die  stechenden  Schmerzen  in  der  von  Anästhesie  be- 
fallenen Gesichtshälfte  verschwunden ; in  der  Haut  der  Nase 
und  Wange  gab  sich  wieder  Sensibilität  kund,  und  nur  noch 
die  Oberlippe  zeigte  Spuren  der  früheren  Anästhesie.  Auch 
diese  verschwanden  nach  einiger  Zeit  bei  fortgesetzter  Be- 
handlung, so  dass  der  Kranke  im  Winter  1844  als  vollstän- 
dig geheilt  in  der  Klinik  vorgestellt  werden  konnte. 

Der  zweite  Fall  betrifft  eine  56jährige,  bis  vor  zwölf 
Jahren  stets  gesunde  Frau.  Zu  dieser  Zeit  bekam  sie  plötz- 
lich in  der  linken  Seite  des  Kopfes  heftige,  mit  starkem 
Schwindel  verbundene  Schmerzen,  wobei  das  Gesicht  nach 
ihrer  Angabe  anschwoll  und  verzogen  wurde,  doch  vermag 
sie  nicht  die  Richtung,  nach  welcher  diese  Verzerrung  statt- 
fand, näher  zu  bezeichnen.  Eine  energische  antiphlogistische 
Behandlung  führte  zwar  zu  jener  Zeit  Heilung  herbei , doch 
kehrte  der  Kopfschmerz  auf  derselben  Seite  von  Zeit  zu  Zeit 
wieder,  und  zu  ihm  gesellte  sich  ein  Gefühl  von  Erstarrung 
in  der  linken  Gesichtshälfte,  welches  allmählig  in  vollkom- 
mene Unempfindlichkeit  überging.  Bei  der  Untersuchung 
der  Kranken  am  29.  November  1844  zeigte  sich  das  ganze 
Gebiet  des  linken  Quintus  von  der  Anästhesie  befallen:  die 
Stirn  bis  zum  Scheitel  hinauf,  die  Scldäfengegend,  die  vor- 
dere Fläche  des  äusseren  Ohrs,  die  Wange,  die  äussere 
Fläche  der  Nase,  die  Ober-  und  Unterlippe  waren  völlig 
empfindungslos.  Nur  am  untern  Rande  des  Unterkiefers  gab 
die  Kranke  beim  Einstechen  der  Nadel  Schmerzempfin- 
dung zu  erkennen , was  sich  aber  leicht  daraus  erklärt,  dass 
die  genannte  Hautstelle  einen  Theil  ihrer  Sensibilität  den 
Cervicalnerven  verdankt.  Das  Zahnfleisch,  die  Wangenschleim- 


haut,  auch  die  linke  Zungenhälfte  haben  ihr  Gefühlsvermö- 
gen  vollständig  eingebüsst,  und  die  Bindehaut  des  linken  Au- 
ges  kann  mit  der  Nadel  durchstochen  werden,  ohne  eine  Spur 
einer  blinzelnden  Bewegung  des  Augenliedes  hervorzurufen. 
Legt  man  die  Hand  flach  auf  die  Temporalmuskeln  und  die 
Masseteren  und  lässt  Kaubewegungen  vornehmen , so  kann 
man  sich  überzeugen,  dass  die  genannten  Muskeln  auf  der 
linken  Seite  durchaus  nicht  agiren,  während  die  rechten  sich 
kräftig  zusammenziehen.  Die  Kranke  selbst  gesteht  ihr  Un- 
vermögen auf  der  linken  Seite  zu  kauen,  woraus  hervorgeht, 
dass  auch  die  motorische  Portion  des  Nerven  ihre  Energie 
verloren  hat.  Die  Bewegungen  der  linken  Gesichtsmuskehl 
sind  zwar  auch  in  diesem  Falle  erschwert,  doch  insgesammt 
ausführbar,  so  dass  ein  Verlust  der  Leitung  im  Facialis  nicht 
vorhanden  ist.  Die  von  Anästhesie  befallene  linke  Wange 
ist  dunkelroth  und  contrastirt  stark  mit  der  blassen  Farbe 
der  gesunden.  In  den  Energieen  der  Sinnesnerven  beider 
Seiten  will  die  Kranke  keinen  erheblichen  Unterschied  wahr- 
nehmen: nur  der  Geruch  imd  Geschmack  sind  nach  ihrer 
Aussage  auf  der  linken  Seite  etwas  stumpfer,  als  auf  der 
rechten.  Dieser  Umstand  findet  indess  seine  Erklärung  da- 
rin,  dass  in  sein-  Gelen  Fällen  die  vereinte  Thätigkeit  des 
Sinnes-  und  der  sensibeln  Nerven  erfordert  zu  werden  scheint» 
um  einen  bestimmten  Geschmack  oder  Geruch  recht  scharf 
hervortreten  zu  lassen. 

Die  Ausbreitung  der  Anästhesie  über  sämmtliche  Aggre- 
gate des  Quintus  musste  schon  den  Verdacht  von  einem  nur 
die  Gesichtsramificationen  betreffenden  Anlasse  ablenken.  Eben- 
sowenig liess  sich  an  eine  im  Centralorgane  verborgene  Ur- 
sache denken,  deren  Folgen  sich  lediglich  auf  den  Quintus  be- 
schränkt hätten.  Es  blieben  somit  drei  Stellen  übrig,  an  denen 
der  Anlass  der  Krankheit  seinen  Sitz  haben  konnte:  1)  an  der 
Basis  cerebri  im  Verlaufe  des  Nerven  von  seiner  Insertions- 
stätte im  Gehirne  bis  zum  Ganglion  Gassen.  Allein  es  wür- 
den in  diesem  Falle  einer  oder  mehrere  der  nahe  gelegenen 
.Nerven,  der  Abducens,  Oculomotorius  u.  s.  w.,  kaum  einer 


16 


paralysirenden  Wirkung  entgangen  sein,  wenn  ein  comprimi- 
render  Anlass,  eine  Geschwulst,  vorhanden  wäre.  2)  Im 
Ganglion  Gasseri.  Gegen  diese  Annahme  sprach  der  Um- 
stand, dass  in  den  Fällen,  wo  das  Ganghon  und  der  Quin- 
tus  in  seiner  Nähe  als  Sitz  der  Krankheit  constatirt  wurde, 
gleichzeitig  tropliische  Störungen  des  Auges , Entzündung, 
Trübung  der  Hornhaut,  Ulceration  u.  s.  w.,  beobachtet  wur- 
den, während  in  diesem  Falle  das  Auge  vollkommen  unver- 
sehrt erscheint.  3)  Im  Keilbeine.  Man  kann  hier  mit  der 
grössten  Sicherheit  Vorhersagen,  dass  eine  Krankheit  des 
Keilbeins  Ursache  der  Anästhesie  ist,  sei  es  nun  eine  Ge- 
schwulst, die  sich  an  dieser  Stelle  entwickelt  hat,  oder  irgend 
ein  anderer  Anlass,  wodurch  die  drei  Aeste  des  Nerven  bei 
ihrem  Durchgänge  durch  die  drei  Oeffnungen  des  Keilbeins 
beeinträchtigt  und  ihres  L ei tungs Vermögens  beraubt  werden. 

Bei  der  Hoffnungslosigkeit  des  langbestehenden  Falles 
und  der  Unwirksamkeit  aller  bereits  angewendeten  Heilmit- 
tel wurde  gar  kein  therapeutisches  Verfahren  eingeleitet. 


Es  ist  hier  der  Ort,  von  einer  Affektion  zu  sprechen, 
welche  zum  Bereich  der  Anästhesieen  gehört,  und  in  der  Klinik 
öfters  beobachtet  wurde.  Die  Kranken,  sämmtlich  weiblichen 
Geschlechts  und  Wäscherinnen,  klagten  über  ein  lästiges  Ge- 
fühl von  Erstarrung  in  beiden  Händen  und  Vorderarmen,  wo- 
mit sich  nicht  selten  eine  kribbelnde,  dem  Einschlafen  der  Glieder 
ähnliche  Empfindung  in  den  Fingerspitzen  verband.  Dabei  war 
die  Motilität  durchaus  nicht,  die  Sensibilität  aber  wesentlich 
beeinträchtigt,  indem,  so  weit  das  Gefiilil  der  Erstarrung 
sich  erstreckte,  Nadelstiche  nur  sehr  undeutlich,  zuweilen  gar 
nicht  empfunden  wurden.  In  zwei  Fällen,  wo  der  Nervus 
radialis  vorzugsweise  afficirt  war,  zeigten  sich  heftige  Schmer- 
zen als  Begleiter,  welche  von  der  Badialseitc  längs  des  Vor- 
derarms bis  in  den  Daumen,  Zeige-  und  Mittelfinger  sich 
verbreiteten.  Diese  Anästhesie  der  Hautnerven  des  Vorder- 
arms und  der  Hand  verdankt  ohne  Zweifel  der  Beschäftigung 


17 


der  Kranken  ihren  Ursprung:  sie  ist  eine  Folge  der  Ein- 
wirkung der  Lauge  auf  die  sensibeln  Nerven  der  Hand  und 
des  Vorderarms,  kommt  als  solehe  ziemlich  häufig  vor,  und 
verdient  mn  so  mehr  Beachtung,  wenn  man  damit  eine 
andere  Einwirkung  der  Lauge  auf  die  vegetative  Sphäre 
vergleicht,  welche  unter  dem  Namen  Psoriasis  lavatricum 
bekannt  ist.  Was  die  Behandlung  der  erwähnten  Anä- 
sthesie betrifft,  so  genügt  in  den  meisten  Fällen  die  Entzie- 
hung des  schädlichen  Einflusses  zur  Heilung : die  Kran- 
ken müssen  das  Waschen  eine  Zeitlang  unterlassen , und 
können  gleichzeitig  das  Unguent.  nervinum  in  die  von  der 
Anästhesie  befallenen  Theile  einreiben.  Kecidive  treten  bei 
den  Verhältnissen  solcher  Kranken,  welche  ein  längeres  Aus- 
setzen ihrer  Beschäftigung  verbieten,  natürlich  sein*  leicht 
ein. 

Fälle  von  Anästhesie  der  Sinnesnerven  waren  zwar 
meistens  von  einem  Leiden  des  Centralorgans  abhängig,  und 
demgemäss  mit  andern  wichtigen  Symptomen  complicirt : bei 
zwei  Kranken  jedoch  trat  die  Affektion  isolirt  auf,  und  musste 
von  einem  peripherischen  Leiden  hergeleitet  werden.  Im 
ersten  Fall  waren  die  Nervi  optici  Sitz  der  Anästhesie. 
Dei  Kranke  war  ein  22 jähriger  Anstreicher,  welcher  be- 
reits an  wiederholten  Zufällen  der  Bleiintoxication , an  der 
Colica  und  Epilepsia  satumina,  gelitten  hatte.  Seit  einiger 
Zeit  hatte  sich  Amblyopie  auf  beiden  Augen  eingestellt,  wo- 
bei die  erweiterten  Pupillen  sehr  träge  gegen  den  Eindruck 
des  Lichtes  reagirten.  Da  dieser  Fall  als  Amaurosis  satur- 
nina  gedeutet  werden  musste,  so  wurde  zum  innem  Gebrauch 
das  Crotonöl  verordnet , über  den  Augenbrauen  Streifen  von 
Gantharidenpflaster  applicirt , und  eine  Zeitlang  in  Eiterung 
erhalten.  Diese  Behandlung,  nebst  lauwarmen,  später  mit 
Kali  sulphuratum  versetzten  Bädern,  hatte  zwar  anfangs  eine 
entschiedene  Besserung  zur  F olge,  so  dass  der  Kranke  wie- 
der deutlicher  sah,  und  auch  die  Pupillen  eine  grössere  Thä- 
tigkeit  verriethen:  allein  die  Besserung  war  nicht  von  Be- 
stand. Nach  einiger  Zeit  trat  wieder  eine  Verschlimmerung 

2 


18 


ein,  und  alle  angewandten  Mittel,  Strychnin,  selbst  der  Elek- 
tromagnetismus etc.,  blieben  erfolglos. 

Der  zweite  F all  betrifft  eine  Anästhesie  derNcrvi 
olfactorii.  Die  33jährige  Kranke  litt  an  deutlich  ausge- 
sprochenen Symptomen  der  Lues,  reissenden,  nächtlich  exacer- 
birenden  Knochenschmerzen,  Tophen  am  Stirnbein,  dem  be- 
haarten Theil  des  Kopfes  und  dem  linken  Obei’armknochen, 
syphilitischen  Excoriationen  am  Gaumen,  und  Fluor  albus. 
Gleichzeitig  war  vollkommene  Anosmie  vorhanden,  bei  unge- 
störter Sensibilität  der  Nasenschleimhaut.  Die  sofort  einge- 
leitete mercurielle  Behandlung  hatte  ein  baldiges  Schwinden 
der  Knochenauftreibungen  und  der  übrigen  Symptome  zur 
Folge.  Mit  ihnen  verschwand  alhnählig  die  Anosmie,  und 
das  Geruchsvermögen  stellte  sich  vollständig  wieder  her. 
Wahrscheinlich  fand  bei  dieser  Kranken  eine  ähnliche  Wu- 
cherung, wie  auf  der  äussern  Stirnbeinplatte,  auch  auf  dem 
Siebbeine  statt,  wodurch  die  Fasern  der  Riechnerven  compri- 
mirt  und  ihrer  Energie  beraubt  wurden. 

Bei  zwei  andern  Kranken  war  die  Anosmie  Folge  eines 
starken  Schnupfens  und  blieb  ungeheilt.  Bemerkenswerth  ist 
der  Einfluss  auf  den  Geschmack,  der  in  solchen  Fällen  ge- 
wöhnlich einen  Theil  seiner  Schärfe  einbüsst.  Will  man  sich 
von  dem  Grade  der  Anosmie  selbst  überzeugen,  so  hüte  man 
sich  zu  diesem  Zwecke  reizende  Stoffe,  z.  B.  Salmiakgeist, 
zu  benutzen,  die  mehr  auf  die  sensibcln  Nerven  der  Nasen- 
schleimhaut als  auf  den  Olfactorius  wirken.  Man  wähle  viel- 
mehr stark  riechende  Substanzen,  unter  denen  sich  das 
Ol.  Asae  foet.  aeth.  vorzugsweise  eignet. 


II.  Motilitätneurosen. 

1.  HYPERCINESEN. 

Krampfhafte  Zufälle,  bedingt  durch  Entzündung  der 
Kücken  mar  k s häute,  wurden  nur  bei  einem  Ivranken, 
einem  neunjährigen  Knaben,  beobachtet.  Veranlassung  gab 
plötzliche  Suppression  der  reichlichen  Hautsecretion  durch 


19 


Niederlegen  auf  frisch  gescheuerte  Steinplatten.  Rücken- 
schmerz, tetanische  Starrheit  und  peinigende  Schmerzen  in 
den  untern  Extremitäten,  plötzliche,  elektrischen  Erschütterun- 
gen gleichende  Zuckungen  waren  die  Symptome,  welche  die 
Krankheit  als  Meningitis  spinalis  cliarakterisirten.  Die  nicht 
gesteigerte  Reflexpotenz  des  Rückenmarks  gab  den  Unter- 
schied vom  Tetanus:  denn  weder  Eindrücke  auf  die  sensi- 
beln  Nerven  der  Haut,  noch  der  Sinnesorgane  vermoch- 
ten einen  convulsivischen  Anfall  hervorzurufen.  Erwäh- 
nung verdient  noch  die  vollkommene  Unbeweglichkeit  der 
untern  Extremitäten,  die  nicht  als  Lähmung,  sondern  nur  als 
eine  durch  den  Schmerz  und  die  starre  Contractur  der  Mus- 
keln bedingte  Immobilität  gedeutet  werden  muss.  Durch  eine 
energische  Antiphlogose  (Blutegel  an  die  Wirbelsäule,  starke 
Ableitungen  auf  den  Darmkanal  u.  s.  w.)  wurde  der  kleine 
Kranke  binnen  acht  Tagen  vollständig  hergestellt. 

Selu  häufig  wurde  die  unter  dem  Namen 
Chorea  St.  Viti 

bekannte  Krankheit  in  der  Klinik  beobachtet.  Unter  zwölf 
mit  besonderer  Aufmerksamkeit  verfolgten  Fällen  befanden 
sich  neun  Mädchen,  ein  Knabe  und  zwei  erwachsene  Frau- 
enzimmer (von  24  und  48  Jahren),  ein  Verhältniss,  welches 
mit  dem  von  den  bewährtesten  Beobachtern  angegebenen  über- 
einstimmt Ri'fz  und  mehrere  andere  Aerzte  hatten  nach 
ihren  Erfahrungen  die  Behauptung  aufgestellt,  dass  die  linke 
Körperhälfte  häufiger  und  gewaltsamer  von  den  Choreabewe- 
gungen afficirt  würde,  als  die  rechte.  Die  in  der  Klinik  ge- 
machten Beobachtungen  stimmen  hiermit  nicht  überein,  indem 
in  jenen  zwölf  Fällen  die  linke  Seite  allein  nur  einmal,  die 
rechte  dreimal  und  beide  Seiten  gleichzeitig  achtmal  ergriffen 
waren.  In  mehreren  Fällen  begann  die  Krankheit  auf  einer 
Seite,  und  ging  nach  Verlauf  einiger  Wochen  auch  auf  die 
andere  über.  Die  Intensität  und  Extensität  der  Beweüruno'en 
war  sehr  verschieden.  Am  häufigsten  wurden  nur  die  Ex- 
tremitäten und  die  Zunge,  zunächst  die  Gesichtsmuskeln  be- 
fallen. Seltener  zeigten  sich  zuckende  Bewegungen  der  Au- 

2* 


20 


genmuskeln  und  der  Muskeln  des  Nackens,  wodurch  der 
Kopf  nach  verschiedenen  Richtungen  rückwärts  oder  seitwärts 
gezerrt  wurde.  In  einem  Falle  schienen  auch  die  Muskeln 
der  Stimmritze  an  der  Krankheit  Theil  zu  nehmen.  Die 
48jährige  Kranke  litt  bereits  seit  acht  Jahren  an  der  Chorea, 
welche  in  Folge  einer  schweren  Entbindung  aufgetreten  war. 
Die  rechte  Körperhälfte,  die  Nacken-  und  Rückenmuskeln 
zeigten  sich  vorzugsweise  ergriffen.  Gleichzeitig  litt  die 
Kranke  an  Anfällen  eines  lästigen  Singultus,  die  Inspiration 
war  nicht  selten  hastig  und  von  einem ' laut  pfeifenden  Ge- 
räusche begleitet,  wie  man  es  bei  Verengerungen  der  Glottis 
zu  hören  pflegt.  In  einigen  Fällen  erreichte  die  Intensität 
der  Bewegungen  einen  so  hohen  Grad,  dass  die  Kranken  im 
Bette  hin-  und  hergeworfen,  ja  aus  demselben  herausgeschleu- 
dert wurden. 

Bestimmte  Ursachen  Hessen  sich  in  den  meisten  Fällen 
nachweisen.  Am  häufigsten  wurde  Schreck  als  erregender 
Anlass  genannt.  So  ward  ein  zehnjähriges  Mädchen,  wel- 
ches am  Morgen  durch  einen  anspringenden  und  laut  bellen- 
den Hund  heftig  erschreckt  worden  war,  schon  an  demselben 
Abend  von  der  Chorea  befallen'.  Zunächst  war  Helminthia- 
sis  die  häufigste  Veranlassung.  Bei  einem  Kinde,  welchem 
die  Krankheit  angeboren  war,  bestand  sie  schon  neun  Jahre 
mit  derselben  Intensität.  In  einem  andern  Falle  leiteten  die 
Eltern  die  Chorea  von  den  Varioloiden  her,  nach  deren,  übri- 
gens normalem  Verlaufe  dieselbe  zurückgeblieben  war.  Dass 
auch  eine  gewisse  Familienanlage  zu  beschuldigen  ist,  bezeugt 
der  Fall  eines  an  Chorea  leidenden  achtjährigen  Mädchens, 
dessen  Mutter  von  einer  Gemüthskrankheit,  drei  Geschwister 
aber  sämmthch  von  Epilepsie  befallen  waren.  In  neuerer 
Zeit  hat  Bright  auf  den  Zusammenhang  dieser  Krankheit 
mit  rheumatischen  Affektionen,  zumal  mit  der  Pericarditis 
hingewiesen,  und  nach  ihm  hat  Babingt on  mehrere  Beobach- 
tungen dieser  Art  bekannt  gemacht.  Auch  in  der  Poliklinik 
kamen  einige  in  dieser  Beziehung  nicht  unwichtige  Fälle  vor. 
Ein  gesundes  neunjähriges  Mädchen  wurde  vor  einigen  Wo- 


21 


chen  von  heftigen  rheumatischen  Schmerzen  in  den  Gelen- 
ken der  rechten  Extremitäten  befallen,  welche  alhnählig  ver- 
schwindend den  Choreabewegungen  Platz  machten.  Ein 
24jähriges  Mädchen,  avelches  seit  ihrem  vierten  Jahre  an  der 
Chorea,  besonders  auf  der  linken  Körperhälfte  litt , bekam, 
sobald  Veränderungen  des  Wetters  eintraten,  heftige  reissende 
Schmerzen  in  den  von  der  Krankheit  befallenen  Gliedern,  be- 
fand sich  überhaupt  im  heissen  Sommer  ungleich  besser,  als 
in  der  schlechteren  Jahreszeit.  Bei  einer  jungen  Kranken, 
welche  erst  seit  sechs  Wochen  an  der  Krankheit  litt,  zeigten 
sich  zwar  keine  schmerzhafte  Empfindungen,  aber  die  Cho- 
reabewegungen selbst  steigerten  sich  auffallend  beim  Eintritte 
nasser,  stürmischer  Witterung. 

In  der  Behandlung  wurde,  wo  es  möglich  war,  zuerst 
auf  die  Causalinclication  Rücksicht  genommen.  Hiezu  eig- 
neten sich  besonders  frische  Fälle,  zumal  wenn  Verdacht  auf 
Hehninthiasis  vorhanden  war.  Ein  sechsjähriger , seit  eini- 
gen Wochen  an  Chorea  leidender  Knabe,  in  dessen  Darmaus- 
leerungen die  Mutter  nicht  selten  Spuren  von  Ascariden  ent- 
deckte, wurde  durch  den  Gebrauch  von  Pulvern  aus  Calomel 
und  Rad.  Jalappae,  welche  den  Abgang  grosser  Mengen  des 
Oxyuris  vermicularis  zur  Folge  hatten,  in  kurzer  Zeit  voll- 
ständig hergestellt.  La  den  Fällen , wo  die  Causalinclication 
' entweder  ganz  fehlte,  oder  nicht  leicht  zu  erfüllen  war , er- 
üffnete  man  die  Kur  mit  Ableitungen  auf  den  Darmkanal 
durch  ein  einfaches  Infus.  Fol.  Sennae,  und  ging  nach  eini- 
gen Tagen  zum  Gebrauche  des  Eisens  über.  Unter  allen 
Eisenpräparaten  schien  dasFeiTum  hydrocyanicum  die  grösste 
V irksamkeit  in  dieser  Krankheit  zu  besitzen : es  wurde  Kin- 
dern in  der  Dosis  von  3 Gr.  mit  Pulv.  Rad.  Rhei  verbunden 
dreimal  täglich  zu  nehmen  verordnet , und  hatte  in  frischen 
I ällen  schon  nach  wenigen  Wochen  bedeutende  Besserung 
zur  I olge.  In  zwei  Fällen  wurden  auch  die  von  Baudeloc- 
(iee  dringend  empfohlenen  Bäder  mit  Kali  sulphuratum,  al- 
lein ohne  den  geringsten  Erfolg,  in  Anwendung  gebracht : 


22 


nach  einem  vierwöchentlichen  Gebrauch  derselben  zeigte  sich 
noch  keine  Spur  von  Besserung. 

W enn  die  Heilung  frischer  Fälle  der  Chorea  mit  keinen 
grossen  Schwierigkeiten  verbunden  ist,  ja  bekanntlich  nicht 
selten,  nachdem  die  Krankheit  einige  Zeit  gedauert,  spontan 
erfolgt,  so  sind  veraltete  Fälle  um  so  schwieriger  zu  besei- 
tigen, und  alle  gewülmliche  Mittel  scheitern  an  der  Hart- 
näckigkeit derselben.  Hier  ist  es  nun  der  Arsenik,  auf  den 
man  sich  noch  am  meisten  verlassen  kann.  Die  seine  Wirk- 
samkeit bestätigenden  Fälle  sind  folgende: 

1.  Ein  1 1 jälu'iges  Mädchen  litt  seit  acht  Jahren  an  einer 
intensiven  Chorea,  besonders  der  rechten  Körperhälfte,  woran 
auch  die  Nackenmuskeln  lebhaften  Antheil  nahmen.  Nach 
Aussage  der  Mutter  war  die  Krankheit  nach  den  Pocken 
zurückgeblieben,  und  alle  schon  seit  einer  Reihe  von  Jahren 
versuchten  Arzneimittel  hatten  sich  erfolglos  erwiesen.  Am 
22.  November  1842  wurde  zuerst  die  Solut.  Fowleri  verord- 
net, da  indess  nach  acht  Tagen  einige  leichte  Intoxicationser- 
scheimmgen  auftraten,  eine  Zeitlang  wiederum  ausgesetzt. 
Nach  dem  Verschwinden  der  beunruhigenden  Symptome  be- 
gann man  ihren  Gebrauch  von  neuem,  imd  zwar  in  steigender 
Dosis.  Diesmal  wurde  das  Mittel  gut  vertragen:  schon  am 
31.  Januar  1843  gab  sich  eine  merkliche  Besserung  kimd, 
und  am  Schluss  der  Klinik,  im  März  1843,  war  das  Kind 
von  seiner  achtjährigen  Krankheit  vollständig,  ohne  weiteren 
Nachtheil,  geheilt,  und  blieb  es  auch,  wovon  man  sich  zwei 
Jahre  nachher,  als  es  sich  wegen  einer  gastrischen  Affektion 
wieder  meldete,  zu  überzeugen  Gelegenheit  hatte. 

2.  Bei  einem  1Ü  jährigen  Mädchen  bestand  die  durch 
einen  heftigen  Schreck  veranlasste  Krankheit  seit  zwei  Jah- 

O 

rcn.  Das  Ferrum  zooticum  und  carbonicum,  Abführmittel, 
kalte  Begiessunngen  des  Kopfs  und  Rückens  waren  bereits 
erfolglos  angewendet  worden.  Am  29.  Januar  1844  winde 
die  Sol.  Fowleri  verordnet;  am  19.  Februar  zeigte  sich  be- 
reits eine  Abnahme  der  Symptome,  und  am  5.  Mai  konnte 
die  Kranke  als  vollständig  geheilt  aus  der  Kur  entlassen  werden. 


Diese  günstige  Wirkung  des  Arseniks  bei  veralteter 
Krankheit  hatte  auch  die  Anwendung  desselben  in  frischeren 
Fällen,  wenn  die  übrigen  Mittel  wirkungslos  blieben,  zur  Folge. 

3.  Dem  schon  oben  erwähnten  Kinde,  bei  welchem  sich 
die  Chorea  aus  einer  rheumatischen  Affektion  der  rechten 
Extremitäten  herausgebildet  hatte,  wurde  nach  einem  drei- 
wöchentlichen nutzlosen  Gebrauche  des  Ferrum  zooticmn  die 
Solut.  Fowleri  verordnet.,  welche  die  Krankheit  nach  vier- 
zehn Tagen  gründlich  heilte. 

4.  Ein  T2jähriges  Mädchen,  schon  vor  drei  Jahren  mit 
Chorea  der  rechten  Körperhälfte  behaftet,  erlitt  im  Sommer 
IS43  ein  Kecidiv.  Die  abführende  Methode  und  der  Ge- 
brauch des  kohlensauren  Eisens  blieben  olme  Erfolg:  erst 
der  Solut.  arsenicalis  gelang  es,  in  kurzer  Zeit  vollständige 
Heilung  herbeizuführen. 

Hat  nun  auch  das  Mittel  in  einem  Falle,  der  nicht  ein- 
mal zu  den  inveterirten  gehörte,  den  gehegten  Erwartungen 
nicht  entsprochen,  so  kaim  es  doch,  in  Betracht  der  mitge- 
theilten  Fälle,  zumal  in  einer  Krankheit,  wo  die  übrigen 
Mittel  so  oft  ihre  Dienste  versagen,  als  ein  sehr  wirksames 
empfohlen  werden. 

Dass  übrigens  beim  Gebrauch  des  Arseniks  grosse  Vor- 
sicht nöthig  ist,  darf  wohl  kaum  erinnert  werden.  Man 
fange  daher  mit  der  kleinsten  Dosis  an,  am  besten  in  Ver- 
bindung mit  Aq.  destillata.  Die  klinische  Formel  war: 
Solut.  arsenical.  (Fowleri)  Aq.  destill.  ää  3j-  M.  D.  S.  drei- 
mal täglich  vier  Tropfen  in  Wasser  zu  nehmen.  Nach  dieser 
Verordnung  bekam  das  Kind  zwei  Tropfen  der  Sol.  Fowleri 
(~  Gran  arsenichter  Säure,  da  Drachmen  der  Sol.  1 Gran 
arsenichter  Säure  enthalten,  und  auf  die  Drachme  dieser  So- 
lution 90  Tropfen  kommen).  Allmäklig  winde  dann  mit 
grosser  Vorsicht  die  Dosis  auf  sechs  Tropfen  gesteigert. 
Sobald  sich  die  ersten  Symptome  der  Intoxication  zeigen, 
was  zuweilen  schon  nach  sehr  kleinen  Dosen  geschah,  muss 
das  Mittel  sogleich  ausgesetzt  werden.  Uebelkeit,  Magen- 
schmcrz,  Erbrechen  und  Durchfäll  gebieten  dies  dringend : 


24 


erst  wenn  diese  Zufälle  vollständig  verschwunden  sind,  darf 
man  den  Gebrauch  der  Solution  wieder  mit  der  grössten  Vor- 
sicht beginnen.  Man  schärfe  deshalb  auch  den  Müttern  der 
Kinder  ein,  die  Tropfen  auf  das  Genaueste  abzuzählcn : schon 
aus  diesem  Grunde  ist  die  Verdünnung  mit  Aq.  destill.  sehr 
zu  empfehlen,  indem,  vorzugsweise  in  niedem  Ständen,  die 
nöthige  Genauigkeit  nicht  selten  vermisst,  und  die  Zahl  der 
Tropfen  überstiegen  wird,  zuweilen  auch  die  Kinder  selbst, 
in  Abwesenheit  der  Eltern,  spielend  von  der  Arznei  kosten, 
wo  dann  die  Gefahr  durch  die  Verdünnung  wesentlich  ver- 
mindert wird. ' 


Von  den  durch  gesteigerte  Reflexthätigkeit  des  Rücken- 
marks bedingten  Krampiformen  kam  nur  die  Hysterie  in 
allen  ihren  Formen  und  zwar  ausserordentlich  häufig  vor, 
jedoch  ohne  ausgezeichnete  und  besonders  hervorzuhebende 
Erscheinungen  darzubieten.  Die  deutlich  ausgesprochene  Ab- 
hängigkeit ihrer  Erscheinungen  vom  Sexualsysteme  führte  in 
mehreren  Fällen  zur  Untersuchung  dieser  Organe,  wo  sich 
dann  gewöhnlich  palpable  Veränderungen  derselben  heraus- 
stellten, auf  welche  in  der  Behandlung  Rücksicht  genommen 
werden  musste.  So  fand  sich  bei  einer  Kranken  ein  Vorfall 
der  vordem  Wand  der  Vagina,  in  welchen  ein  Theil  der 
Harnblase  hinabgesunken  war : ohne  diese  Untersuchung  hät- 
ten die  vorhandenen  Urinbeschwerden  leicht  für  spastische 
gehalten  werden  können,  wie  sie  in  der  Hysterie  häufig  ge- 
nug Vorkommen. 

Ein  andrer  hieher  gehöriger  Fall  bietet  insbesondere 
ein  therapeutisches  Interesse  dar.  Eine  33jährige,  unregel- 
mässig menstruirte  Frau  von  sein  anämischem  Habitus  litt 
an  häufig  wiederkehrenden  Convulsionen  des  Rumpfs  und  der 
Extremitäten,  wobei  sie  gewöhnlich,  olme  das  Bewusstsein 
zu  verlieren , zu  Boden  stürzte.  Die  Anfälle,  welche  durch 
eine  vom  Unterleibe  nach  dem  Halse  aufsteigende  Aura  an- 
gekündigt winden,  hinterliessen  sehr  häufig  Anschwellungen 
verschiedener  Hautstellen , die  nach  kurzer  Zeit  von  selbst 


wieder  verschwanden.  In  den  Intervallen  dieser  Paroxysraen 
o-aben  sich  die  verschiedensten  Zufälle,  meist  im  Gebiete  des 
Vagus  kund : krampfhafter  Husten,  Lach-,  Wein-  und  Schrei- 
krämpfe, Globus,  heftige  Palpitationen,  Singultus,  zuweilen 
vollkommene  Aphonie.  Hände  und  Füsse  waren  in  der  Regel 
kalt,  die  Sensibilität  derselben  abgestumpft.  Ein  sein*  hef- 
tiger Drang  zum  Urinlassen  und  zum  Stuhlgänge,  der  ge- 
wöhnlich mit  Schmerzen  verbunden  war,  veranlasste  die 
genaue  Untersuchung  der  Sexualorgane,  bei  welcher  sich 
das  Bestehen  eines  Fluor  albus  und  eine  Vorwärtsbeugung 
der  Gebärmutter,  die  überhaupt  einen  tieferen  Stand  einnahm, 
ergab : das  Collum  uteri  war  geschwollen  imd  etwas  schmerz- 
haft. Es  wurde  der  Kranken  eine  ruhige  Rückenlage  em- 
pfohlen, dabei  Injectioiien  von  einem  Infus.  Herb.  Rutae  in 
die  Scheide  gemacht,  Halbbäder  mit  einem  Zusatz  von  Herb. 
Sabinae  und  Flor.  Chamomillae,  und  zum  innern  Gebrauche 
der  Eger-Franzensbrunnen  verordnet.  Diese  Behandlung  ward 
von  dem  glücklichsten  Erfolge  gekrönt:  nach  wenigen  Mo- 
naten war  die  Kranke  so  weit  gebessert,  dass  nur  noch  clie 
im  Gebiete  des  Vagus  sich  kund  gebenden  Zufälle  auf  ihrer 
früheren  Höhe  verharrten.  Gegen  diese  wurde  nun  das  Cu- 
prum ammoniatum,  dessen  treffliche  Wirkung  sich  schon  in 
ähnlichen  Zuständen  bewährt  hatte,  anfangs  zu  \ gr.  pro 
dosi,  dann  allmählig  bis  zu  \ gr.  steigend,  angewendet,  und 
zwar  mit  so  guter  Wirkung,  dass,  als  die  Kranke  sich  im 
nächsten  Semester  eines  neuen  Leidens  wegen  wieder  meldete, 
von  den  früheren  Zufällen  keine  Spur  mehr  zu  entdecken  war. 

Wie  häufig  auch  die  Hysterie  auf  anämischer  Basis 
vorkam,  welche  den  Gebrauch  der  Eisen wässer,  z.  B.  des 
Spaabrunnens,  erheischte,  so  selten  wurde  der  entgegenge- 
setzte Zustand,  Plethora,  beobachtet.  Die  Menses  sind  in  solchen 
Fällen  reichlich,  das  Gesicht  geröthet,  die  Kranken  leiden  an 
Schwindel,  an  Wallungen  und  Schmerzen  in  der  Herzgegend, 
so  dass  man  eine  Herzaffektion  annehmen  könnte,  wenn  nicht 
die  physikalischen  Merkmale  ganz  fehlten  und  die  Symptome 
plötzlich  verschwänden,  sobald  Gähnen  und  Aufstossen  ein- 


20 


tritt.  Hier  passen  die  Säuren,  besonders  das  Acidum  pho- 
sphoricum. 

Häufiger  als  Kückenmarksleiden  gaben  Affektionen  des 
Gehirns  zur  Entstehung  convulsivischer  Krankheiten  Anlass. 

Die  Eclampsie  der  Kinder  war  zwar  sehr  oft  die  Folge 
eines  von  den  sensibeln  Quintusfasern  der  Zähne  auf  das 
Gehirn  übertragenen  Keflexreizes ; doch  wurden  auch  andre 
Stätten  der  Keizung,  namentlich  im  Darmkanaie,  nicht  selten 
beobachtet.  Am  wenigsten  sind  bisher  Krankheiten  der  re- 
spiratorischen  Schleimhaut  als  erregende  Anlässe  der  Eclampsie 
berücksichtigt  worden,  obwohl  Fälle  dieser  Art  mitunter  Vor- 
kommen. Im  Januar  1845  wurde  ein  zweijähriges  Kind  in 
die  Klinik  gebracht,  welches  seit  einigen  Tagen  an  einem 
kurzen,  mit  sehr  beschleunigten  Respirationsbewegungen  ver- 
bundenen Husten  litt.  Gleichzeitig  hatten  sich  Anfälle  von 
Eclampsie  eingefunden,  denen  das  Kind  früher  niemals  unter- 
worfen gewesen.  Die  Untersuchung  der  Brust  stellte  das 
Vorhandensein  einer  intensiven  Bronchitis  ausser  Zweifel,  die 
in  diesem  Falle  allein  als  Ursache  der  Eclampsie  betrachtet 
werden  konnte.  In  der  That  wurden  durch  eine,  gegen  das 
Leiden  der  Respirationsorgane . gerichtete,  Behandlung  auch 
die  Krampfanfälle  vollständig  beseitigt.  Bei  einem  andern 
Kinde  dagegen,  welches  schon  seit  vier  Wochen  an  einer, 
durch  die  Zalmentwicklung  bedingten  Eclampsie  litt,  ver- 
schwanden die  Anfälle,  als  sich  eine  lobuläre  Pneumonie  der 
rechten  Lunge  entwickelte,  kehrten  indess  schon  nach  weni- 
gen Tagen  mit  gesteigerter  Intensität  zurück , so  dass  die 
Intervalle  zwischen  den  einzelnen  Anfällen  vollständig  ver- 
Avischt,  und  der  Körper  des  Meinen  Kranken  durch  anhaltende, 
elektrischen  Erschütterungen  gleichende  Zuckungen  hin-  und 
hergeworfen  wurde.  Nach  dem  in  einem  soporösen  Zustande, 
erfolgten  Tode  fand  sich,  mit  Ausnahme  einer  lobulären  Ent- 
zündung der  rechten  Lunge,  in  keinem  Organe  ehre  krank- 
hafte Veränderung.  Das  sorgfältig  untersuchte  Gehirn  zeigte 
sich  in  allen  seinen  Theilen  vollkommen  normal  beschaffen, 
nicht  einmal  eine  auffallende  Injection  der  Meningen  liess  sich 


27 


entdecken.  Die  Complication  einer  acuten  Krankheit  mit 
Eclampsie  steigert  in  jedem  Falle  die  Gefahr  der  erstem, 
während  eine  epileptische  Basis  auch  bei  drohenden 
Erschein imgen  eine  günstigere  Prognose  stellen  lässt. 

xVnfälle  von  Convulsionen,  die  ganz  denen  der  Eclampsie 
gleichen,  bilden  nicht  selten  den  Anfang  der  Meningitis 
im  kindlichen  Lebensalter.  Bei  einem  vieljährigen  Knaben 
traten  drei  Tage  hintereinander  convulsiviscke  Paroxysmen 
auf,  mit  freien  Intervallen,  in  welchen  sich  das  Kind  anschei- 
nend ganz  wohl  befand.  Der  vierte  und  fünfte  Tag  verlief 
ohne  alle  krankhafte  Erscheinungen,  aber  am  sechsten  er- 
neuerten sich  die  Convulsionen  und  die  übrigen  bekannten 
Symptome  der  Meningitis  gesellten  sich  bald  hinzu.  Ehi  acht- 
jähriges Mädchen  winde  inmitten  der  besten  Gesundheit 
plötzlich  von  den  heftigsten  Convulsionen  befallen,  welche  ein 
schnell  hinzugerufener  Arzt  als  epileptische  deutete.  Nach 
dem  Anfälle  trat  vollkommenes  Wohlbefinden  ein,  allein  zwölf 
Stunden  später  entwickelten  sich  alle  Symptome  einer  heftigen 
Meningitis,  welche  nach  sechs  und  dreissig  Stunden  den  Tod 
des  Kindes  herbeiführte,  und  durch  die  Section  bestätigt  wurde. 
In  einem  dritten  Falle  bestand  zwischen  dem  ersten  Auftreten 
der  Convulsionen  und  dem  der  übrigen  Erscheinungen  ein 
Zwischenraum  von  vierzehn  Tagen,  während  dessen  die  El- 
tern nichts  Krankhaftes  an  ihrem  Kinde  bemerken  konnten. 
Das  scheinbare  Wohlbefinden  der  Kinder  während  der  Inter- 
valle spricht  daher  keineswegs  gegen  die  bevorstehende  Ent- 
wicklung der  Meningitis,  ebensowenig  der  Mangel  des  Er- 
brechens, der  Stuhlverstopfimg  u.  a.  m.  Um  so  wichtiger 
muss  ein  Symptom  sein,  welches,  wo  es  vorkommt,  und  vor- 
zugsweise bei  schon  vorhandenen  Convulsionen,  immer  den 
\ erdacht  einer  drohenden  Meningitis  rege  halten  muss.  Dies 
ist  das  Trockenwerden  der  Nasenscliehnhaut.  Die  Bezie- 
hung, welche  zwischen  dem  Aufhören  einer  Otorrhoe  imd  der 
Entwicklung  von  Gehimerscheinungen  bei  Kindern  stattfindet, 
Lt  schon  längst  gekannt:  um  so  auffallender  ist  es,  dass  die 
Beschaffenheit  der  Nasenschleimhaut  in  der  Kegel  übersehen 


28 


wird.  Die  Secretion  der  letztem  erlischt  vor  dem  Ausbruche 
der  Meningitis,  während  sie  bei  reiner  Eclampsie  ungestört 
fortbestehn  kann.  Bei  dem  obenerwähnten  Kinde,  welches 
an  einer  Complication  der  Eclampsie  mit  lobulärer  Lungen- 
entzündung starb,  hatte,  trotz  der  Heftigkeit  der  Krämpfe, 
die  Nasenschleimhaut  bis  zum  letzten  Augenblicke  des  Le- 
bens nicht  aufgehört  zu  secerniren. 

Convulsionen  gingen  übrigens  nicht  in  allen  Fällen  dem 
Ausbruche  der  Meningitis  puerorum  voran.  Bei  einem 
zweijährigen  Knaben  bestanden  die  Vorboten  derselben  in 
Abmagerung,  Verstopfung,  trockenem  Hüsteln,  und  nur  ein 
von  Zeit  zu  Zeit  eintretendes  Erbrechen  konnte  denVerdacht 
auf  eine  sich  ausbildende  Hirnaffektion  hinlenken;  erst  nach 
vierzehn  Tagen  gesellten  sich  Somnolenz  und  Convulsionen 
hinzu,  welche  dem  Leben  des  Kindes  schnell  ein  Ziel  setzten. 
Starke  seröse  Ansammlung  in  den  Ventrikeln,  breiartige  Er- 
weichung ihrer  Wandungen,  und  ein  dickes  gelatinöses  Ex- 
sudat auf  der  Pia  mater,  welches  von  der  Varolsbrlicke  bis 
zur  Hypophysis  cerebri  reichte,  waren  vollgültige  Beweise 
für  die  längere  Dauer  der  Krankheit,  wenn  auch  die  ge- 
wöhnlichen drohenden  Erscheinungen  derselben  bis  zu  den 
letzten  Tagen  des  Lebens  vermisst  worden  waren. 

In  andern  Fällen  trat  die  Krankheit  unter  der  Maske 
eines  remittirenden  gasti’ischen  Fiebers  auf,  so  bei  einem 
dreijährigen  Knaben,  welcher  drei  Wochen  nach  dem  Ver- 
schwinden eines  Scharlachfiebers  und  regelmässig  stattgehabter 
Desquamation,  zu  fiebern  anfing,  schlaflos  wurde  und  auch 
am  Tage  grosse  Unruhe  verrieth.  Doch  auch  in  solchen 
Fällen  findet  sich  gewöhnlich  ein  oder  das  andere  Symptom, 
welches  auf  ein  vorwaltendes  Leiden  des  Gehirns  liinzudeuten 
scheint.  Der  erwähnte  kleine  Kranke  zeigte  nämlich  von 
Anfang  an  grosse  Neigung  den  Hinterkopf  in  die  Bettkissen 
zu  bohren,  und  wechselte,  ein  sein  beachtenswerthes  Symptom, 
auffallend  häufig  die  Farbe.  Die  Röthe  imd  gesteigerte 
Temperatur  beschränkte  sich  oft  nur  auf  die  eine  Wange, 
eine  Erscheinung,  die,  so  wie  der  schnelle  Farben  Wechsel, 


29 


bei  mehreren  an  Meningitis  leidenden  Kindern  beobachtet 
wurde. 

Zuweilen  war  Erbrechen  der  einzige  Vorbote  der 
furchtbaren  Krankheit.  Eine  genaue  Unterscheidung  von  an- 
dern Arten  des  Erbrechens,  die  eine  ganz  verschiedene  Be- 
handlung erfordern , ist  in  diesen  Fällen  von  der  grössten 
Wichtigkeit.  Das  als  Symptom  der  Meningitis  und  anderer 
Hirnnffektionen  auftretende  Erbrechen  unterscheidet  sich  von 
dem,  welches  die  Krankheiten  des  Magens  begleitet,  dadurch, 
dass  es  auch  bei  verhältnissmässig  leerem  Magen,  ohne  vor- 
her stattgehabten  Genuss  von  Speisen,  stürz  weise,  ohne  Wür- 
gen erfolgt  ; dass  es  sich  ferner  nicht  durch  Uebelkeit  an- 
kündigt, durch  Aufrichten,  so  wie  durch  jede  Bewegung  und 
Erschütterung  des  Kopfes  begünstigt  und  hervorgerufen  wird, 
beim  Niederlegen  des  Kopfes  dagegen  aufhört,  weshalb  man 
das  Erbrechen  nach  dem  Essen  dadurch  verhüten  kann,  dass 
man  dem  Kinde  eine  vollkommen  horizontale  Lage  giebt.. 
Höchst  bezeichnend  ist  das  gleichzeitige  Vorhandensein  von 
Verstopfung  und  grosser  Tofpidität  des  Darmkanals,  so  dass 
starke  Purganzen  nötkig  sind,  um  Leibesöffnung  zu  bewirken. 

U eber  Kopfschmerze n im  Beginne  der  Meningitis 
klagten  nur  ältere  Kinder:  die  kleineren  gaben  denselben 
durch  öfteres  Greifen  nach  dem  Kopfe,  Anlehnen  desselben 
u.  s.  w.  zu  erkennen.  Von  Wichtigkeit  ist  auch  die  Beschaf- 
fenheit des  Auges.  Der  Blick  kleiner  Kinder  folgt  fast  im- 
mer dem  Blicke  der  umgebenden  Personen  (daher  sie  sich 
auch  beim  Anblicken  blinder  Menschen  unbehaglich  zu  füh- 
len scheinen,  indem  sie  merken,  dass  sie  nicht  angesehen 
werden).  Diese  Eigenthümliclikeit  kleiner  Kinder  erlischt, 
sobald  das  Gehirn  zu  leiden  anfängt:  sie  folgen  nicht  mehr 
den  Augen  der  Eltern  oder  Wärterinnen,  der  Blick  wird 
starr,  glänzend,  bekommt  ein  gewissermassen  irres  Anselm. 

Der  alten  Eintheilung  der  Krankheit  in  ein  Stadium  ir- 
ntationis  und  ein  Stadium  exsudationis  liegt  eine  irrige  An- 
sicht zu  Grunde.  Da  nach  den  neueren  Erfahrungen  jede 
Entzündung  einer  serösen  Membran  von  Anfang  an  mit 


30 


Exsudat  auftritt,  so  kann  von  jener  scharfen  Trennung  eines 
exsudativen  Stadiums  füglich  nicht  die  Rede  sein.  Die  Me- 
ningitis beginnt  mit  einem  Stadium  der  Exaltation,  in  wel- 
chem das  Gehirn  gegen  den  entzündlichen  Reiz  reagirt:  diese 
Reaktion  erlischt  aber  im  zweiten  Stadium,  welches  man  im- 
merhin als  Stad,  paralyticum  bezeichnen  mag,  weil  paralytische 
Erscheinungen  hier  selten  vermisst  werden.  Der  Puls,  der 
im  ersten  Stadium  sehr  frequent,  aber  gleichmässig  zu  sein 
pflegt,  verliert  die  letztere  Eigenschaft  im  zweiten,  wird  un- 
gleich imdunregelmässig,  während  seine  Verlangsamung  kei- 
neswegs eine  beständige  Erscheinung  ist. 

Diese  wenigen  Bemerkungen  mögen  genügen,  um  den 
Standpunkt,  von  welchem  die  Erscheinungen  der  Meningitis 
gedeutet  wurden,  zu  bezeichnen.  Die  allgemeine  Annahme 
einer  Meningitis  genügte  jedoch  nicht ; man  musste  auch  den 
Sitz  derselben  an  diesem  oder  jenem  Theile  der  Pia  mater 
zu  bestimmen  suchen.  Am  leichtesten  liess  sich  die  Menin- 
gitis an  der  Basis  cerebri  durch  die  Erscheinungen  im  Ge- 
biete der  hier  abtretenden  Nerven  ermitteln.  Abnahme  des 
Sehvermögens , Strabismus,  Zuckungen  der  Augenmuskeln 
deuteten  auf  den  Sitz  der  Entzündung  im  Umkreise  des 
Chiasma  Nn.  optic.,  des  Oculomotorius  und  Abducens  hin, 
während  Taubheit,  anhaltende  Kaubewegungen  und  Zähne- 
knirschen (beides  klonische  Krämpfe  im  Gebiete  der  Pars 
motoria  des  Quintus)  eine  Ausbreitung  der  Entzündung  nach 
hinten  gegen  die  Varolsbrücke  und  die  Medulla  oblongata 
bekundeten.  Die  während  des  Lebens  gestellte  Diagnose 
wurde  auch  durch  die  Section  bestätigt,  indem  in  solchen 
Fällen  die  betreffenden  Nerven  von  einer  mehr  oder  weniger 
dicken  plastischen  Exsudatschicht  eingehüllt  waren. 

Seröse  Ansammlungen  in  den  Ventrikeln  mit  Erweichung 
ihrer  Wände  und  der  Centraltheile  des  Gehirns  (Hydroce- 
phalus  acutus)  wurden  zwar  in  manchen  Fällen  gefunden, 
Hessen  sich  aber  während  des  Lebens  nicht  deutlich  von  der 
peripherischen  Meningitis,  wrelche  ohne  Exsudation  in  den 
Hirnhöhlen  vei'läuft,  unterscheiden. 


In  den  meisten  Fällen  trat  die  Krankheit  als  Meningi- 
tis tuberculosa  auf,  und  war  als  solche  mit  Tuberkelab- 
lagerungen in  andern  Organen,  besonders  den  Lungen,  den 
Bronchialdrüsen,  der  Leber,  der  Milz,  den  Mesenterialdrüsen, 
complieirt.  Die  Tuberkelgranulationen  sassen  gewöhnlich  an 
den  in  die  Sulci  eindringenden  Falten  der  Pia  mater  und 
konnten  daher  nur  bei  genauer  Nachforschung  aufgefunden 
werden ; weit  seltener  folgten  sie,  in  einem  gallertartigen  Ex- 
sudate eingebettet,  dem  Laufe  der  grösseren  Venen  an  der 
Convexität  der  Hemisphären.  In  mehreren  Fällen  fand  sich 
Erweichung  der  Schleimhaut  am  Fundus  des  Magens,  oder 
doch  bedeutende  Gefässinjection  an  dieser  Stelle.  In  einem 
Falle  wies  die  mikroskopische  Untersuchung  in  dem  an  der 
Basis  cerebri  befindlichen  plastischen  Exsudate  Zellen  nach, 
die  mit  denen  der  Tuberkeln  entschiedene  Aehnlichkeit  hatten. 

Seltener  waren  Complicationen  mit  krankhaften  Verände- 
rungen der  Himsubstanz  selbst,  wofür  der  folgende  Fall  als 
Beispiel  dienen  mag.  Ein  1 - Jahr  altes  Mädchen,  welches 
schon  mehrere  Wochen  an  Erbrechen  und  Stuhlverstopfung 
gelitten  hatte,  wurde  vier  Tage  vor  seiner  Anmeldung  in  der 
Klinik  von  Convulsionen  befallen,  die  einen  soporähnlichen 
Zustand  hinterliessen.  Bei  der  Untersuchung  zeigten  sich 
Krämpfe  der  Augenmuskeln,  fast  ununterbrochene  Zuckungen 
im  Gesicht,  auffallende  Schläfrigkeit,  Unmöglichkeit  den  Kopf 
aufrecht  zu  halten,  wobei  alsbald  Erbrechen  grünlicher  Stoffe 
eintrat,  Stuhlverstopfung,  ein  mässig  frequenter,  gleichmässiger 
Puls,  natürliche  Wärme  des  Kopfes.  Der  in  der  Nacht  er- 
folgte Durchbruch  eines  Backzahns  blieb  ohne  Einfluss  auf 
die  Krankheit:  die  Erscheinungen  nahmen  Gelmehr  trotz  der 
kräftigsten  Behandlung  in  den  nächsten  Tagen  bedeutend  zu . 
es  entwickelte  sich  vollständiger,  von  heftigen,  nur  die  linke 
Körperhälfte  einnehmenden,  Convulsionen  unterbrochener  So- 
por, die  rechten  Extremitäten  wurden  gelähmt,  Strabismus 
divergens  des  linken  Auges,  Ptosis  auf  derselben  Seite,  wie- 
derholtes Niesen,  Gähnen  und  anhaltende  Kaubewegungen 
Hessen  auf  den  Sitz  der  Entzündung  an  der  Gehirnbasis 


32 


schliessen.  Die  Farbe  der  Wangen  wechselte  schnell,  der 
Bauch  sank  ein,  der  Puls  wurde  unregelmässig  und  ungleich, 
und  in  einem  heftigen  Anfalle  von  Convulsionen  erfolgte  am 
sechsten  Tage  der  Tod.  Bei  der  Section  zeigte  sich  eine 
Starke  Injection  der  Pia  mater  in  ihrem  ganzen  Umfange, 
beträchtliches  grünlich-gelbes  Exsudat  an  der  Basis  cerebri, 
welches  die  Nervenursprünge  von  der  Medull.  oblong,  an  bis 
zur  Kreuzung  der  Sehnerven  einhüllte , sich  in  die  Fossa 
Sylvii  und  in  die  andern  Furchen  fortsetzte.  Die  Ventrikel 
enthielten  kein  Serum,  doch  war  der  Plex.  choroideus  medius 
stark  injicirt  und  mit  kleinen  weissen  Punkten  von  der  Grösse 
eines  Hirsekorns  wie  bestreut.  Herr  Dr.  Remak,  welcher 
dieselben  genau  untersuchte,  fand  sie  aus  sehr  kleinen  Zellen 
bestehend,  und  hielt  sie  für  Produkte  der  Entzündung.  Aehn- 
liche  knotige  V erdickungen  fand  er  stellenweise  an  den  Wän- 
den der  im  Plexus  chorioideus  verlaufenden  Blutgefässe. 
Ausser  diesen  der  Meningitis  zukommenden  Veränderungen 
fand  sich  noch  eine  breiartige  Erweichung  des  Corpus  Stria- 
tum und  Thalamus  opticus  der  linken  Seite,  von  deren  nor- 
maler Struktur  wenig  mehr  zu  erkennen  war.  Diese  Desor- 
ganisation, auf  welche  wohl  auch  das  schon  längere  Zeit 
beobachtete  Erbrechen  bezogen  werden  muss,  erklärt  zugleich 
die  Lähmung  der  entgegengesetzten  Körperhälfte. 

Complication  mit  Tuberculose  des  Gehirns  wurde  mehr- 
mals beobachtet.  Meistens  bildet  die  Meningitis  in  solchen 
Fällen  den  tödtlichen  Schluss  der  Krankheit,  deren  Existenz 
sich  schon  längere  Zeit  vorher  durch  Convulsionen,  Contrac- 
turen,  Ilemiplegieen  verräth.  Dass  aber  die  Tuberkeln  auch 
ohne  alle  Symptome  bestehen,  und  plötzlich  durch  Hervor- 
rufung  einer  Meningitis  tödtlich  werden  können,  bewährt  der 
Fall  eines  11  Monate  alten  Kindes,  welches,  anscheinend 
ganz  gesund,  plötzlich  von  Convulsionen  der  linken  Körper- 
hälfte befallen  wurde.  Erbrechen,  Stuhlverstopfung,  Strabis- 
mus convergens  des  linken  Auges,  Erweiterung  und  träge 
Reaktion  der  Pupillen,  Sopor,  gesellten  sich  schnell  liinzu  und 
machten  nach  drei  Tagen  dem  Leben  des  Kindes  ein  Ende. 


Bei  der  Section  fand  man  neben  den  Anzeichen  einer  tuber- 
cnlösen  Meningitis  der  Basis  cerebri.  ein  haselnnsgrosses  Tu- 
berkel im  liintem  Lappen  der  linken  Hemisphäre  des  grossen 
Gehirns.  Ein  ähnliches  lag  an  der  Oberfläche  der  linken 
Hemisphäre  des  Cerebellum.  Die  Ventrikel  enthielten  kein 
Serum.  Die  Hirnsubstanz  in  der  Umgegend  der  Tuberkeln 
wich  vom  Normalzustände  nicht  ab.  Auffallend  bleibt  die 
Beschränkung  der  Convulsionen  auf  die  dem  Sitze  der  Tu- 
berkeln entsprechende  Körperhälfte,  ohne  dass  die  Extremi- 
täten der  entgegengesetzten  Seite  von  Lähmung  befallen  wa- 
ren. Auch  verdient  Erwähnung,  dass  eine  habituelle  Otorrhöe, 
die  einige  Wochen  vor  dem  Eintritte  der  Krankheit  aufgehört 
hatte,  während  des  Verlaufs  derselben  wieder  eintrat,  ohne 
eine  günstige  Veränderung  herbeizuführen. 

Die  Fälle  der  schon  vollständig  entwickelten  Meningitis 
endeten  insgesammt  mit  dem  Tode:  nur  wenn  die  Kinder 
beim  ersten  Auftreten  beunruhigender  Symptome,  z.  B.  'des 
Erbrechens,  zur  Behandlung  kamen,  gelang  es  mitunter  der 
Krankheit  vorzubeugen.  Im  Stadium  der  Reaktion  des  Ge- 
hirns wurde  die  antiphlogistische  Methode  auf  das  Kräftigste 
angewandt:  wiederholte  Application  von  Blutegeln  hinter  die 
Ohren,  Anwendung  der  Kälte  auf  den  Kopf,  starke  Ablei- 
tungen auf  den  Darmkanal  durch  grosse  Dosen  des  Calomel 
waren  die  Hauptmittel.  Was  die  Anwendung  der  Kälte  be- 
trifft, so  bediente  man  sich  nicht  des  in  solchen  Fällen  nach- 
theilig wirkenden  Sturzbades , sondern  des  von  Heim  einge- 
führten Verfahrens:  nachdem  die  Haare  abgesclmitten,  wird 
der  Kopf  des  Kindes  mit  einem  starken,  an  der  einen  Schläfe 
zusammengebundenen  Strange  gewöhnlicher  Strickwolle  um- 
geben, und  über  eine  Wanne  gehalten.  Aus  einem  Topfe 
begiesst  man  nun  aus  einer  Höhe  von  1 bis  U Fuss  zehn 
bis  fünfzehn  Minuten  lang  den  Kopf  mit  kaltem  Wasser, 
dessen  Herablaufen  über  das  Gesicht  durch  die  Wolle  ver- 
hindert wird.  Nach  einer  längeren  Pause  beginnt  man  von 
neuem,  so  wie  überhaupt  die  Kälte  (auch  in  der  Form  der 
I omentationen)  nicht  anhaltend  einwirken  darf,  sondern  Pausen 

3 


34 


eintreten  müssen.  Will  man  sich  der  kalten  Ueberschläo-c 

O 

bedienen,  so  fomentire  man  während  einer  Stunde  und  ge- 
statte dann  eben  so  lange  Ruhe,  worauf  man  wieder  von  neuem 
beginnt.  Kleine  Dosen  des  Calomel  lassen  mit  ihrer  Wir- 
kung zu  lange  auf  sich  warten:  man  thut  daher  wolil,  das 
Mittel  in  starker  Dosis  oder  in  Verbindung  mit  Radix  Jalappae 
zu  geben,  und  die  dadurch  eingeleiteten  Darmentleerungen 
durch  Infus.  Sennae  compos.,  Syrup.  Spinae  cervinae,  u.  a.  m. 
mehrere  Tage  zu  unterhalten.  Sobald  aber  die  Reaktion  des 
Gehirns  erlischt,  der  Puls  unregelmässig  wird,  der  Bauch 
einsinkt,  und  paralytische  Erscheinungen  eintreten,  bleibt  die 
fortgesetzte  Antiphlogose  ohne  allen  Erfolg.  Hier  nehme  man 
zur  Application  eines  Vesicators  in  den  Nacken  oder  auf  den 
Kopf  selbst  seine  Zuflucht,  und  vertausche,  sobald  die  An- 
wendung der  Kälte  keine  Besserung  herbeiführt,  dieselbe 
mit  warmen  Fomentationen,  die  man  Tag  und  Nacht  fort- 
setzt. Wemi  auch  diese  Methode,  wo  sie  in  der  Poliklinik 
angewandt  wurde,  das  Leben  des  Kindes  nicht  zu  erhalten 
vermochte,  so  verdient  sie  doch,  wegen  ihrer  Erfolge  in  eini- 
gen ausserhalb  der  Klinik  beobachteten  Fällen,  jedenfalls  ver- 
sucht zu  werden.  Auch  ist  in  der  That  nicht  einzusehen,  aus 
welchen  Gründen  man  die  Anwendung  der  feuchten  Wärme 
bei  Entzündungen  der  serösen  Membran  des  Gehirns  fürchtet, 
während  sie  bei  denen  der  Pleura  uud  des  Peritonäum  mit 
entschieden  glücklichem  Erfolge  angewTendet  wird. 

Günstiger  als  in  der  acuten,  stellt  sich  die  Prognose  in 
der  chronischen  Form  der  Meningitis.  Ein  2- jähriges, 
bisher  gesundes  Kind  bekam  vor  sechs  Wochen  einen  impe- 
tiginösen  Ausschlag  auf  der  behaarten  Kopfhaut,  der  aber 
nach  kurzer  Zeit  wieder  verschwand,  und  zweien  wallnuss- 
grossen Geschwülsten,  die  sich  im  Nacken  entwickelten,  Platz 
machte.  Die  eine  dieser  Geschwülste  brach  auf,  und  ent- 
leerte eine  bedeutende  Quantität  scrophulösen  Eiters,  die 
andre  zertheilte  sich  ohne  ärztliche  Hülfe.  Seit  dieser  Zeit 
bemerkten  die  Eltern  pine  anhaltende  Biegung  des  Kopfes 
nach  der  linken  Seite ; Strabismus  convergens  auf  beiden  Augen 


35 


* 


gesellte  sich  hinzu,  das  Kind  liess  die  Zunge  aus  dem  Munde 
heraushängen,  speichelte  viel,  wurde  missmutliig  und  gegen 
alle  Eindrücke  imempfindlich,  und  vermochte  nicht  mehr  sich 
olme  fremde  Beihülfe  auf  den  Beinen  zu  erhalten.  Die  frü- 
her sein-  starke  Seeretion  der  Nasenschleimhaut  hörte  auf. 
Ein  heftiger  zur  Nachtzeit  eingetretener  Anfall  allgemeiner 
Convulsionen  veranlasste  die  Mutter  endlich  in  der  Klinik 
Hülfe  zu  suchen.  Die  obengenannten  Symptome  setzten  das 
Vorhandensein  einer  chronischen,  wahrscheinlich  tuberculösen 
Meningitis  an  der  Hirnbasis,  in  der  Umgegend  der  Nn.  ocu- 
lomotorii,  ausser  Zweifel.  Nach  der  Anwendung  etlicher 
Blutentleerungen  und  stai’ker  Ableitungen  auf  den  Darmka- 
nal durch  eine  Verbindung  des  Calomel  mit  Radix  Jalappae 
konnte  das  Kind  den  Kopf  bereits  in  seine  normale  Stellung 
bringen,  die  Nasenschleimhaut  fing  wieder  an  zu  secerniren, 
und  die  untern  Extremitäten  hatten  einen  Theil  ihrer  Kraft 
wiedergewonnen.  Mit  Rücksicht  auf  die  impetiginöse  Basis 
der  Krankheit  wurde  nun  das  Unguenl.  Tartar,  emet.  in  ver- 
schiedene Stellen  der  abgeschörnen  Kopfhaut  eingerieben, 
imd  zum  innem  Gebrauch  der  Leberthran  imd  -wiederholte 
Ableitungen  auf  den  Darmkanal  verordnet.  Nach  dreimonat- 
licher Fortsetzung  dieser  Kur  waren  alle  oben  angeführten 
Symptome  vollständig  geschwunden,  nur  ein  geringer  Grad 
von  Strabismus  convergens  des  linken  Auges  giebt  noch 
Kunde  von  der  einst  vorhandenen  Krankheit,  doch  ist  die 
beste  Hoffnung  vorhanden,  auch  dieses  Symptom  noch  gänz- 
lich zu  beseitigen. 

In  zwei  Fällen  sprachen  die  Erscheinungen  für  den  Sitz 
der  Meningitis  chronica  in  der  Nähe  des  Cerebellum  und  des 
verlängerten  Marks.  Eine  anhaltende  Rückwärtsbiegung  des 
Kopfes,  die  leicht  zur  Verwechslung  mit  Spondylarthrocace 
der  obem  Halswirbel  Anlass  geben  kann,  muss  als  Haupt- 
symptom betrachtet  werden.*)  In  dem  ersten,  einen  zwei- 


*)  ^ IvOMüerg’s  Lehrbuch  der  Nervenkrankheiten  des  Menschen 
I.  B.  S.  432. 


3* 


3f> 


* 


jährigen  Knaben  betreffenden  Falle,  dessen  Ausgang  leider 
nicht  angegeben  werden  kann,  hatte  sich  die  Retroversion  des 
Kopfes,  verbunden  mit  einer  etwas  geschwächten  Motilität 
in  den  untern  Extremitäten,  und  mit  Abnahme  des  kindli- 
chen Frohsinns  in  Folge  eines  Falls  auf  den  Hinterkopf  aus- 
gebildet. Jeder  Versuch,  den  Kopf  nach  vom  zu  beugen, 
verursachte  die  heftigsten  Schmerzen,  während  an  dem  Cer- 
vicaltheile  der  Wirbelsäule  äusserlich  nicht  die  geringste  Ab- 
normität zu  entdecken  war.  Der  entfernte  Wohnort  des  Kin- 
des, ein  Dorf  in  der  Umgegend  von  Berlin,  machte  es  un- 
möglich, die  Krankheit  weiter  zu  verfolgen.  Der  zweite  Fall 
kam  bei  einem  drei  Monate  alten  Kinde  vor.  Ausser  der 
starren  Rückwärtsbiegung  des  Kopfes  beobachtete  man  in  die- 
sem Falle  häufiges  Verdrehen  der  Augen,  einen  stieren  Blick, 
täglich  eintretende  Anfälle  von  Convulsionen.  Auch  liier  ergab 
die  Untersuchung  der  obersten  Halswirbel  keine  krankhafte 
Veränderung.  Durch  wiederholte  Application  von  Blutegeln 
am  Hinterhaupte,  Einreibungen  der  grauen  Salbe  und  abfüh- 
rende Mittel  gelang  es,  eine  auffallende  Besserung  zu  erzie- 
len. Der  Kopf  liess  sich  ohne  Mühe  nach  vom  beugen,  wenn 
auch  die  Neigung  zur  Retroversion  noch  immer  fortbestand, 
die  Convulsionen  liessen  gänzlich  nach,  bis  nach  Verlauf  ei- 
nes halben  Jahres  plötzlich  ein  heftiger  Krampfanfall  dem 
Leben  des  Kindes  schnell  ein  Ende  machte.  Bei  der  Section 
zeigte  sich  das  Gehirn  sein’  weich,  ausserordentlich  blutreich, 
die  Schnittfläche  von  bläulich -rother  Farbe  mit  zahlreichen 
Blutpunkten.  Die  Pia  mater  war  vorzugsweise  in  der  Ge- 
gend der  hintern  Lappen  und  des  kleinen  Gehirns  sein1  m- 
jicirt,  und  am  verlängerten  Marke  mit  kleinen  Granulationen 
besetzt.  Die  auffallendste  Veränderung  zeigte  sich  aber  an  der 
harten  Hirnhaut : die  Falx  cerebehi  nämlich  und  der  angrän- 
zende  Tlieil  der  Dura  mater,  welche  die  untern  für  das  Cerebel- 
lum  bestimmten  Gruben  des  Hinterhauptbeins  auskleidet,  war 
beträchtlich  verdickt,  knorpelhart,  und  setzte  dem  Messer  ei- 
nen starken  Widerstand  entgegen. 

Eine  anhaltende  starre  Rückwärtsbiegung  des  Kopfs  kann 


37 


übrigens  auch  durch  andre  pathische  Vorgänge  im  Gehirne 
bedingt  sein.  Bei  der  Section  eines  ausserhalb  der  Klinik 
behandelten  1 3 Monate  alten  Kindes , welches  ausser  den 
Symptomen  eines  Hydroccphalus  chronicus  diese  Erscheinung 
in  einem  ausgezeichneten  Grade  dargeboten  hatte,  fand  man 
die  Hirnhäute  selbst  in  ihrem  ganzen  Umfange  vollkommen 
normal  beschaffen,  dagegen  in  den  Ventrikeln  und  im  Sacke 
der  Arachnoidea  eine  Ansammlung  klarer  Flüssigkeit,  deren 
Quantität  gegen  20  Unzen  betragen  mochte.  Durch  den 
Druck  derselben  war  die  über  den  V entrikeln  liegende  Hirn- 
substanz atrophisch  geworden,  war  aber,  so  wie  auch  die 
Centraltheile  des  Gehirns  fester  als  im  Normalzustände.  Beim 
Durchschnitt  des  kleinen  Gehirns  zeigte  sich  eine  ungewöhn- 
liche Injection  desselben.  Die  sehr  starke  Erweiterung  des 
werten  V entrikels  und  der  von  der  serösen  Ansammlung  aus- 
geübte Druck  scheint  in  diesem  Falle  zur  Ketraction  des 
Kopfes  in  Beziehung  zu  stehen. 

Von  allen  krampfhaften  Affectionen  war 
die  Epilepsie 

am  häufigsten  Gegenstand  der  klinischen  Beobachtung.  In 
zwanzig  Fällen  wiu-den  die  Erscheinungen  derselben  mit  Ge- 
nauigkeit erforscht  imd  der  Verlauf  der  Krankheit  verfolgt. 
Zunächst  stellte  sich  die  grosse  Verschiedenheit  der  soge- 
nannten Aura  epileptica  heraus.  Vier  dieser  Kranken 
leugneten  durchaus  alle  Vorboten  des  Anfalls;  dagegen  zeigte 
sich  in  allen  übrigen  Fällen  eine  Aura,  wenn  auch  nicht  in 
der  eigentlichen  Bedeutung  des  Wortes,  als  ein  von  un- 
ten aufsteigender  warmer  oder  kühler  Hauch.  Am  häu- 
figsten war  die  sensible  Aura,  die  in  der  Hälfte  der  Fälle 
vorkam.  Sie  zeigte  sich  bald  als  Formication  in  den  Zehen 
und  Fingerspitzen,  bald  als  kribbelnde  Empfindung  in  der 
Umgegend  des  Mundes,  bald  als  plötzlich  eintretendes  Ge- 
fühl einer  über  den  ganzen  Körper  verbreiteten  Brühhitze. 
Auch  als  schmerzhafte  Empfindung  gab  sie  sich  kimd,  stieg 
als  solche  von  den  untern  Extremitäten  aufwärts,  oder  trat 


38 


in  der  Form  der  Hemicranie  oder  der  Mastodynie  auf.  Nur 
einmal  Hess  sich  der  Ursprung  der  Aura  und  der  Anlass  der 
Krankheit  in  einen  gewissen  Zusammenhang  bringen.  Die- 
ser Fall  betraf  einen  kräftigen  Tagelöhner,  bei  welchem  sich 
nach  einem  vor  drei  Jahren  erhttenen  Fall  auf  das  rechte 
Knie  ein  entzündlicher  Process  in  demselben,  und  in  Folge 
dessen  Desorganisation  des  Gelenks  entwickelt  hatte.  Seit 
dieser  Zeit  litt  der  Kranke  an  epileptischen  Anfällen:  die 
Aura  begann  als  eine  kribbelnde  Empfindung  an  der  grossen 
Zehe  des  rechten  Fusses,  stieg  von  hier  an  der  innem  Fläche 
des  Unter-  und  Oberschenkels  aufwärts  und  ging  dann  in 
den  epileptischen  Paroxysmus  über.  Zwar  hat  die  Aura  auch 
in  diesem  Falle  nicht  die  ursprünglich  verletzte  Stelle  (das 
Kniegelenk)  zum  Ausgangspunkt;  wenn  man  jedoch  bedenkt, 
dass  derselbe  Nerv  (N.  saphenus  major)  sowohl  die  Haut  auf 
der  innem  Seite  des  Kniegelenks,  wie  die  der  grossen  Zehe 
mit  Sensibilität  versorgt,  wird  man  die  innige  Beziehung 
zwischen  Aura  und  Krankheitsursache  nicht  verkeimen.  Da 
die  Aura  in  den  meisten  Fällen  als  eine  excentrische  Erschei- 
nung betrachtet  werden  muss,  so  bietet  der  erwähnte  Fall  als 
Beispiel  einer  primitiven  Aura  ein  um  so  grösseres  Interesse 
dar.  Bei  zwei  Kranken  hatte  che  Aura  im  N.  opticus  ihren 
Sitz;  sie  glaubten  Menschen  und  Thiere,  Funken  und  leuch- 
tende Flammen  zu  sehen,  worauf  der  epileptische  Anfall  schnell 
folgte. 

Fünf  Kranke  boten  che  Erscheinung  einer  motorischen 
Aura  dar,  che  sich  bei  mehreren  in  den  Anhtzmuskeln  kund 
gab : che  Kranken  empfanden  plötzhch  ein  ziehendes , span- 
nendes Gefühl  in  den  Lippen,  das  Sprechvermögen  war  auf- 
gehoben, und  der  Mund  wurde  zu  einer  unregelmässigen 
Form  nach  der  einen  oder  andern  Seite  hin  verzogen.  In 
andern  Fällen  kündigten  sich  die  Paroxysmen  durch  convul- 
sivische,  den  elektrischen  ähnliche  Erschütterungen  einzelner 
Gheder  oder  auch  des  ganzen  Körpers  an,  oder  die  Ilals- 
und  Nackenmuskeln  der  einen,  vorzugsweise  der  linken  Seite 
zogen  langsam  den  Kopf  nach  ihrer  Seite  hinüber. 


39 


Nur  einmal  wurde  die  p s ychische  Form  der  Aura  be- 
obaehtet,  und  zwar  bei  einem  jungen,  seit  neun  Jahren  an 
der  Epilepsie  leidenden  Manne,  welcher  plötzlich,  wie  er  sich 
ausdrückte,  „ganz  eigentümliche”  Gedanken  bekam,  die  ihm 
selbst  zwar  nicht  klar  wurden,  aber  ausserordentliche  Unruhe 
verursachten.  Sein  Bestreben , sich  dieser  Gedanken , die 
übrigens  jedesmal  die  gleiche  Richtung  nahmen,  zu  entledi- 
gen, wurde  durch  den  epileptischen  Anfall  unterbrochen. 

Die  Paroxysmen  selbst,  welche  man  zu  beobachten 
Gelegenheit  hatte,  boten  keine  besonders  hervorzuhebenden 
Erscheinungen  dar.  In  allen  Fällen  zeigte  sich  ein  Fortbe- 
stehen der  Reflexsensibilität,  indem  die  Kranken  beim  Be- 
sprützen  des  Gesichts  mit  kaltem  Wasser  eben  so  heftig,  wie 
im  gesunden  Zustande  zusammenfuhren,  die  Augenlieder  sich 
beim  Berühren  der  Conjunctiva  fester  schlossen  u.  s.  w.  Ek- 
chymosen  in  der  Conjunctiva  und  in  der  Umgegend  der  Na- 
senwurzel waren  eine  nicht  seltene  Folge  des  Anfalls,  und 
bei  zwei  epileptischen  Mädchen  fanden  gleichzeitig  starke 
Blutungen  aus  der  Nase  statt.  Nur  ein  Kranker  gab  an 
während  des  Anfalls  an  Pollutionen  zu  leiden,  die  im  Allge- 
meinen in  den  epileptischen  Paroxysmen  bei  weitem  nicht  so 
häufig  Vorkommen,  als  man  gemeinhin  anzunehmen  pflegt, 
obwohl  eine  gesteigerte  Begierde  zum  Beischlaf  bei  diesen 
Ivranken  sehr  oft  beobachtet  wird.  Das  Eintreten  von  Pol- 
lutionen während  des  Anfalls  ist  immer  eine  beachtenswerthe 
Erscheinung,  in  sofern  es  den  Sitz  der  Krankheit  im  obem 
Theil  des  Rückenmarks  anzudeuten  scheint.  Denn  nach  den 
neueren  Forschungen  steht  gerade  dieser  Theil,  zumal  die 
Medulla  oblongata,  nicht  aber  das  kleine  Gehirn , zu  den 
Sexualorganen  in  inniger  Beziehung.  In  dem  angedeuteten 
Falle  wurde  diese  Annahme  noch  durch  den  Umstand  unter- 
stützt, dass  der  20jährige  Kranke  sehr  häufig  an  convulsi- 
vischen,  oft  so  gewaltsamen  Erschütterungen  beider  Kör- 
perhälften litt,  dass  er  zu  Boden  stüi’zte,  ohne  jedoch  das 
Bewusstsein  zu  verlieren.  Dieselben  Zuckungen  bildeten 
aber  auch  die  Aura  der  epileptischen  Anfälle,  welche  alle 


\ 


40 


acht  bis  vierzehn  Tage  mit  begleitenden  Pollutionen  einzutre- 
ten pflegten.  Die  sich  auf  beiden  Seiten  des  Körpers  kund 
gebende  motorische  Aura  in  Verein  mit  der  vollkommenen 
Integrität  der  psychischen  Energie  dieses  Kranken,  und  mit 
den  während  des  Anfalls  stattfindenden  Pollutionen  machte 
die  Annahme  eines  Keizzustandes  im  obersten  Theile  des 
Kückenmarks  sehr  wahrscheinlich.  Indess  darf  nicht  uner- 
wähnt bleiben,  dass  eine  auf  diese  Ansicht  sich  gründende 
Behandlung,  wiederholte  topische  Blutentleerungen,  kalte  Wa- 
schungen und  Douchen  des  Kückens  und  Nackens , so  wie 
der  innere  Gebrauch  der  Mineralsäuren  ohne  allen  Erfolg 
blieb. 

Als  Beispiel  einer  im  Gehirn  selbst  wurzelnden  Epilep- 
sie mag  dagegen  der  Fall  einer  32jährigen  Frau  dienen,  die 
bereits  nach  mehreren  Entbindungen  an  Anfällen  der  Eclam- 
psia parturientium  gelitten  hatte.  Im  Sommer  1844  stellten  sich 
von  Zeit  zu  Zeit  Gesichtsphantasmen  ein,  zuweilen  mit  so 
heftigem  Schwindel  verbunden,  dass  die  Kranke,  konnte  sie 
nicht  schnell  einen  Stuhl  ergreifen,  zu  Boden  fiel,  wobei  aber, 
wie  sie  ausdrücklich  bemerkte,  das  Bewusstsein  ungetrübt 
blieb.  In  diesem  Zustande  suchte  sie  in  der  Poliklinik  Hülfe. 
Die  Krankheit  wurde  als  Abortivform  der  Epilepsie  (V ertigo 
epileptica)  angesehen,  und  sogleich  die  Befürchtung  eines  be- 
vorstehenden vollständigen  Ausbruchs  der  Krankheit  ausge- 
sprochen. Einige  Wochen  darauf  trat  nach  vorausgegange- 
nen sehr  lebhaften  Phantasmen  ein  heftiger,  fast  zwei 
Stunden  währender  epileptischer  Anfall  ein,  welcher  einen 
soporösen  Zustand  und  nach  dem  Erwachen  aus  demsel- 
ben eine  Lähmung  der  articulirenden  Bewegungen  der  Zunge, 
wie  sie  so  häufig  in  apoplektischen  Zuständen  beobachtet 
wird,  hinterliess.  Die  Kranke  war  nicht  im  Stande,  ein  V ort 
zu  sprechen,  und  jeder  Versuch  dazu  förderte  nur  unver- 
ständliche Laute  heraus.  Ein  sogleich  vorgenommener  Ader- 
lass beseitigte  zwar  dies  beunruhigende  Symptom,  doch  ha- 
ben sich  die  Anfälle  seit  dieser  Zeit  mehrmals,  wenn  auch 
nicht  mit  gleicher  Intensität,  wiederholt.  Der  Sitz  der  Aura 


4J 


in  einem  Sinnesnerven  und  die  apoplektische  Beimischung 
deuten  an,  dass  der  Heerd  der  Krankheit  in  diesem  Falle  im 
Centralorgane  selbst  zu  suchen  sei. 

Psychische  Störungen  waren  zwar  häufig,  keineswegs 
aber  constant,  zeigten  sich  auch  nicht  immer  von  der  länge- 
ren oder  kürzeren  Dauer  der  Krankheit  abhängig.  Ein  jun- 
ger, seit  neun  Jahren  an  Epilepsie  leidender  Mann,  erfreute 
sich  eines  durchaus  imgeschwächten  Gedächtnisses,  während 
ein  anderer,  bei  welchem  die  Krankheit  sich  erst  seit  drei 
Jahren  entwickelt  hatte,  schon  einen  so  hohen  Grad  von  gei- 
stigem Verfall  darbot,  dass  er,  zumal  in  heissen  Sommerta- 
gen, obwohl  ein  geborner  Berliner,  nicht  im  Stande  war, 
sich  in  den  Strassen  der  Stadt  zurecht  zu  finden. 

Besondere  Aufmerksamkeit  widmete  man  der  Beobach- 
tung der  Intervalle,  welche  nie  ganz  frei  von  krankhaften  Stö- 
rungen waren.  Bei  weiblichen  Kranken  mischten  sich  nicht 
selten  hysferische  Züge  ein,  Globus,  W einkrämpfe.  In  an- 
dern Fällen  wurde  eine  bedeutende  tympanitiscke  Anschwel- 
lung des  Unterleibs,  die  vor  und  nach  dem  Anfalle  ihren 
höchsten  Grad  erreichte,  beobachtet.  Eine  Kranke  litt  von 
Zeit  zu  Zeit  an  Anfällen  einer  Art  Schlafsucht  mit  lebhaften 
Träumen,  aus  welcher  sie  nur  mit  Mühe  erweckt  werden 
konnte. 

Aetiologisch  bedeutsam  zeigten  sich  am  häufigsten 
die  psychischen  Eindrücke , Schreck,  Zorn,  Aerger  u.  s.  w. 
Ein  eilfjähriges  Mädchen  verfiel  in  Epilepsie , nachdem  es 
in  der  Schule  öffentlich  gezüchtigt  worden.  Hereditäre 
Anlage  liess  sich  in  mehreren  Fällen  feststellen , beson- 
ders bei  einer  32jährigen  Frau,  deren  Vater  und  sämmt- 
liche  Schwestern  epileptisch  Avaren.  Mitunter  zeigte  sich 
Reizung  der  Intestinalschleimhaut  durch  Würmer  als  Ur- 
sache der  Krankheit.  Eine  dieser  Kranken  litt  seit  drei 
Jahren  an  epileptischen  Anfällen,  Avelche  allen  bisher  versuch- 
ten Mitteln  Trotz  geboten  hatte.  Der  Abgang  einiger  Stücke 
der  l aenia  veranlasste  die  Anwendung  des  Extr.  Spirit.  Fi- 
licis  maris,  worauf  beträchtliche  Massen  des  Bandwurms 


42 


entleert  wurden,  und  die  epileptischen  Anfälle  nicht  allein 
vollständig  verschwanden,  sondern  auch  die  schon  geschwäch- 
ten Geisteskräfte  ihre  frühere  Energie  allmählig  wiederge- 
wannen. 

Plethora  in  Folge  unterdrückter  Blutungen  zeigte  sich 
nur  in  wenigen  Fällen  von  ätiologischem  Einflüsse,  z.  B. 
bei  einer  56jährigen  Frau,  welche  nach  der  im  55sten  Jahre 
erfolgten  Cessation  der  Catamenien  in  epileptische,  nur  zur 
Nachtzeit  eintretende  Krämpfe  verfiel.  Der  späte  Ausbruch 
der  Epilepsie  bei  dieser  Kranken  ist  bemerkenswerth,  da  sich 
unter  66  von  Cazauvieilh  verglichenen  Fällen  die  Krankheit 
nur  einmal  zwischen  dem  55sten  und  60sten  Lebensjahre  ent- 
wickelt hatte.  Die  bedeutende  Beeinträchtigung  der  psychischen 
Energie,  eine  allmählige  Abnahme  des  Seh-  und  Hörvermö- 
gens, ein  anhaltender  heftiger  Schwindel  und  das  Unvermögen, 
sich  ohne  fremde  Hülfe  aufrecht  zu  erhalten,  deuten  indess 
darauf  hin,  dass  in  diesem  Falle  organische  Veränderungen 
im  Centralheerde  der  Krankheit  zu  Grunde  hegen  mögen. 

In  den  Fällen,  wo  man  keine  Causalindication  zu  erfül- 
len hatte,  versuchte  man  die  Krankheit  durch  Mittel,  wie 
Valeriana,  Zincum  sulphuricum,  Argentum  nitricum  zu  be- 
kämpfen. Allein  keines  derselben  darf  sich  eines  glücklichen 
Erfolgs  rühmen.  Der  Höllenstein  stört  sogar  oft  (he  Ver- 
dauung, was  man  durch  eine  Verbindung  mit  bittern  Extrak- 
ten, selbst  mit  etwas  Opium,  verhüten  kann. 

Die  Beziehung  zwischen  chronischen  Hautkrankheiten 
und  Epilepsie  war  bei  zwei  Kranken  entschieden  ausgespro- 
chen. Ein  zwölfjähriges  Mädchen  hatte  bis  zum  vierten  Jahre 
an  impetiginösen  Kopfausschlägen  gehtten,  nach  deren  plötz- 
lichem Verschwinden  die  Epilepsie  ausgebrochen  war.  Seit 
dieser  Zeit  hatten  die  Anfälle  mit  kurzen  Unterbrechungen, 
die  in  der  Kegel  mit  einem  neuen  Ausbruche  der  Impetigo 
zusammenfielen,  fortbestanden.  Blödsinn  und  lähmungsartige 
Schwäche  der  linken  Körperhälfte  deuteten  ein  tiefes  Ergrif- 
fensein  des  Gehirns  an;  allein  selbst  der  sorgfältigsten,  mit 
Berücksichtigung  der  Causalindication  angestellten  Behänd- 


43 


hing  gelang  es  nicht,  eine  auch  nur  geringe  Besserung  her- 
beizuführen. Günstiger  war  der  Ausgang  im  zweiten  Falle. 
Er  betraf  einen  45jährigen  Mann,  welcher  in  der  Jugend  an 
einer  sclmell  unterdrückten  Scabies  gelitten  hatte.  Seit  sie- 
ben Jahren  wurde  er  durch  Anfälle,  welche  anfangs  nur 
während  des  Schlafes,  später  auch  im  wachen  Zustande  ein- 
traten, und  eine  bedeutende  Schwäche  des  Gedächtnisses  zur 
Folge  hatten,  belästigt.  Die  Angabe  des  Kranken,  dass  sich 
von  Zeit  zu  Zeit  ein  papulöser  Ausschlag  auf  seinem  Kör- 
per zeige,  der,  wenn  er  in  voller  Blütlie  stehe,  die  Häufig- 
keit und  Intensität  der  epileptischen  Anfälle  auffallend  min- 
dere , musste  vorzugsweise  in  therapeutischer  Hinsicht  auf- 
gefasst werden,  und  es  wurden  demgemäss  Bäder  mit  Kali 
sulphuratum,  und  Einreibungen  verschiedener  Körperstellen 
mit  einem  Linimente  aus  Crotonöl  verordnet.  Zum  innern 
Gebrauche  müde  ein  schon  von  den  Alten  in  solchen  Fällen 
sehr  gerühmtes  Mittel  verordnet,  die  Tinct.  Jacobi  (Liquor 
Saponis  stibiati),  deren  Gebrauch  von  15  Tropfen  an,  in  stei- 
gender Dosis  bis  zu  25 — 30  Tropfen,  lange  Zeit  fortgesetzt 
wurde.  Diese  Behandlung  hatte  den  glücklichsten  Erfolg, 
denn  der  Kranke,  dessen  Anfälle  früher  fast  alle  14  Tage 
wiederkehrten,  ist  jetzt  schon  ein  volles  Jahr  von  denselben 
verschont  gebheben.  Von  erheblichem  Interesse  ist  auch  die  Kiu* 
eines  eilfjährigen  scrophulösen  Knaben,  der  seit  einem  Jahre 
an  der  Epilepsie  mit  Paresis  der  rechten  Kumpfglieder  und 
Dementia  litt,  so  dass  der  Schullehrer  auf  seine  Entfernung 
aus  der  Schule  bestand.  Viele  Mittel  waren  bereits  ohne 
Erfolg  gebraucht.  Die  Schädelknochen  zeigten  einen  bedeu- 
tenden Grad  von  Hypertrophie,  und  mit  Rücksicht  auf  die 
scrophulöse  Basis  wurde  das  Jodeisen  (zu  | Gran  in  steigender 
Gabe  bis  zu  j Gr.  2 Mal  täglich)  und  ein  Setaceum  in  den 
Nacken  verordnet.  Schon  nach  wenigen  Wochen  trat  eine 
auffallende  Besserung  ein.  Nach  einem  Vierteljahre  war  die 
Lähmung  gehoben , die  Intcllektualität  entwickelte  sich  , ehe 
epileptischen  Anfälle  kehrten  nicht  wieder.  Zwei  Jahre  nach- 


44 


her  wurde  der  Knabe  im  Besitze  einer  ungestörten  Gesund- 
heit, physischen  und  geistigen,  vorgestellt. 

Ein  so  entschiedener  Erfolg  des  eingeschlagenen  Heil- 
verfahrens bleibt  zumal  in  einer  Krankheit , welche  zu  den 
widerspenstigsten  gehört,  immer  erfreulich.  Doch  sei  damit 
noch  keineswegs  schon  jede  Besorgniss  eines  Recidivs  ver- 
bannt. Wie  häufig  die  epileptischen  Anfälle  grosse  Pausen 
machen,  und  dadurch  zur  irrigen  Annahme  einer  völligen 
Genesung  verleiten,  ist  nur  zu  bekannt,  und  wurde  anch  in 
der  Poliklinik  leider  nicht  selten  beobachtet.  Ein  gesunder 
Knabe  hatte  durch  Schreck  in  seinem  zehnten  Jahre  epilep- 
tische Anfälle  bekommen,  welche  regelmässig  zu  einer  be- 
stimmten Abendstunde  eintraten,  nach  einiger  Zeit  aber  von 
selbst,  ohne  ärztliche  Hülfe  verschwanden,  so  dass  sich  die 
Eltern  der  Hoffnung  einer  vollständigen  Heilung  des  Kindes 
hingaben.  Im  zwölften  Jahre  wurde  der  kleine  Kranke  in 
der  Klinik  vorgestellt.  Seit  Her  Wochen  litt  er  an  einem 
heftigen,  mit  Uebelkeit,  mitunter  auch  mit  Erbrechen  ver- 
bundenen Stirnschmerze.  In  diesem  Zustande  hatte  er  beim 
Schlittschuhlaufen  einen  Fall  auf  den  Kopf  gethan,  und  noch 
an  demselben  Tage  brach  die  Epilepsie  von  neuem  aus,  imd 
machte  regelmässig  alle  Abende  zwischen  10  und  11  Uhr, 
wenn  der  Knabe  eben  einschlafen  wollte,  ihre  Anfälle.  Koch 
weit  grösser  war  das  Intervall  in  einem  andern  Falle,  wo 
indess  eine  hereditäre  Anlage  nicht  zu  verkennen  war.  Der 
Kranke  hatte  von  seinem  6ten  bis  zum  13ten  Jahre  an  epi- 
leptischen Anfällen  gelitten.  Allmählig  verschwanden  die- 
selben, der  Kranke  war  im  Stande  Militairdienste  zu  nehmen, 
und  blieb  auch  bis  zum  33ten  Jahre  vollkommen  gesund. 
Allein  zu  dieser  Zeit,  nach  einem  20jährigen  Intervall,  brach 
die  furchtbare  Krankheit  nach  einem  heftigen  Aerger  von 
neuem  und  zwar  mit  einer  die  frühere  weit  iibertreffenden  In- 
tensität hervor. 

Das  typische  Auftreten  der  Paroxysmen  im  vorletzten 
Falle  ist  der  Beachtung  werth.  Bei  einem  jungen  Mädchen 


traten  die  Anfälle  im  Beginn  der  Krankheit  einen  Tag  um 
den  andern  pünktlich  um  5 Uhr  Abends  auf ; das  Chinin  hatte 
aber  nur  den  Eifolg  diesen  regelmässigen  Typus  zu  verwi- 
schen. Eine  andere  Kranke  bekam  ihre  Anfälle  alle  vier 
Wochen,  zur  Zeit  des  Neumondes.  Jeder  Paroysmus  dauerte 
24  Stimden,  so  zwar,  dass  während  dieser  Zeit  zwölf  Krampf- 
anfälle eintraten,  die  durch  ein  fast  zweistündiges  soporöses 
Stadium  von  einander  getrennt  waren.  Bemerkenswerth  ist, 
dass  nur  nach  dem  vollständigen  Ablaufe  eines  solchen  Pa- 
roxysmus  Wohlbefinden  eintrat,  in  dem  Falle  aber,  dass  nicht 
alle  zwölf  Anfälle  erfolgten,  die  Kranke  noch  mehrere  Tage 
über  ein  Gefühl  der  Unbehaglichkeit  und  Angst  klagte,  bis 
die  fehlenden  Anfälle  eingetreten  waren.  *) 

Unter  den  durch  isolirte  Erregung  einzelner  Nerven 
bedingten  Krämpfen  verdient  der  Fall  einer  65jährigen  Frau 
besondere  Erwähnung.  Die  Kranke  hatte  vor  mehreren  Jahren 
am  mimischen  Gesichtskrampf  gelitten,  der  indess  ohne  ärzt- 
liche Hülfe  nach  und  nach  verschwunden  war.  Vor  einem 
Jahre  verfiel  sie  in  ein  schweres  gastrisch  - nervöses  Fieber, 
von  welchem  sie  zwar  hergestellt  wurde,  aber  einen  kloni- 
schen Krampf  der  Masseteren  zurückbehielt.  Sie  leidet  jetzt 
an  einem  anhaltenden,  nur  zur  Nachtzeit  pausirenden  Zähne- 
klappem,  welches  gegen  Abend  einen  so  hohen  Grad  erreicht, 
dass  der  ganze  Kopf  dadurch  erschüttert  wird.  Die  rechte 
Seite  ist  stärker  afficirt  als  die  linke.  Die  aufgelegte  Hand 
fühlt  deutlich  die  stossweise  Zusammenziehung  der  Massete- 

*)  Aehnliclies  habe  ich  bei  einem  jungen  epileptischen,  vom  Professor 
Romberg  behandelten  Manne  beobachtet,  den  ich  auf  einer  Badereise 
nach  Helgoland  begleitete.  Während  die  Anfalle  früher  zu  unbestimmter 
Zeit,  bald  mit  längerem,  bald  mit  kürzerem  Intervall  aufgetreten  waren, 
nahmen  sie  während  des  Gebrauchs  der  Seebäder  einen  bestimmten  Ty- 
pus an.  Sie  erfolgten  stets  am  siebenten  Tage  zwischen  S und  8l/2  Uhr 
Morgens,  und  zwar  mit  einer  solchen  Regelmässigkeit,  dass  ich  unter  ver- 
schiedenem Vorwände  den  Kranken  stets  dazu  bewog,  an  dem  betreffen- 
den Morgen  bis  gegen  8‘/2  Uhr  im  Bette  zu  bleiben,  um  wo  möglich  Ver- 
letzungen, die  durch  das  Nicdcrfallen  herbeigefiihrt  werden  konnten , zu 
vermeiden.  Nachdem  der  Kranke  aus  dem  Bade  zurückgekehrt  war,  ver- 
lor sich  auch  dieser  bestimmte  Typus  der  Anfälle  wieder.  Dr.  H. 


4 (i 


ren,  während  die  Temporal-  und  mimischen  Gesichtsmuskeln 
im  Zustande  der  Ruhe  verharren.  Schmerzhafte  Empfin- 
dungen im  Gesichte  fehlen,  entstehen  nur  gegen  Abend  bei 
grosser  Intensität  der  krampfhaften  Bewegungen.  Bemer- 
kenswerth ist  das  Nachlassen  der  letzteren  während  des  Rau- 
ens. Mit  Ausnahme  der  vorangegangenen  acuten  Krankheit 
lässt  sich  in  ätiologischer  Hinsicht  nichts  auffinden.  Die 
Zähne  haben  sich  bei  der  Untersuchung  als  ganz  gesund  er- 
wiesen. Bei  diesem  Mangel  einer  Causalindication  unterliegt 
die  Behandlung  den  grössten  Schwierigkeiten,  und  die  auf 
den  Ramus  massetericus  der  motorischen  Portion  des  Quin- 
tus  beschränkte  Affection  besteht  trotz  vieler  Ileil versuche 
noch  jetzt  unverändert  fort. 

Krampfhafte  Erregung  des  Oculomotorius  und  der  Palpe- 
braläste  des  Facialis  zeigte  sich  gleichzeitig  bei  einem  zwölf- 
jährigen Knaben  unter  der  Form  des  Nystagmus  und  der 
N i c t ita  t i o.  Der  Abgang  von  Helminthen  lenkte  den  Ver- 
dacht auf  Reizung  des  Darmkanals  und  veranlasste  die  An- 
wendung anthelminthischer  Mittel,  namentlich  des  Electuar. 
anthelminth.  Pli.  p.  Nach  dem  Abgänge  grosser  Mengen  des 
Oxyuris  und  einiger  Lumbrici  minderten  sich  die  krampfhaf- 
ten Bewegungen,  welche  durch  Fomentationen  der  Augenlie- 
der mit  einer  Boraxsolution  (nj  in  ^iv  Wasser)  gänzlich  be- 
seitigt wurden. 

Epidemieen  des  Keuchhustens  gehörten  nicht  zu  den 
Seltenheiten.  Diejenige  des  Sommers  1844  zeichnete  sich 
dadurch  aus,  dass  sie  weit  häufiger  als  sonst  geschieht,  sehr 
zarte,  erst  einige  Monate  alte  Kinder  befiel.  Von  der  An- 
sicht einer  Reizung  des  Vagus  durch  Schwellung  der  Tra- 
cheal-  und  Bronchialdrüsen  ausgehend,  wurde  eine  Zeitlang 
der  äussere  und  innere  Gebrauch  des  Jods  versucht,  wegen 
seiner  Erfolglosigkeit  bald  wieder  aufgegeben.  Das  in  der 
Poliklinik  übliche  Verfahren  bei  dieser  Krankheit  war  ein  rein 
exspektatives.  Bei  der  gänzlichen  Unwirksamkeit  aller  bis- 
her versuchten  Mittel  beschränkte  man  sich  darauf,  drohende 
Complicationen,  zumal  Bronchitis,  zu  verhüten,  und  wo  sie 


47 


vorhanden  war , zu  beseitigen,  ohne  auf  den  Keuchhusten 
selbst  Rücksicht  zu  nehmen.  Gastrische  Complication  erfor- 
derte die  Anwendung  der  Brechmittel,  die  hier  um  so  besser 
wirken,  als  erfahrungsgemäss  diejenigen  Kinder,  welche  im 
Hustenanfalle  brechen,  die  Krankheit  weit  leichter  ertragen 
als  andre.  Auch  ein  schwacher  Aufguss  der  Ipecacuanha 
mit  schleimigem  Zusatze  ist  als  beruhigendes  Mittel  zu  em- 
pfelüen.  ' 

2.  Äcineses. 

L ä h m unge  n. 

1.  Die  Paralyse  des  Antlitznerven,  welche  un- 
ter allen  Lähmungen  am  häufigsten  beobachtet  wurde,  betraf 
je  nach  der  Natur  und  dem  Sitze  des  Anlasses  bald  nur  ein- 
zelne Filamente,  bald  den  ganzen  Stamm  des  Nerven. 

Der  gewöhnliche  Anlass  war  der  rheumatische,  der 
auch  im  kindlichei)  Lebensalter  wohl  zu  beachten  ist.  Bei 
einem  zehnjährigen  Mädchen  zeigte  sich  eine  schon  seit  neun 
Jahren  bestehende  vollständige  Lähmung  des  rechten  Ant- 
litznerven, welche  dadurch  veranlasst  worden  war,  dass  die 
Amme  das  schlummernde  Kind  aus  der  warmen  Wiege  ge- 
nommen,  und  bei  strenger  Winterkälte  über  die  Strasse  ge- 
tragen hatte.  Unmittelbar  darauf  gab  sich  die  Lähmung  kund. 
In  einem  andern  Falle  waren  rheumatische  Schmerzen  in  den 
Gliedern  mehrere  Wochen  vorausgegangen,  als  die  Kranke, 
beim  Versuche  Feuer  anzublasen,  plötzlich  die  Lähmung  be- 
merkte. Das  Entweichen  der  Luft  aus  dem  Mundwinkel 
der  gelähmten  Seite  machte  es  ihr  immöglich,  ihr  Vorhaben 
auszuführen.  In  diesem  Falle  beschränkte  sich  jedoch  die 
Paralyse  auf  die  zu  den  Muskeln  des  Nasenflügels  und  der 
Lippen  gehenden  Nervenzweige:  die  Palpebraläste,  sonst  so 
häufig  der  Sitz  der  rheumatischen  Lähmung,  waren  im  unge- 
störten Besitze  ihrer  Motilität. 

Die  frischen  Fälle  der  rheumatischen  Gesichtslähmung 
wichen  gewöhnlich  einer  antirheumatischen  Behandlung  und 
der  Application  eines  Blasenpflasters  zwischen  Process.  ma- 


48 


stoid.  und  Kieferwinkel  der  gelähmten  Seite.  Bei  zwei  Kranken 
zeigte  sich  der  innere  Gebrauch  des  Sublimats  von  entschie- 
dener Wirksamkeit.  Viel  schwieriger  ist  die  Kur  in  einge- 
wurzelten Fällen,  zumal  wenn  die  Zeit  mit  der  Anwendung 
unnützer,  ja  nicht  selten  schädlicher  Mittel  verschwendet 
worden  ist.  Zu  welchen  Missgriffen  eine  unrichtige  Diagnose 
solcher  Fälle  verleiten  kann , und  wie  mächtig  das  sorgfäl- 
tige, physiologisch  begründete  Studium  der  Nervenkrankhei- 
ten in  die  ärztliche  Praxis  eingreift,  lehrt  besonders  der  eben 
erwähnte  Fall  des  zehnjährigen  Mädchens,  welches  in  ihrem 
ersten  Lebensjahre  von  der  Krankheit  befallen  worden  war. 
Die  hinzugerufenen  Aerzte  hatten  den  peripherischen  Ur- 
sprung der  Lähmung  verkannt,  und,  in  der  Voraussetzung  ei- 
ner wichtigen  Krankheit  des  Centralorgans , die  kleine  Pa- 
tientin lange  Zeit  mit  Blutentleerungen,  kalten  Sturzbädern, 
starken  Ableitungen  auf  den  Darmkanal  gemartert,  und  ihre 
Kräfte  erschöpft.  Ja,  ein  anderer  Arzt  hatte,  durch  das  Ver- 
ziehen des  Mundwinkels  nach  der  gesunden  Seite  verleitet, 
die  letztere  für  die  kranke  gehalten,  und  alle  Mittel  gegen 
diese  gerichtet.  Bei  einer  neunjährigen  Dauer  der  Paralyse 
durfte  man  sich  von  gewölmlichen  Mitteln  keinen  Erfolg  mehr 
versprechen,  und  die  Kranke  wurde  deshalb  der  elektro- ma- 
gnetischen Behandlung  unter  Leitung  des  Herrn  Professor 
Fkokiep  unterworfen.  Nachdem  diese  Behandlung  33  Wo- 
chen lang  fortgesetzt  worden  war,  zeigte  sich  die  Besserung 
so  weit  vorgeschritten,  dass  nur  noch  der  rechte  Nasenflügel 
und  der  Muse,  frontalis  nicht  so  leicht  beweglich,  wie  die 
der  gesunden  Seite  waren. 

Auch  mechanische  Anlässe  an  der  Gesichtsfläche  zeig- 
ten sich  in  einigen  Fällen  von  ätiologischer  Bedeutung.  Bei 
einer  alten  Frau  war  der  linke  Antlitznerv  durch  Narben, 
die  sich  in  Folge  tief  gelegener  Drüsenabscesse  in  der  Nähe 
des  Foramen  stylomastoideum  und  vor  dem  äussern  Ohre 
gebildet  hatten,  gelähmt  worden,  und  da  zugleich  der  Ra- 
mus temporalis  superficialis  des  Quintus  in  die  narbige  De- 
generation mit  hineingezogen  war,  fand  gleichzeitig  Anästhe- 


49 


sie  der  linken  Schläfengegend  bis  in  die  Nähe  des  Scheitels 
statt.  — Ein  neunjähriger  Knabe  war  bei  einem  Mordver- 
suche von  einem  tief  eindringenden  Messerstiche  in  der  Ge- 
gend des  Fortunen  stylomastoideum  getroffen  worden.  Der 
N.  facialis  dieser  Seite  wurde  augenblicklich  gelähmt.  Nach 
Verlauf  mehrerer  Monate  hatte  sich  jedoch  die  Motilität  in 
den  Lippen-  und  Nasenzweigen  bereits  wieder  eingestellt. 

Anlässe,  welche  den  Facialis  in  seinem  Laufe  durch  das 
Felsenbein  beeinträchtigen,  waren  öfters  Ursache  der  Läh- 
mung, vor  allen  die  Tuberculose  (Caries)  des  Felsen- 
beins, die  im  Stadium  der  Erweichung  Destruktion  des  Fal- 
lopischen  Canals  und  des  durchstreichenden  Antlitznerven 
herbeiführt.  Ahe  Fähe  dieser  Art  betrafen  das  kindliche 
Lebensalter.  Bei  sehr  jungen  Kindern  hess  sich  im  ruhigen 
Zustande  kaum  eine  Veränderung  der  Gesichtszüge  wahr- 
nelunen,  aber  das  Hervorrufen  irgend  einer  Aeusserung  des 
Affekts,  z.  B.  des  Schreiens  durch  Compression  des  Unter- 
leibs, war  hinreichend,  um  augenblicklich  das  Missverhältniss 
zwischen  den  beiden  Gesichtshälften  hervortreten  zu  lassen. 
Diese  Art  der  Lähmung  charakterisirte  sich  vorzugsweise 
durch  folgende  drei  Momente.  1)  Das  Vorausgehen  einer 
Otorrhöe,  mit  welcher  nicht  selten  die  Gehörknöchelchen  ent- 
leert wurden.  In  einem  Fähe  brachte  die  Mutter  des  Kin- 
des den  Hammer  und  Amboss  mit  nach  der  Klinik.  2)  Die 
Krümmung  der  Uvula  nach  der  gelähmten  Seite.  Diese 
bisher  noch  wenig  beachtete  Erscheinung  zeigt  sich  in  allen 
Fällen  der  halbseitigen  Gesichtslähmung,  deren  Anlass  im 
Felsenbeine  seinen  Sitz  hat.  Sie  spricht  für  einen  wesent- 
lichen Einfluss  des  N.  faciahs  auf  die  Motihtät  der  LTvula, 
und  hat  wahrscheinlich  darin  ihren  Grund,  dass  der  Nervus 
petrosus  superficialis  major,  welcher  das  sogenannte  Knie  des 
I acialis  im  Fallopischen  Kanal  mit  dem  Ganglion  splienopa- 
latinum  in  Verbindung  setzt,  nicht  sowohl  aus  dem  letzteren 
zum  Facialis  geht,  sondern  vielmehr  als  Zweig  des  Faciahs, 
der  sich  in  das  Gaumensegel  verbreitet,  zu  betrachten  ist.  Die 
Krümmung  des  Zäpfchens  nach  der  gelähmten  Seite  hin 

4 


50 


findet  ihr  Analogon  in  der  Stellung,  welche  die  Zunge  in 
Ilemiplegieen  anzunehmen  pflegt.  3)  Taubheit  auf  dem  Ohre 
der  leidenden  Seite,  mag  sic  nun  durch  Ausstossung  der  Ge- 
hörknöchelchen, oder  durch  Beeinträchtigung  des  dem  Facialis 
nahe  liegenden  Acusticus  bedingt  sein. 

Auch  entzündliche  Processe  im  Innern  des  Felsen- 
beins können  die  Lähmung  des  Antlitznerven  veranlassen, 
wofür  der  folgende  Fall  als  Beispiel  dienen  mag. 

Ein  gesunder  38jähriger  Mann  hatte  sich  vier  Tage  vor 
seiner  Meldung  in  der  Klinik  durch  kaltes  Waschen  des 
schwitzenden  Kopfes  eine  heftige  Erkältung  zugezogen. 
Abendliche  Fieberbewegungen,  und  ein  tiefsitzender,  dumpfer 
Schmerz  im  linken  Ohre  stellten  sich  ein,  und  das  Hörver- 
mögen desselben  nahm  merklich  ab.  Der  Kranke,  der  sich 
seit  zwanzig  Jahren  einer  ungetrübten  Gesundheit  erfreut 
hatte,  würde  indess  diese  Symptome  wenig  beachtet  haben, 
hätte  er  nicht  beim  Versuche  zu  pfeifen  plötzlich  die  über- 
raschende Bemerkung  gemacht,  dass  die  Unmöglichkeit  den 
linken  Mundwinkel  fest  zu  schliessen  und  das  Ausströmen 
der  Luft  aus  demselben  ihn  daran  verhinderte.  Die  klini- 
sche Untersuchung  ergab  eine  vollständige  Lähmung  aller 
vom  linken  Facialis  versorgten  Muskeln,  während  die  Sensi- 
bilität und  die  masticatorischen  Bewegungen  nicht  die  ge- 
ringste Störung  erlitten  hatten.  Die  Uvula  war  stark  nach 
der  linken  Seite  gekrümmt.  Der  Schmerz  in  der  Tiefe  des 
linken  Ohrs  und  die  Schwerhörigkeit  bestanden  nicht  allein 
fort,  sondern  hatten  sich  seit  dem  Beginn  der  Krankheit  be- 
deutend gesteigert.  Die  Anamnese  dieses  Falls  sprach  zwar 
für  einen  rheumatischen  Anlass  der  Paralyse,  dass  aber  die- 
ser den  Nerven  nicht  in  seinen  Gesichtsramificationen , son- 
dern in.  seinem  Laufe  durch  den  Fallopischen  Kanal  getrof- 
fen hatte,  wurde  durch  die  Schiefstellung  der  Uvula,  den 
Schmerz  in  der  Tiefe  des  Ohrs  und  die  Schwerhörigkeit 
ausser  Zweifel  gesetzt.  Wahrscheinlich  hatte  sich  eine  An- 
schwellung (Periostitis)  der  das  Innere  des  Labyrinthes  aus- 
kleidendon  Membran  in  Folge  des  rheumatischen  Einflusses 


51 


gebildet,  wodurch  der  Facialis  und  Acusticus  comprimirt  und 
ihrer  Leitungsfähigkeit  beraubt  wurden.  Dieser  Annahme 
gemäss  wurden  acht  Blutegel  hinter  das  linke  Ohr  gesetzt, 
und  die  Nachblutung  mehrere  Stunden  unterhalten.  Die  fer- 
nere Behandlung  bestand  aus  Einreibungen  der  grauen  Queck- 
silbersalbe und  dem  innern  Gebrauch  einer  Verbindung  der 
Magnesia  sulphurica  mit  Tinctura  Seminum  Colchici.  Schon 
nach  wenigen  Tagen  war  die  Motilität  in  den  Stirn-  und 
Ringmuskel  der  Augenlider  zurückgekehrt,  Schmerz  und 
Schwerhörigkeit  hatten  bedeutend  nachgelassen.  Acht  Tage 
nach  dem  Beginn  der  Kur  war  keine  Spur  von  Entstellung 
im  Gesicht  wahrzunehmen,  nur  die  Uvula  hatte  ihre  normale 
Stellung  noch  behalten;  allein  auch  diese  verschwand  und 
der  Kranke  konnte  nach  vierzehn  Tagen  als  vollständig  ge- 
heilt aus  der  Behandlung  entlassen  werden. 

Die  Krümmung  der  Uvula  ist  besonders  in  Fällen , wo 
der  Sitz  der  Krankheit  zweifelhaft  sein  könnte,  ein  werth- 
volles Symptom.  Ein  achtjähriges  Mädchen  litt  bereits  seit 
ihrer  Kindheit  an  einer  Lähmung  des  linken  N.  facialis  in 
seinem  ganzen  Umfange.  Tiefe  Schnittnarben  in  der  Nähe 

o o ^ 

des  Foramen  stylomasrtoideum  konnten  leicht  zu  dem  Glau- 
ben verleiten,  dass  in  ihnen  der  Grund  der  Paralyse  läge, 
allein  die  sehr  auffallende  Krümmung  der  Uvula  nach  der 
gelähmten  Seite  richtete  den  Verdacht  auf  einen  im  Innern 
des  F elsenbeins  verborgenen  Anlass,  und  die  Mittheilung  der 
Mutter,  dass  das  Kind  im  siebenten  Monate  an  einer  starken 
Otorrhoe  des  linken  Ohrs  gelitten  hätte,  mit  welcher  kleine, 
eigentümlich  geformte  Knochenstücke  abgegangen  wären, 
bestätigte  diese  Annahme  vollkommen.  *) 

2.  Zungenlähmung.  Diese  Krankheit  kam,  unab- 
hängig von  apoplektischen  Zuständen,  nur  einmal  zur  Beob- 


*)  Bei  der  Vorstellung  dieses  Kindes  in  der  Klinik  zeigte  sich,  im 
Widerspruche  mit  den  übrigen  Symptomen  einer  Lähmung  des  linken  Fa- 
cialis , der  Mund  nach  links  verzogen.  Der  Grund  war  aber  nur  ein 
mechanischer,  indem  eine  scrophulöse,  später  sich  abscedirende  Anschwel- 
lung der  rechten  Wange  den  Mund  nach  links  hinübcrgedriiugt  hatte. 

4 * 


52 


achtung:  die  69jährige  Kranke  wurde  zuerst  am  8.  Mai  1843 
in  der  Klinik  vorgestellt.  Nachdem  längere  Zeit  heftige  rcissende 
Schmerzen  im  Hinterkopf  und  Nacken  vorausgegangen,  hatte 
sie  ungefähr  vor  zwei  Monaten  ein  erschwertes  Sprechen  be- 
merkt. Sie  fing  an  zu  stammeln,  die  Deglutitionsbewegun- 
gen  gingen  nicht  mein*  mit  der  gewohnten  Energie  von  Stat- 
ten, und  ein  reichlicher  Speichelausfluss  stellte  sich  ein.  Bei 
der  Untersuchung  zeigte  sich  sogleich  eine  auffallende  Ver- 
änderung: die  Zunge  war  nicht  allein  im  Verhältnis  zu  ih- 
rem natürlichen  Umfange  geschwunden,  sondern  hatte  auch 
ihr  glattes,  ebenes  Ansehn  verloren,  indem  sie  stellenweise 
Falten  und  Runzeln  bildete.  Merkwürdig  war  eine  perma- 
nente oscillirende  Bewegung  aller  Muskelbündel  der  Zunge, 
welche  die  Kranke  ausser  Stande  war  auf  -Geheiss  über  die 
untere  Zahnreihe  vorzustrecken.  Ebensowenig  waren  die  seit- 
lichen Bewegungen  und  das  Zurückziehen  noch  ausführbar,  so 
dass  die  Zunge,  bis  auf  die  vibrirenden  Bewegungen  ihrer 
Muskelbündel,  wie  ein  Keil  in  der  Mundhöhle  ruhte.  Hass 
diese  Störung  der  Motilität  eines  für  Mastication  und  De- 
glutition  so  wichtigen  Organs  auch  die  genannten  Processe 
wesentlich  beeinträchtigen  musste,  war  natürlich.  Die  Sen- 
sibilität der  Zunge  war  zwar  etwas  stumpfer  als  im  Normal- 
zustände, doch  wurden  Nadelstiche  deutlich  empfunden.  Ue- 
ber  ihr  Geschmacksvermögen  befragt,  gab  die  Kranke  stam- 
melnd zur  Antwort,  dass  ihr  alle  Speisen,  die  sie  genösse, 
den  nämlichen  Geschmack  erregten:  doch  wurde  (wie  sich 
bei  einem  späteren  Versuche  herausstellte)  die  Bitterkeit  des 
auf  den  hintern  Theil  der  Zunge  gestreuten  Coloquintenpul- 
vers  schnell  und  deutlich  percipirt.  Von  Zeit  zu  Zeit  em- 
pfand die  Kranke  reissende  Schmerzen  im  Gesichte,  und 
klagte  immer  über  ein  taubes,  spannendes  Gefühl  in  den 
Wangen  und  Lippen,  ohne  dass  die  Untersuchung  eine  Ab- 
nahme der  Sensibilität  nachwies.  Beim  tiefen  Druck  unter 
dem  Winkel  des  Unterkiefers,  wo  der  N.  hypoglossus  seinen 
Lauf  nimmt,  empfand  sie  auf  beiden  Seiten  Schmerz.  Sonst 
war,  mit  Ausnahme  der  durch  die  mangelhafte  Ernährung 


bedingten  Schwäche  und  Abmagerung  nichts  Krankhaftes 
wahrzunehmen. 

Schon  nach  der  ersten  Untersuchung  konnte  man  an 
einer  isolirteu,  von  einem  Leiden  des  Centralorgans  unab- 
hängigen Lähmimg  des  N.  hypoglossus  nicht  zweifeln.  Fälle 
dieser  Art  sind  ausserordentlich  selten,  und  der  vorliegende 
musste  um  so  grösseres  Interesse  erregen,  als  in  den  beiden 
ausserdem  bekannten  (s.  Dupuytren:  Lcc’ons  orales  T.  I. 
p.  199  imd  Prager  Vierteljakrsschrift  1845.  Heft  II. 
p.  98.)  die  Affektion  sich  nur  auf  eine  Zimgenhälfte  be- 
schränkte. Hier  zeigte  sich  die  ganze  Zunge  gleichmässig 
von  Lähmung  imd  Atrophie  befallen,  bei  gleichmässiger  In- 
tegrität des  Geschmacks  und  Gefühls.  Man  musste  demnach 
ein  peripherisches  Leiden  beider  X.  hypogiossi  annchmen. 

Schwieriger  ist  es,  den  Sitz,  unmöglich,  die  Natur  des 
lähmenden  Anlasses  in  diesem  Falle  zu  bestimmen.  Die  ob- 
wohl bis  ins  Kleinste  gehende  Aehnlichkeit  der  Symptome 
berechtigt  noch  nicht,  liier  die  gleiche  Ursache  wie  in  dem 
Falle  von  Dupuytren  anzunehmen,  wo  eine  Hydatide  den 
X.  hypoglossus  bei  seinem  Austritte  aus  dem  Foramen  con- 
dyloideum  posticum  comprimirt  imd  seiner  Leitungsfälligkeit 
beraubt  hatte.  Mit  Gewissheit  darf  man  jedoch  annehmen, 
dass  der  Sitz  des  Anlasses,  welcher  Art  er  auch  sein  möge, 
sich  auch  liier  an  der  Basis  cerebri  in  der  Nähe  der  Medulla 
oblongata  befindet,  wofür  noch  andre,  im  Verlaufe  der  Krank- 
heit hinzugetretene  Erscheinungen  sprechen.  Dass  jede  The- 
rapie in  einem  solchen  Falle  erfolglos  bleiben  würde,  liess 
sich  von  vom  herein  erwarten : in  der  That  ist  die  Lähmung; 
der  Zunge  jetzt  eine  vollständige  geworden,  die  Atrophie  hat 
bedeutende  Fortschritte  gemacht,  das  Sprachvermögen  ist 
gänzlich  erloschen,  und  nur  unarticulirte  Töne  bilden  die  Un- 
terhaltung der  Unglücklichen,  welche  die  Tochter  durch  Ue- 
bung  verstehen  gelernt,  und  dadurch  als  Dolmetscherin  zwi- 
schen der  Kranken  und  dem  Arzte  dienen  kann.  Die  Deglu- 
tition  ist  fitst  ganz  unmöglich;  nur  flüssige  Nahrungsmittel, 
theelöffcl weise  eingeflösst,  gelangen  unter  grossen  Anstren- 


gangen  der  Kranken  theilweise  in  den  Magen,  werden  aber 
grösstentheils  aus  Mund  und  Nase  wieder  ausgestossen.  Auf 
diese  Weise  ist  die  Unglückliche  der  Yerhungerung  ausge- 
setzt, wenn  nicht  die  Suffocationsanfälle , die  seit  einem 
Jahre  hizugetreten  sind,  ihrem  Leben  früher  ein  Ziel  setzen. 
Diese  Anfälle  deuten  auf  die  Theilnahme  eines  dem  N.  hy- 
poglossus  naheliegenden  Nerven,  des  Vagus,  zumal  sie  auch 
die  pfeifende,  mühsame  Inspiration,  die  so  häufig  in  lähmungs- 
artigen Zuständen  dieses  Nerven  beobachtet  wird,  nicht  ver- 
missen lassen.  Seit  einiger  Zeit  macht  sich  auch  in  den  unter 
der  Herrschaft  des  N.  accessorius  stehenden  Muskelbündeln 
des  Cucullaris  und  Sternocleidomastoideus  jene  oscillirende 
Bewegung  mit  Atrophie  verbunden  bemerkbar,  so  dass  die 
Unglückliche  kaum  noch  im  Stande  ist,  den  Kopf  aufrecht 
zu  halten. 

In  dem  beschriebenen  Falle  leidet  nicht  allein  die  masti- 
catorische,  sondern  auch  die  articulirende  Bewegung  der  Zunge ; 
häufiger  wird  die  letztere  allein  von  der  Lähmung  befallen, 
wodurch  Stammeln,  so  oft  Vorbote  oder  Ueberbleibsel  apo- 
plektischer  Anfälle,  entsteht.  In  dieser  Beziehung  verdient 
folgender  Fall  erwähnt  zu  werden: 

Ein  15 jähriger  SchifFerknabe  wurde,  im  Begriff  das  Se- 
gel aufzüziehen,  von  einem  losschnellenden  Tau  an  der  linken 
Seite  des  Kopfes  getroffen,  und  stürzte  augenblicklich  be- 
Avusstlos  zu  Boden.  Als  er  nach  Verlauf  einer  Viertelstunde 
wieder  zu  sich  kam,  bemerkte  man  eine  Lähmung  der  rechten 
Körperhälfte  und  vollkommenes  Unvermögen  zu  sprechen: 
die  Zunge  wurde  beim  Herausstrecken  aus  dem  Munde  nach 
der  gelähmten  Seite  hinübergezogen.  In  der  das  linke  Schei- 
telbein bedeckenden  Haut  zeigte  sich  eine  mehrere  Zoll  lange, 
stark  blutende,  bis  auf  den  Knochen  dringende  "VY  unde.  In 
Bernburg,  wo  sich  dieser  Unfall  ereignet  hatte,  genas  der  kleine 
Kranke  zwar  von  seiner  Hemiplegie,  doch  wollte  sich  die 
Sprache  nicht  wieder  einfinden,  und  der  Vater  benutzte  daher 
seine  Anwesenheit  in  Berlin,  in  der  Poliklinik  Kath  und 
Hülfe  zu  suchen.  Zur  Zeit  der  Vorstellung  des  Knaben,  am 


oo 


9.  Mni  1S-44,  waren  seit  der  Verletzung,  deren  Narbe  noch 
deutlich  zu  erkennen  war,  drei  Wochen  verstrichen.  Die 
Motilität  der  Extremitäten  war  vollkommen  wiederhergestellt, 
und  auch  die  Zunge  konnte  nach  allen  Eichtungen  ohne  Schwie- 
rigkeit bewegt  werden.  Dagegen  war  die  articulirende  Be- 
weffung  derselben  noch  immer  ganz  aufgehoben:  der  kleine 
Kranke  war  nicht  im  Stande  ein  einziges  Wort  hervorzu- 
bringen; nur  unarticulirte  Laute  wurden  mit  der  grössten 
Anstrengung  herausgestossen.  Die  Pupille  des  linken  Auges 
zeigte  im  Vergleich  mit  der  des  rechten  eine  beträchtliche 
Erweiterung,  reagirte  aber  gegen  den  Einfluss  des  Lichtes 
auf  normale  Weise.  Nach  Aussage  des  Vaters,  und  wie  der 
Kranke  selbst  durch  Geberden  zu  verstehen  gab,  fühlte  er 
noch  immer  eine  gewisse  Benommenheit  des  Kopfes,  die  sich 
zuweilen  zu  Schwindelanfällen  steigerte.  Sonst  Hessen  sich, 
mit  Ausnahme  einer  Neigung  zur  StuHverstopfung,  durchaus 
keine  krankhaften  Erscheinungen  auflinden.  Der  mechanische 
Anlass  der  Krankheit  im  V erein  mit  den  erwähnten  Sympto- 
men machte  die  Annahme  eines  Blutergusses  innerhalb  der 
Schädelhölile  un zweifelhaft.  WahrscheinKch  hatte  derselbe 

nicht  im  Gehirne  selbst,  sondern  zwischen  den  Membranen, 
und  zwar  auf  der  linken  Seite  seinen  Sitz,  durch  Kesorption 
aber  bereits  bedeutend  an  Umfang  verloren.  Theils  um  die 
letztere  zu  befördern,  theils  um  den  noch  vorhandenen  Con- 
gestionszustand,  der  sich  durch  Eingenommenheit  des  Kopfes 
und  durch  Schwindel  aussprach,  zu  beseitigen,  wurden  acht 
Blutegel  hinter  das  linkeOhr  apphcirt,  und  reichhcheNachblutung 
empfohlen.  Da  der  Kranke  bereits  am  folgenden  Tage  Berlin 
verhess,  so  wurde  dem  V ater  eingeschärft,  die  Blutentleerung 
von  vier  zu  Ger  Tagen  wiederholen  zu  lassen.  Zum  innern 
Gebrauch  ward  eine  Mischung  aus  Magnesia  sulphurica  *ß 
mit  Tartar,  emet.  gr.  iß  in  Acp  destill.  3 iv,  stündlich  einen 
Esslöffel  zu  nehmen,  verordnet.  Die  Furcht  vor  brechener- 
regenden Mitteln  bei  Blutergüssen  in  der  Schädelhölüe  ist 
übertrieben:  schon  Desault  und  Richter  behaupten,  dass 
Brechen  nach  Hirnerschüttcrungen  wohlthätig  wirke , und 


56 


Heim  gab  bei  frischer  Hämorrhagia  cerebri  den  Brechwein- 
stein mit  dem  glücklichsten  Erfolge.  Schon  am  folgenden 
Tage  fühlte  der  kleine  Kranke  den  Kopf  bei  weitem  leichter 
und  freier,  und  der  V ater,  dessen  Vertrauen  dadurch  wesent- 
lich erhöht  wurde,  versprach  die  Behandlung  nach  den  erhal- 
tenen Vorschriften  pünktlich  fortzusetzen.  Am  1.  Juni,  etwa 
drei  Wochen  nach  dem  Beginne  der  Kur,  fing  der  Knabe, 
zum  freudigen  Erstaunen  der  Eltern,  wieder  an  zu  sprechen, 
und  am  5.  wurde  er,  abermals  in  Berlin  anwesend,  als  voll- 
ständig geheilt  in  der  Klinik  vorgestellt. 

3.  Lähmung  des  N.  vagus.  Sie  wurde  häufig  als 
Symptom  der  tuberculösen  Anschwellung  der  Bronchialdrüsen 
im  kindlichen  Alter  beobachtet , und  wird  als  solches  mit 
dieser  Krankheit  zugleich  abgehandelt  werden.  Ausserdem 
wurden  Lähmungszustände  des  Vagus  zuweilen  im  Gefolge 
andrer  Neurosen,  zumal  der  Hysterie,  beobachtet.  Am  merk- 
würdigsten war  der  Fall  eines  24jährigen  Mädchens,  welches 
von  Zeit  zu  Zeit  von  einem  schmerzhaften  Druck  in  der 
Herzgrube  mit  Aufsteigen  einer  klaren  Flüssigkeit  längs  des 
Oesophagus  in  die  Mundhöhle  befallen  wurde.  Bei  jedem 
dieser  Anfälle  empfand  die  Kranke  einen  unwiderstehlichen 
Ileiz  zum  Husten  und  verlor  vollständig  dieStimme, 
die  erst  nach  Verlauf  von  vier  bis  sechs  Stimden  sich  wieder 
einzustellen  pflegte.  Bei  dieser  Kranken  war  mithin  gleich- 
zeitig eine  Affektion  der  gastrischen  und  respiratorischen 
Balm  des  Vagus  vorhanden,  welche,  wie  die  fernere  Unter- 
suchung ergab,  auf  allgemeiner  Anämie  und  Störung  der 
Uterinfunktionen  basirte.  Warme  Bäder,  der  innere  Gebrauch 
der  SrAiiL’schen  Pillen,  und  Einreibungen  des  01.  Croton. 
in  den  Hals  stellten  die  Kranke  wieder  her. 

4.  Lähmungen  der  Extremitäten. 

Die  durch  Bleivergiftung  bedingten  Lähmungen  tre- 
ten gewöhnlich  nach  vorausgegangenen  Fä  len  der  Bleikolik, 
seltener  als  primäre  AfFektionen  auf.  Das  Letztere  geschah 
bei  einer  32jährigen  Frau,  welche  dreizehn  Jahre  in  einer 
hiesigen  Schriftgiesserei  mit  dem  Schleifen  der  Buchstaben 


ohne  irgend  einen  Nacht  heil  für  ihre  Gesundheit  beschäftigt 
gewesen  war.  Uwe  Verhcirathnng  setzte  dieser  Arbeit  ein 
Ziel,  bis  nach  einer  siebenjährigen  Ehe  der  Tod  ihres  Man- 
nes sie  nöthigte,  von  neuem  ihre  frühere  Beschäftigung  auf- 
zunehmen. Acht  Tage  vor  ihrer  Anmeldung  in  der  Klinik 
hatte  sie  zuerst  eine  erschwerte  Beweglichkeit  der  rechten 
Hand  bemerkt,  welche  sich  nach  wenigen  Tagen  bis  zur  voll- 
kommenen Arbeitsunfähigkeit  steigerte.  Am  Tage  ihrer 
Vorstellung  zeigte  sich  eine  vollständige  Paralyse  der  Streck- 
muskeln der  rechten  Hand , bei  normaler  Thätigkeit  der 
Flexoren,  wodurch  die  für  die  Bleilähmung  charakteristische 
halbgebogene  Stellung  der  Finger  hervorgebracht  wurde. 
Beim  Kaltwerden  des  Armes  empfand  die  Kranke  heftige 
reissende  Schmerzen  in  .demselben.  Auch  ein  anderes,  bei 
Bleikrankheiten  häufig  vorkommendes  Symptom,  die  Span- 
nung und  Härte  des  Pulses,  fand  in  einem  hohen  Grade 
statt.  Auf  wiederholte  Fragen,  ob  sich  bei  ihr  jemals  Symptome 
der  Bleikolik  gezeigt  hätten,  antwortete  sie  stets  verneinend,  « 
und  blieb  bei  ihrer  Behauptung,  dass  dies  ihre  erste  Krank- 
heit sei.  Auffallend  war  eine  gewisse  geistige  Aufregung, 
die  sich  durch  Hast  der  Sprache  und  Geberden  kund  gab: 
ob  diese  aber  im  Charakter  der  Kranken  begründet,  oder, 
was  nicht  selten  vorkommt,  ein  Attribut  der  Bleivergiftung 
war,  muss  dahingestellt  bleiben.  Die  Behandlung  bestand 
in  lauwarmen  Bädern  mit  Zusatz  von  3 Unzen  Kali  sulphu- 
ratum,  die  um  den  andern  Tug  wiederholt  werden  sollten. 
Starke  Friktionen  des  leidenden  Arms  im  Bade  wurden  em- 
pfohlen. Zum  rnnem  Gebrauch  ward  Morgens  und  Abends 
7 gr.  Extract.  Nuc.  vomicae  spirituos.  verordnet.  Nach  drei- 
wöchentlicher Fortsetzung  dieser  Kur  war  die  Kranke  bereits 
im  Stande,  wieder  feine  Handarbeiten  vorzunehmen,  als  plötz- 
lich die  Lähmung  auch  die  Extensoren  der  linken  Hand  be- 
fiel. Die  Dosis  des  Extract.  Nuc.  vomic.  spirit.  wurde  auf 
\ Gran  erhöht  und  die  Behandlung  in  derselben  Art  fortge- 
setzt, bis  nach  Monatsfrist  alle  krankhafte  Erscheinungen 
verschwunden  waren. 


58 


Aehnliche  Lähmungen  einzelner  Muskelgruppen  wie  durch 
Bleivergiftung  kommen  auch  in  Folge  andrer  Anlässe,  na- 
mentlich des  rheumatischen  vor,  und  zeichnen  sich  ebenfalls 
durch  frühzeitige  Atrophie  der  Muskelsubstanz  aus.  In  fol- 
gendem Falle  fand  das  auffallende  Phänomen  der  Osciüation 
der  Muskelfasern  in  hohem  Grade  statt. 

Ein  3 5 jähriger  Tafeldecker  hatte  sich  bis  auf  die  im 
Jahre  18:24  überstandenen  Pocken  und  ein  drei  Jahre  darauf 
folgendes  Nervenfieber  stets  einer  guten  Gesundheit  erfreut. 
Am  19.  April  1842  setzte  er  sich  einer  starken  Erkältung 
aus,  indem  er  am  ganzen  Körper  schwitzend  in  einem  feuchten 
Garten  frühstückte,  und  dabei  dem  Weine  tüchtig  zusprach. 
Schon  am  folgenden  Tage  bemerkte  er  eine  auffallende 
Schwäche  im  Daumen  der  rechten  Hand,  die  sich  bald  auf' 
die  übrigen  Finger,  den  Arm  und  die  linke  obere  Extremität 
ausdehnte,  allmählig  zunahm,  und  zur  Zeit  der  Vorstellung 
des  Kranken  in  der  Klinik  in  einen  vollkommen  paralytischen 
. Zustand  beider  obern  Extremitäten  übergegangen  war.  Nach 
dem  Ablegen  der  Kleidungsstücke  zeigten  die  befallenen  Glieder 
einen  hohen  Grad  der  Abmagerung,  die  aber  nicht  sowohl 
einem  Schwinden  des  Fettes,  als  Gelmehr  einer  Atrophie  der 
gelähmten  Muskeln  beizumessen  war.  Sämmtliche  Streck - 
und  Beugemuskehi  des  Vorderarms,  der  Deltoideus,  Pecto- 
ralis  major,  Serratus  anticus  major,  befänden  sich  in  diesem 
Zustande,  so  dass  z.  B.  der  Biceps  sich  wie  ein  dünner 
Strang  anfühlen  liess.  Merkwürdig  war  dabei  eine  Vibration 
der  einzelnen  Muskelbündel,  vorzugsweise  im  grossen  Brust- 
muskel, Deltoideus,  Sternoclcidomastoideus,  Cucullaris,  den 
an  der  hintern  Fläche  des  Schulterblatts  hegenden  Muskeln, 
und  dem  Latissimus  dorsi.  Diese  Oscillationen,  welche  nicht 
allem  dem  Auge  des  Untersuchenden,  sondern  auch  dem  Ge- 
fühl des  Kranken  selbst  deutlich  bemerkbar  waren,  zeigten 
sich  zwar  permanent,  bald  in  diesem,  bald  in  jenem  Theile 
der  genannten  Muskeln,  nahmen  aber  auffallend  zu,  sobald 
der  Kranke  den  entblössten  Körper  dem  Einflüsse  der  kalten 
Luft  aussetzte.  Seit  einigen  Monaten  hat  auch  die  motorische 


59 


Kraft  der  untern  Extremitäten  und  der  Zunge  abgenommen; 
in  der  letzteren  sind,  wie  bei  der  zuvor  erwähnten  Kran- 
ken, die  Oscillationen  ebenfalls  bemerkbar,  und  stören  die 
Sprech-  und  Schlingbewegungen,  während  die  Gefühls-  und 
Geschmacksenergie  keine  Abweichung  vom  Normalzustände 
% darbietet.  Die  Sensibilität  der  gelähmten  Theile  ist  vollkom- 
men erhalten.  Wiederholte  Contracturen  des  Mittelfingers 
der  linken  Hand  giebt  der  Kranke  selbst  als  ein  belästigendes 
Symptom  an ; auch  will  er  zur  Nachtzeit  häufig  an  spastischen 
Zusammenziehungen  der  Wadenmuskeln  leiden,  denen  er  nur 
durch  festes  Anstemmen  der  Fusssohle  an  die  Bettpfosten 
begegnen  kann.  Die  Se-  und  Excretionen  sind  normal,  die 
Potentia  virilis  nicht  erloschen. 

Die  meisten  der  angeführten  Erscheinungen  machen  die 
Annahme  eines  Spinalleidens,  und  zwar  im  obem  Theile  des 
Rückenmarks,  wahrscheinlich,  doch  sind  genauere  Bestimmun- 
gen nicht  möglich.  So  mangelt  denn  auch  jeder  feste  Halt 
für  die  Therapie,  und  keine  Art  der  Behandlung  vermochte 
bisher  dem  Fortschritte  der  Krankheit  Schranken  zu  setzen. 

Hieran  reihet  sich  der  Tremo r,  wovon  mehrere  Fähe 
im  Klinikum  sich  darboten. 

Eine  Beschränkung  des  Tremor  paralyticus  auf  eine  Hälfte 
des  Körpers  winde  bei  einem  37  jährigen  Portier  beobachtet. 
Seit  drei  Jahren  leidet  er  an  anhaltendem  Zittern  und  ge- 
schwächter Motilität  der  linken  untern  Extremität,  woran  seit 
Jahresfrist  auch  der  linke  Arm  Theil  nimmt.  Ernährung: 
und  Sensibilität  der  befahenen  Glieder  sind  ganz  normal,  nur 
von  Zeit  zu  Zeit  werden  reissende  Schmerzen  in  ihnen,  so 
wie  in  den  Extremitäten  der  gesunden  Seite  empfimden,  mit 
jedesmahger  Steigerung  des  Tremor.  Alle  Funktionen  gehen 
ungestört  von  Statten,  und  mit  Ausnahme  früher  vorhandener, 
seit  mehreren  Jahren  aber  ausgebhebener  Hämorrhoidalblu- 
tungen lässt  sich  auch  anamnestisch  kein  Moment  auffinden, 
welches  mit  der  gegenwärtigen  Krankheit  in  Zusammenhang 
zu  bringen  wäre.  Eine  auf  jene  gerichtete  Behandlung  (Ap- 


60 


plication  von  Blutegeln  an  den  After,  Gebrauch  von  Schwe- 
felmitteln) hatte  zwar  während  einiger  Tage  guten  Erfolg, 
indem  der  Tremor  sich  mässigte,  allein  die  Besserung  war 
nicht  von  Bestand.  Später  wurden  mit  Rücksicht  auf  die 
rheumatische  Natur  der  Schmerzen,  und  auf  die  Erleichterung, 
Avelche  starke  Schweisse  dem  Kranken  gewährten,  russische 
Dampfbäder  verordnet,  ohne  jedoch  bisher  wesentlichen  Nutzen 
gestiftet  zu  haben. 

Weit  günstiger  war  der  Eifolg  derselben  bei  einer  2 i jäh- 
rigen Kranken,  welche  seit  mehreren  Monaten  an  einem 
Tremor  paralyticus  beider  obern  Extremitäten  litt.  Gleich- 
zeitig gaben  sich  entschiedene  Merkmale  der  rheumatischen 
Diathese  kund,  reissende  Schmerzen  im  Kopf  und  den  Ex- 
tremitäten, Neigung  zu  Schweissen,  Erleichterung  durch  starke 
Transpiration,  Sedimentbildung  im  Harn.  Schon  nach  sieben 
Dampfbädern  trat  eine  auffallende  Besserung  ein;  nach  län- 
gerem Gebrauch  derselben  verschwand  das  Zittern  vollstän- 
dig, und  nur  eine  ungewöhnliche  Kraftlosigkeit  der  Anne 
und  Hände  ist  noch  zurückgeblieben. 

Die  zuerst  von  Parkinson  unter  dem  Namen  Shaking 
palsy  oder  Paralysis  agitans  beschriebene  Krankheit 
wurde  in  der  Poliklinik  dreimal  beobachtet.  In  allen  Fällen 
zeigte  sich  als  diagnostisches  Kriterium  die  Verbindung 
des  heftigen  Tremor  mit  abnormer  Statik  der  Bewegun- 
gen. Die  beiden  ersten  Kranken  empfanden  einen  steten 
Drang  rückwärts  zu  gehen  oder  zu  fallen,  trugen  des- 
halb beim  Gehen  den  Kopf  immer  stark  nach  vorn  iiber- 
gebeugt;  der  eine  spreizte,  um  feststehen  zu  können,  die 
Beine  weit  auseinander,  indem  er  gleichzeitig  die  Arme  auf 
dem  Rücken  kreuzte,  in  der  Absicht,  durch  diese  Stellung 
dem  heftigen  Drange  zu  retrograden  Bewegungen  Widerstand 
zu  leisten.  Bei  einer  dritten  Kranken  fand  eine  Neigung 
nach  vorn  zu  fallen  statt.  Die  Kraft  der  Bewegungen  war 
in  allen  Fällen  merklich  vermindert,  die  Glieder,  nach  Aus- 
sage der  Kranken,  schwer  wie  Blei.  Bei  jeder  Bewegimg 


61 


\ 


-t 


nahm  der  Tremor,  der  sich  im  ersten  Falle  auch  auf  die 
Muskeln  des  Unterkiefers  erstreckte  und  das  Sprechen  sehr 
erschwerte,  bedeutend  zu. 

Bei  einem  Kranken  schien  die  Ursache  rheumatischer 
Natur  zu  sein : er  leitete  das  Uebel  von  dem  Augenblicke 
her,  wo  er  im  Jahre  1813  vor  Magdeburg,  von  den  Kosaken 
bei  schwitzender  Haut  seiner  Kleider  beraubt,  mehrere  Stun- 
den auf  dem  durchnässten  Erdboden  lag.  Der  zweite  Kranke 
hatte  vor  einem  Jahre  an  einer  Intermittens  quartana  gelitten, 
nach  deren  schneller  Unterdrückung  die  Paralysis  agitans 
eino-etreten  war.  Im  dritten  Falle  Hess  sich  die  Ursache 

O 

nicht  genau  bestimmen.  Die  Kranke,  welche  vor  dreissig 
Jahren  ein  Nervenfieber  überstanden  hatte,  will  seitdem  zu 
wiederholten  Malen  von  Hemiplegie  der  rechten  Seite  befallen 
worden  sein,  die  durch  den  Gebrauch  der  Teplitzer  Thermen 
geheilt  wurde.  Ob  diese  Umstände,  so  wie  eilf  Wochenbet- 
ten und  ein  von  Gram  und  Sorgen  getrübtes  Leben  eine 
ätiologische  Beziehung  zur  Paralysis  agitans  haben,  muss 
dahingestellt  bleiben.  Uebrigens  war  dies  der  einzige  Fall, 
in  welchem  die  Behandlung,  bestehend  in  warmen  Bädern 
mit  gleichzeitiger  kalter  Uebergiessung  des  Nackens  und 
Rückens,  und  dem  Gebrauche  des  Ferrum  carbonicum  zu 
3ß  dreimal  täglich,  wenn  auch  nicht  radicale  Heilung,  doch 
auffallende  Milderung  der  Symptome  herbeiführte.  Die  bei- 
den andern  Kranken  blieben  ungeheilt. 

Unter  den  cerebralen  Anlässen  der  Lähmung  wurden 
Tuberkel  und  Erweichung  des  Gehirns,  letztere  sowohl 
als  primäre  Affektion,  als  in  der  Umgegend  apoplektischer 
Heerde  am  häufigsten  beobachtet. 

Die  Tuberkulose  des  Gehirns  kam  nur  im  kindlichen 
Alter  vor  und  endete  in  der  Regel  tödtlich  : aus  diesem  Grunde 
verdient  der  folgende  Fall  als  Ausnahme  mitgetheilt  zu  werden. 
H.  B.,  ein  2 'jähriges  Kind,  welches  wiederholt  an  Anschwel- 
lung und  Entzündung  der  Cerdival-  und  MEiBOM’schen  Drüsen 
gelitten,  hatte  seit  vier  Wochen  die  Kraft  den  rechten  Arm 
zu  bewegen  eingebüsst.  Der  Arm  hing  schlaff  am  Körper 


herab,  und  die  entsprechende  Hand  liess  beim  Versuche  ir- 
gend einen  Gegenstand  zu  ergreifen,  denselben  kraftlos  fallen. 
Das  Kind,  welches  schon  vollkommen  gut  laufen  konnte,  ver- 
mochte jetzt  nicht  mehr  auf  den  Füssen  zu  stehen,  was  vor- 
zugsweise durch  eine  Schwäche  des  rechten  Beins  bedingt 
war.  Seit  acht  Tagen  hatte  sich  Strabismus  convergens  auf 
beiden  Augen  eingestellt:  doch  liess  sich  ein  höherer  Grad 
desselben  auf  dem  rechten  Auge  nicht  verkennen,  wenn  auch 
die  Pupillen  keinen  Unterschied  darboten.  Der  Kopf  konnte 
nicht  mehr  aufrecht  getragen  werden,  und  sank  stets  auf  die 
Schulter  der  Mutter,  welche  noch  den  Umstand  hervorhob, 
dass  das  Kind  mit  entschiedener  Vorliebe  die  linke  Seite 
des  Kopfes  anlehne.  Zeichen  von  Kopfschmerz  liessen  sich 
nicht  entdecken.  Auffallend  war  aber  die  Gemüthsverstim- 
mung  des  kleinen  Kranken,  der  weder  durch  Spielzeug  noch 
durch  freundliches  Zureden  aus  seinem  dumpfen  Hinbrüten 
geweckt  werden  konnte.  Die  Verdauungsorgane  schienen 
ungestört,  ja  die  Mutter  erwähnte  ausdrücklich  einen  unge- 
wöhnlichen,  kaum  zu  stillenden  Heisshunger  des  Kindes : 
auch  bemerkte  man  Völle  des  Unterleibes,  der  bei  der  Per- 
cussion tympanitischer  als  im  Normalzustände  tönte.  In  die- 
sem Falle  musste  die  Hemiplegie,  der  höhere  Grad  des  Stra- 
bismus auf  dem  rechten  Auge,  das  Hinüberziehen  des  Kopfs 
nach  der  linken  Seite  den  Verdacht  auf  ein  organisches  Lei- 
den der  linken  Hirnhemisphäre  lenken.  Das  Lebensalter  des 
kleinen  Kranken  und  die  vorausgegangenen  scrophulösen  Af- 
fektionen sprachen  für  die  Entwicklung  von  Tuberkeln  in 
derselben,  wenn  auch  einige  andre  Symptome,  namentlich 
der  Kopfschmerz  und  die  convulsivischen  Anfälle,  beides  so 
häufige  Begleiter  der  Himtuberculose,  noch  vermisst  wurden. 
Auch  liess  sich  che  kurze  Dauer  der  Affektion,  die  von  vom 
herein  mit  paralytischen  Erscheinungen  aufgetreten  war,  da- 
gegen anfiihren.  Allein  man  weiss,  dass  häufig  Gehirntu- 
berkel bei  Kindern  oft  lange  Zeit  bestehen,  ehe  sie  durch  ir- 
gend ein  Syptom  ihr  Dasein  verrathen,  dass  sie  sogar  nicht 
selten  bei  Sectionen  solcher  Kinder,  die  an  andern  Krank- 


f>:* 


beiten  starben,  gefunden  werden,  ohne  dass  man  während  des 
Lebens  eine  Ahnung  ihrer  Existenz  hatte.  Das  Kind,  wel- 
ches den  Gegenstand  dieser  Beobachtung  bildet,  hatte  vor 
zwei  Monaten  eine  acute  Entzündung  der  Respirationsor- 
gane überstanden,  und  der  mächtige  Einfluss,  welchen  solche 
Krankheiten  auf  die  rasche  Entwicklung  schon  bestehender 
Tuberkel,  in  welchen  Organen  diese  auch  ihren  Sitz  haben 
mögen,  ausüben,  ist  bekannt.  Die  Behandlung  wurde  dem- 
nach auf  folgende  Weise  geleitet.  Zur  Beseitigung  des  con- 
gestiven  Zustandes  im  Gehirn,  welcher  den  Uebergang  der 
Tuberkel  in  Erweichung  immer  wesentlich  fördert,  schienen 
topische  Blutentleerungen  unerlässlich  zu  sein.  Das  grösste 
Gewicht  wrn'de  indess  auf  kräftige  Ableitungen  nach  der 
Aussenfläche  des  Kopfes  gelegt,  wozu  man  sich  der  Einreibun- 
gen der  Brechweinsteinsalbe  bediente.  An  einer  Stelle  von 
dem  Umfange  eines  Zweithalerstücks  wurde,  nachdem  die 
Haare  abgeschoren,  die  Salbe  bis  zur  Bildung  der  Pocken 
eingerieben,  nach  deren  Abtrocknen  dasselbe  Verfahren  auf 
einer  andern  Stelle  wiederholt  ward.  Kräftige  Ableitungep 
auf  den  Darmkanal,  der  Gebrauch  des  Ol.  jecoris  Aselli,  imd 
lauwarme  mit  Kochsalz  versetzte  Bäder  vervollständigten  die 
Behandlung,  die  nach  neunzehn  Tagen  schon  einen  so  glück- 
lichen Erfolg  hatte,  dass  das  Kind  seine  Extremitäten  wieder 
zu  gebrauchen  anfing  und  der  Strabismus  vollständig  ver- 
schwunden war.  Jetzt,  nach  zwei  Jahren,  ist  der  kleine 
Kranke  ein  kräftiger,  woldgenährter  Knabe  geworden,  der 
keine  Spur  der  früher  vorhandenen  drohenden  Erscheinungen 
darbietet.  — Kinder,  die  an  Hirntuberkeln  leiden,  bekommen 
nicht  selten  Anfälle  von  Convulsionen,  zu  denen  sich  auch 
wohl  ein  soporöser  Zustand  und  andre  der  Meningitis  zukom- 
mende  Symptome  gesellen.  Der  Grund  dieser  Erscheinun- 
gen ist  ein  von  Zeit  zu  Zeit  eintretender  Congestionszustand 
der  Hirnsubstanz  in  der  Umgebung  der  Tuberkel,  welcher 
durch  eine  antiphlogistische  Behandlung  gewöhnlich  beseitigt 
wird.  Auf  diese  Weise  müssen  die  zahlreichen  Fälle  von 
Heilung  der  wahren  Meningitis  gedeutet  werden,  so  wie  auch 


64 


die  nicht  selten  geäusserte  Versicherung,  dass  ein  Kind  oft- 
mals an  der  Gehirnentzündung  gelitten  habe.  *) 

In  einigen  Fällen  sprachen  die  begleitenden  Erscheinungen 
der  Hemiplegie  für  einen  Erweichungspr ocess  im  Ge- 
hirne : da  indess  die  betreffenden  Kranken  sich  bisher  noch  in 
der  Behandlung  befinden,  so  können  diese  Beobachtungen  nicht 
als  vollständige  betrachtet  werden.  Alteration  der  Sensibi- 
tät  in  den  gelähmten  Gliedern  fehlte  in  diesen  Fällen  nie, 
und  unterschied  sie  von  der  hämorrhagischen  Hemiplegie,  in 
welcher  die  betroffenen  Extremitäten  schmerzlos  und  die  Mus- 
keln schlaff  und  welk  sind,  während  schmerzhafte  Contrak- 
turen  der  gelähmten  Theile,  zuweilen  nur  einzelner  Finger, 
die  gewöhnlichste  Erscheinung  bei  Cephalomalacie  waren. 
Nur  in  einem  Falle  verband  sich  damit  eine  Schwäche  der 
Sensibilität  auf  der  gelähmten  Seite,  die  sich  bis  auf  die 
Mundschleimhaut  erstreckte  und  die  Veranlassung  war,  dass 
die  Kranke  beim  Kauen  auf  dieser  Seite  die  Speisen  nicht 
fühlte.  Bei  dieser  Kranken  waren  die  Störungen  der  Sen- 
sibilität überhaupt  die  ersten  gewesen,  die  sich  bemerkbar 
gemacht  hatten  : später  hatte  sich  che  lähmungsartige  Schwäche 
der  Glieder  hinzugesellt.  In  einem  andern  Falle  war  der 
Einfluss  auf  die  psychische  Energie  entschiedener  ausge- 
sprochen : der  Kranke  hatte  nicht  allein  sein  Gedächtniss  ein- 
gebüsst,  sondern  verwechselte  auch  beim  Sprechen  die  ein- 
zelnen Wörter,  nannte  z.  B.  einen  Tisch  — Brod,  ein  Fenster  — 
Stuhl  u.  s.  w.,  eine  Erscheinung,  welche  in  der  Hirnenvei- 
chung  nicht  gar  selten  beobachtet  wird.  Was  die  Behandlung 
solcher  Kranken  betrifft,  so  leisteten  von  Zeit  zu  Zeit  wie- 
derholte örtliche  Blutentleerungen,  starke  Drastica  und  Ab- 
leitungen auf  die  äussere  Haut  des  Kopfs  und  Nackens  durch 
Pockensalbe  oder  Haarseile  noch  die  besten  Dienste.  Star- 
kes  Frottiren  der  geschwächten  Glieder  mit  stimulirenden 
Linimenten  wurde  nicht  vernachlässigt.  In  einem  Falle,  avo  eine 

*)  Vgl.  meine  Beobachtungen  von  Tuberkclbildung  im 
Gehirne  in  Caspeh’s  Wochensclir.  für  die  ges.  Heilkunde  1S34.  S.  33. 

R. 


65 


Hypertrophie  der  Leber  mit  dem  Gehirnleiden  complicirt  war, 
hatte  der  Gebrauch  des  Marienbader  Kreuzbrunnens  eine 
sehr  wohlthätige,  wenn  auch  nicht  dauernde  Wirkung.  Die 
Leberaffektion  verschwand  gänzlich , und  auch  die  von  der 
Hirnkrankheit  abhängigen  Symptome  besserten  sich  entschie- 
den, stiegen  jedoch  nach  Verlauf  eines  halben  Jahres  wieder 
auf  ihre  frühere  Höhe. 

Die  durch  Hydrocephalus  chronicus  bedingten 
Lähmungen  nahmen' in  allen  Fällen  die  Form  der  Paraplegie 
an,  und  charakterisirten  sich  durch  die  kreuzweise  Stellung 
der  Beine,  welche  besonders,  wenn  man  die  Kinder  an  den 
Annen  aufhob,  bemerkbar  wurde.  Die  Behandlung  dieser 
Kranken,  welche  nach  den  von  Goelis  gegebenen  Vorschrif- 
ten instituirt  wurde,  darf  sich  leider  in  keinem  Falle  eines 
glücklichen  Erfolgs  rühmen.  Dass  übrigens  der  chronische 
Wasserkopf  nicht  immer  Lähmung  zur  Folge  hat,  sondern 
seine  verderbliche  Einwirkung  blos  durch  Unterdrückung 
der  psychischen  Energie  und  durch  convulsivische  Anfälle 
kund  geben  kann,  ist  bekannt,  und  wurde  auch  in  der  Klinik 
durch  den  Fall  eines  sechs  Monate  alten  Kindes  erwiesen,  bei 
dessen  Section  im  rechten  Seitenventrikel  eine  grosse  bis  auf 
die  Basis  des  Gehirns  hinabreichende  Hydatide  gefunden 
wurde;  die  Ventrikel  enthielten  gegen  zwölf  Unzen  einer 
serösen  Flüssigkeit. 

Fast  in  allen  Fällen,  wo  Paraplegieen  im  kindlichen  Al- 
ter vorkamen,  liess  sich  Chronischer  Hydrocephalus  als  Ur- 
sache nachweisen.  Seltener  lag  ein  Leiden  des  Rückenmarks 
zu  Grunde,  und  wo  dies  der  Fall  war,  ging  die  Krankheit 
fast  immer  von  den  knöchernen  Hüllen  dieses  Organs  aus.  Die 
Spondylarthrocace  (mehrentheils  T uberculose  der  W ir- 
belkörper)  wurde  am  häufigsten  in  den  Cervical-  und  Dor- 
salwirbeln (namentlich  den  obem),  seltener  in  den  Lumbar- 
wirbeln  als  Malum  Pottii  beobachtet.  Im  ersten  Falle  kann 
die  Krankheit  bei  oberflächlicher  Untersuchung  leicht  mit 
zwei  andern  Affektionen  verwechselt  werden : 1 ) mit  Rheu- 
matismus der  Hals »,  und  Nackenmuskeln.  Bei  diesem  ist 

5 


66 


aber  der  Schmerz  auf  keine  bestimmte  Stelle  beschränkt,  die 
Bewegungen  des  Kopfes  sind  nicht  in  60  bedeutendem  Grade, 
Avie  in  der  Spondylarthrocace  der  Halswirbel  gehemmt.  Ausser- 
dem trägt  der  Mangel  der  übrigen,  den  Rheumatismus  begleiten- 
den Erscheinungen  zu  einer  richtigen  Diagnose  bei;  2)  mit 
Paralyse  des  Muse,  stcmocleidomastoideus  der  gesunden  Seite. 
In  diesem  Falle  ist  kein  Schmerz,  sondern  nur  Unfähigkeit, 
den  Kopf  nach  dieser  Seite  zu  beAvegen,  vorhanden. 

Die  Erscheinungen  der  Paralyse  treten  in  der  Spondylar- 
throcace erst  dann  ein,  wenn  das  Rückenmax-k  selbst  Antheil  zu 
nehmen  beginnt;  so  lange  blos  die  Wirbelknochen  den  Sitz  des 
Leidens  bilden,  beobachtet  man  vermöge  des  Reizes,  den  ein 
irritirtes  Gewebe  auf  die  naheliegenden  motorischen  Nerven 
austibt,  den  entgegengesetzten  Zustand,  Contraktion  der  Mus- 
keln. Daraus  erklärt  sich  die  spastische  Contractur  des 
Muse,  stcrnocleidomastoid.  der  einen  Seite  im  Beginne  des 
Leidens,  die  später  in  Lähmung  übergeht,  und  ein  Hinüber- 
sinken des  Kopfes  nach  der  andern  Seite  zur  Folge  hat. 
Aus  diesem  Grunde  beobachtet  man  auch  in  der  PoTx’schen 
Krankheit  Contraktion  des  Psoas  mit  Verkürzung  der  untern 
Extremität,  die  leicht  zur  Annahme  einer  Coxarthrocace  Abr- 
ieben kann,  ein  Umstand,  der  es  dem  Arzte  zur  Pflicht 
macht,  in  jedem  Falle,  avo  der  Verdacht  dieses  Hiiftgelenk- 
lcidens  obwaltet,  nicht  allein  das  letztere,  sondern  auch  die 
Wirbelsäule  genau  zu  untersuchen. 

So  lange  daher  keine  andern  Symptome,  als  die  des 
Knochenleidens  beobachtet  werden,  darf  man  die  Prognose 
nicht  unbedingt  schlecht  stellen : AArohl  aber  dann,  wenn  das 
Auftreten  paralytischer  Erscheinungen  kund  giebt,  dass  auch 
das  Rückenmark  und  seine  Häute  an  der  Desorganisation 
Theil  zu  nehmen  anfangen.  Doch  darf  man  auch  in  diesem 
Falle  noch  nicht  alle  Hoffnung  aufgeben,  wie  folgendes  Bei- 
spiel lehrt : 

Ein  15 jähriger  Knabe,  von  Kindheit  an  scrophulösen 
Affektionen  leidend,  und  schon  seit  seinem  zweiten  Lebens- 
jahre mit  Kyphosis  in  der  Gegend  der  obern  Dorsahvirbel 


behaftet,  wurde  am  26.  Juni  1843  in  der  Poliklinik  vorge- 
stellt. Seit  drei  Monaten  hatte  sich  Schmerzhaftigkeit  an 
der  Stelle  der  Kyphosis,  die  beim  Druck  bedeutend  zunahm, 
eingestellt ; die  Kyphosis  selbst  war  auffallend  stärker  gewor- 
den, die  Beweglichkeit  imd  Sensibilität  der  untern  Extremi- 
täten hatte  allmählig  abgenommen,  so  dass  am  Tage  der 
Meldung  eine  Paraplegie  und  ein  massiger  Gi’ad  von  An- 
ästhesie (namentlich  an  den  Unterschenkeln)  nicht  zu  ver- 
kennen war.  Abmas-eruno-  und  kachektisches  Ausselm  be- 

O O 

gleitete  diesen  Zustand,  der  nur  wenig  Hoffnung  auf  Gene- 
sung übrig  liess.  Da  die  Anwendung  kräftig  eingreifender 
Mittel  hier  dringend  indicirt  war,  so  wurde  zum  innem  Ge- 
brauch das  Jodeisen  in  der  Form  des'Syrupus  Ferri  jodati  in 
steigender  Dosis  von  3 — 5 Tropfen  zweimal  täglich  verordnet. 
Das  meiste  Gewicht  wurde  jedoch  auf  die  Application  einer 
Fontanelle  von  drei  Erbsen  an  jeder  Seite  der  kyphotischen 
Hervortreibung  gelegt,  und  anhaltende  ruhige  Lage  dringend 
anempfohlen.  Der  Erfolg  dieser  Behandlung  war  überraschend : 
die  Sensibilität  der  Unterschenkel  kehrte  zu  ihrem  Normal- 
zustände zurück,  die  Lähmung  der  untern  Extremitäten  verlor 
sich  allmählig,  und  war  am  15.  December  desselben  Jahres 
bereits  vollständig  verschwunden,  so  dass  der  Kranke  ohne 
Mühe  den  ziemlich  weiten  Weg  von  seiner  Wohnung  nach 
der  Klinik  zurücklegen  konnte.  Man  liess  daher  die  Fonta- 
nellen eingehn,  und  verordnete  zur  Nachkur  das  Ol.  Jecoris, 
unter  dessen  Gebrauch  sich  der  Kranke  bald  vollständig  er- 
holte. Derselbe  ist  jetzt  ein  gesunder,  wohlgenährter  junger 
Mensch,  der  die  weitesten  Wege  ohne  Schwierigkeit  zurück- 
legt, und  nur  durch  die  fortbestehende  Kyphosis  das  einstige 
Vorhandensein  jener  wichtigen  Krankheit  bekundet. 

In  einem  zweiten  Falle  von  Spondylarthrocace  der  obern 
Dorsalwirbel,  wo  jedoch  noch  keine  Symptome  von  Beein- 
trächtigung des  Rückenmarks  vorhanden  waren,  zeigte  sich 
die  Application  einer  Fontanelle  auf  jeder  Seite  der  schmerz- 
haften Hervortreibung  von  gleicher  Wirksamkeit.  Nach  vor- 
ausgeschickten topischen  Blutentleerungen  und  Einreibungen 


G8 


mit  der  grauen  Quecksilbersalbe  wurden  in  solchen  Fällen 
gleichzeitig  mit  der  Fontanelle  lauwarme  Bäder  mit  Salz  oder 
Kreuznacher  Mutterlauge  (eine  Dreiviertelquartflasche  zu  ei- 
nem Bade),  und  innerlich  der  Syrup.  Ferri  jodati  in  steigender 
Dosis  verordnet.  (b<  Syrup.  Ferr.  jodat.  3ß,  Syrup.  simpl. 
^iß  Mds.  zweimal  täglich  einen  Theelöflfel  voll.  Die  Drachme 
des  Syr.  Ferr.  jod.  enthält  12  Gran  Jodeisen.)  Dabei  tritt 
leicht  Trägheit  und  Verstopfung  des  Stuhlgangs  ein,  der  eine 
schwärzliche  Färbung,  wie  beim  Gebrauche  andrer  Eisen- 
präparate, annimmt.  Auch  in  Fällen  der  sogenannten  Pä  dar  - 
throcace  zeigte  sich  die  Anwendung  dieses  Mittels,  in  Ver- 
bindung mit  dem  Aufpinseln  der  anfangs  verdünnten,  später 
reinen  Tinctura  Jodi,  von  entschiedener  Wirksamkeit.  Man 
bestreicht  die  Haut  der  angeschwollenen  Phalangen  mehrmals 
täglich,  bis  sie  eine  braune  Farbe  annimmt,  wartet  die  Desqua- 
mation ab,  und  beginnt  dann  von  neuem : bald  wird  man  dann 
eine  Abnahme  der  Anschwellung  bemerken. 

Im  ersten  Stadium , wenn  noch  keine  Kyphose  vor- 
handen, der  Kopf  aber  nach  einer  oder  der  andern  Seite  hin- 
übergezogen ist,  braucht  man  nicht  gleich  zu  so  energischen 
Mittehi,  wie  Fontanellen,  seine  Zuflucht  zu  nehmen.  Hier 
genügen  gelindere  Ableitungen,  vorzugsweise  durch  Unguent. 
Tart.  emet.,  welches  in  mehreren  Fällen  dieser  Art  schon  nach 
acht  Tagen  eine  normale  Stellung  des  Kopfes  herbeiführte. 

, Paraplegie  als  Folgekrankheit  einer  Spinalarachnitis 
w'urde  bei  einem  50jährigen  Manne  beobachtet.  Vollkommene 
Lähmung  und  Anästhesie  der  untern  Extremitäten,  Enuresis, 
unwillkührliche  Stuhlentleerungen,  Dyspnoe,  erschwerte  Aus- 
führung exspiratorischer  Bewegungen,  wie  Husten,  Niesen, 
Drängen  zum  Stuhlgang,  waren  die  Hauptleiden  des  Kran- 
ken, die  noch  durch  einen  tief  eindringenden  Decubitus  an 
mehreren  Stellen  gesteigert  wurden.  Vor  einem  Jahre  war 
eine  acute  Krankheit  mit  heftigem  Kückenschmerz,  tetanischer 
Starrheit  der  Extremitäten  und  convulsivischen  Erschütterun- 
gen vorausgegangen,  ohne  Zweifel  eine  Meningitis  spinalis, 
welche  ein  serös-albuminöses  Exsudat  und  somit  Compression 


69 


der  untern  Parthie  des  Rückenmarks  gesetzt  hatte.  Die  Be- 
handlung bestand  in  wiederholten  topischen  Blutentleerungen 
an  der  Wirbelsäule,  Einreibungen  mit  einer  Mischung  von 
Ung.  Mercur.  und  Kali  Hydriodic.,  und  drastischen  Abführ- 
mitteln (Elaterium,  Extract.  Colocynth.).  Später  ging  man  zum 
Gebrauche  des  Extract.  Nuc.  vomic.  spirituos.  in  steigender 
Dosis  über,  welches  in  Yerbindimg  mit  lauwarmen  Bädern  so 
günstig  wirkte,  dass  der  Kranke  jetzt,  mit  Ausnahme  eines 
drückenden  Gefühls  in  der  Lendengegend  und  einer  Unfähigkeit 
den  Stuhlgang  lange  zurückzuhalten,  vollständig  hergestellt  ist, 
und  selbst  weite  Wege  ohne  Beschwerden  zurücklegen  kann. 

Als  eine  noch  nicht  genug  gewürdigte  Ursache  paraly- 
tischer Erscheinungen  hat  man  die  Unterdrückung  gewohnter 
Secretionen,  insbesondere  der F u s s s c h w ei  s s e,  zu  betrachten. 
F riiher  war  man  gewohnt  solche  Fälle  als  metastatische  zu  deuten, 
sie  gehören  indess  mehr  in  die  Kategorie  der  Reflexparalysen,  de- 
rer, wo  die  Abnahme  oder  der  Verlust  der  Sensibilität  die  ent- 
sprechenden motorischen  Nerven  nicht  mehr  anregt,  und  eine 
Abnahme  oder  Verlust  ihrer  Leitungsfähigkeit  zur  Folge  hat. 

Ein  46 jähriger,  gesunder  Mann,  von  Jugend  auf  mit 
starken  Fusssckweissen  behaftet,  hatte  sich  vor  zwei  Jahren 
in  Folge  einer  Erkältung  und  Durcknässung  der  Füsse  hef- 
tige Schmerzen  in  den  Gliedern,  die  besonders  zur  Nachtzeit 
exacerbirten  und  entschieden  rheumatischer  Natur  waren,  zu- 
gezogen. Die  Fussschweisse  wurden  plötzlich  unterdrückt, 
und  bald  darauf  bemerkte  der  Kranke  eine  Schwäche  und 
Gefühlsabnahme  in  den  untern  Extremitäten.  Diese  Erschei- 
nungen beschränkten  sich  anfangs  blos  auf  die  Unterschenkel, 
dehnten  sich  aber  später  auch  auf  die  Oberschenkel  aus,  und 
Stuhlverhaltung  und  Enuresis  gesellten  sich  liinzu.  Bei  der 
klinischen  Untersuchung  stellte  sich  nun  eine  so  bedeutende 
Störung  der  Motilität  der  untern  Extremitäten  heraus,  dass 
der  Kranke  fast  nicht  mehr  im  Stande  war  zu  gehen,  sondern 
auf  zwei  Krücken  gestützt,  den  Unterkörper  gleich  einer  an- 
hängenden Last  nachschleppen  musste.  Doch  vermochte  er 
in  sitzender  Stellung  sowohl  die  Unter-  als  auch  die  Ober- 


70 


Schenkel  nach  den  verschiedensten  Richtungen  hin  ohne  grosse 
Mühe  zu  bewegen.  Die  Sensibilität  war  nicht  allein  an  den 
Extremitäten,  sondern  auch  in  der  untern  Bauchregion  auf- 
fallend stumpf.  Der  Kranke  bemerkte  als  eine  ihn  selbst 
beunruhigende  Erscheinung,  dass  er  immer  nur  am  Ober- 
körper bis  unterhalb  des  Nabels  schwitzte,  die  hypogastrische 
Gegend  und  die  untern  Extremitäten  jedoch  vollkommen 
trocken  blieben.  Die  Haut  der  gelähmten  und  von  Anästhesie 
befallenen  Theile  desquamirte  fortwährend,  und  eine  beträcht- 
liche Abmagerung  derselben  war,  vorzugsweise  in  Vergleich 
mit  den  obern  Extremitäten,  unverkennbar.  Durch  das  be- 
% ständige  Abtröpfeln  des  Urins  verbreitete  der  Kranke  einen 
unerträglichen  Gestank.  Stuhlgang  erfolgte  nur  unter  grossen 
Anstrengungen  alle  vier  bis  fünf  Tage.  Die  Potentia  virilis 
war  erloschen.  Trotz  der  sorgfältigsten  Exploration  der 
Wirbelsäule  liess  sich  in  dieser  nicht  die  geringste  krank- 
hafte Erscheinung  wahrnehmen,  vielmehr  war  die  plötzliche 
Unterdrückung  der  Fussschweisse , worauf  sich  die  Läh- 
mung fast  unmittelbar  entwickelt  hatte,  das  einzige  Mo- 
ment, welches  einen  festen  Anhaltpunkt  für  die  Therapie 
geben  konnte.  Es  wurden  dem  Kranken  Fussbäder  mit  Aqua 
regia  (5ß)  dreimal  wöchentlich  verordnet,  und  damit  der  in- 
nere Gebrauch  des  Extract.  Nucis  vomicae  spirituosum  in 
steigender  Dosis  verbunden.  Dieses  Mittel , welches  bei 
Desorganisationen  des  Rückenmarks  wegen  seiner  schädlichen 
Einwirkung  vermieden  werden  muss,  schien  in  diesem  Falle, 
wo  die  Krankheit  sich  offenbar  von  den  peripherischen  Ner- 
ven aus  entwickelt  hatte,  ganz  an  der  Stelle  zu  sein.  Um 
seine  stopfende  Wirkung  zu  beschränken,  wurden  die  Pillen 
mit  Extr.  Rhei  compos.  versetzt.  Schon  nach  vierzehn  Ta- 
gen konnte  der  Kranke  nicht  allein  ohne  fremde  Hülfe  ste- 
hen,  sondern  auch  sein  Gang  war  erleichtert,  die  bisher  kalten 
Füsse  waren  warm  und  feucht  geworden,  wenn  auch  die  Fuss- 
schweisse selbst  noch  vermisst  wurden.  Diese  günstige  Wir- 
kung  forderte  auf,  die  Dosis  des  Extr.  Nue.  vomic.  spirit. 
von  < Gran  auf  k Gran  zu  erhöhen.  Nach  abermals  vier- 

o * 


71 


zelm  Tagen  war  die  Enuresis  bereits  vollständig  gehoben, 
und  das  Gefiild  fast  zum  Normalzustände  zurückgekehrt. 
Auf  diese  AYeise  ward  die  Behandlung  noch  mehrere  Monate 
beharrlich  fortgesetzt,  und  der  Kranke  hat  von  seinen  frühe- 
ren Leiden  nur  noch  einen  etwas  schleppenden  Gang  zurück- 
behalten, vermag  jedoch  ohne  Hülfe  der  Krücken,  blos  auf 
einen  gewöhnlichen  Stock  gestützt,  ziemlich  weite  Wege 
ohne  grosse  Schwierigkeit  zurückzulegen.  Die  frühem  Fuss- 
schweisse  sind  zwar  noch  nicht  zurückgekehrt,  die  Fiisse 
jedoch  anhaltend  feucht  und  warm. 

Im  folgenden  Semester  bot  sich  ein  ähnlicher  Fall,  nur 
von  kürzerer  Dauer,  der  Beobachtung  dar.  Er  betraf  einen 
dem  Trünke  ergebenen,  mit  profusen  Fussschweissen  behaf- 
teten Mann,  der  seit  einigen  Monaten  an  Paresis  der  untern 
Extremitäten  litt.  Auch  hier  war  vorzugsweise  das  Gehen 
und  Stehen  erschwert : in  sitzender  und  liegender  Stellung 
vermochte  der  Kranke  die  verschiedensten  Bewegungen  mit 
den  geschwächten  Theilen  vorzunehmen.  Bei  genauerer  Nach- 
forschung erfuhr  man,  dass  kurz  vor  dem  Eintritt  der  para- 
lytischen Erscheinungen  die  Fussschweisse  ohne  angebbare 
Ursache  unterdrückt  worden  waren,  welchem  Umstande  der 
Kranke  selbst  seine  Beschwerden  zuschrieb.  Die  Sensibilität, 
sowie  die  trophischen  F unktionen  der  untem  Extremitäten  und 
die  Excretion  des  Urins  und  Stuhlgangs  waren  in  diesem 
Falle  noch  ungestört,  der,  bei  der  Identität  der  Ursachen,  auch 
die  gleiche  Behandlung,  wie  der  ersterwähnte,  erforderte.  Man 
begann  dieselbe  mit  Fussbädem,  die  in  diesem  Falle  mit 
Kali  causticum  versetzt  wurden,  und  diese  allein,  ohne  Bei- 
hülfe innerer  Mittel,  genügten,  um  nach  Monatsfrist  eine  an- 
haltend warme  Temperatur  der  Füsse,  wenn  auch  nicht  die 
Schweisse  selbst,  zurückzurufen,  und  die  paralytischen  Er- 
scheinungen vollständig  zu  heben. 

Diese  Fälle  geben  einen  neuen  Beweis,  wie  vorsichtig 
man  in  der  Annahme  einer  organischen  Affektion  des  Rük- 
kenmarks  zu  Werke  gehen  muss.  Hier  würden  alle  vom 
Rückenrnarke  ableitenden  Mittel , namentlich  Exutorien,  zu 


72 


deren  Anwendung  man  sich  leicht  verleiten  lassen  konnte, 
nutzlos  geblieben  sein,  während  die  Erregung  der  peripheri- 
schen Nerven,  von  denen  die  Krankheit  ihren  Ausgang  nahm, 
baldige  Besserung  und  Heilung  herbeiführte.*) 

Erwähnt  sei  hier  noch  die  von  Strömeyer  beschriebene 
Paralyse  der  Inspirationsmuskeln,  welche  in  der 
Poliklinik,  vorzugsweise  auf  rhachitischcr  Basis,  häufig  beob- 
achtet wurde.  Bei  diesen  Kindern  wurden  die  Respirations- 
bewegungen  nur  durch  die  Bauchmuskeln  und  das  Zwerchfell 
vollzogen,  während  die  Muskeln  des  Thorax  in  Unthätigkeit 
verharrten,  und  bei  längerer  Dauer  sogar  atrophisch  wurden. 
Man  sah  dies  vorzugsweise  an  den  Serrati,  wodurch  ein  star- 
kes Einsinken  der  Seitenflächen  der  Brust  und  ein  Hervor- 
treten des  Brustbeins  (Pectus  carinatum)  veranlasst  wurde. 
Bestand  diese  Affektion  nur  auf  einer  Seite,  so  gab  sie  ge- 
wöhnlich zur  Entstehung  einer  Scoliosis  Anlass.  Die  Lungen 
selbst  zeigten  sich  bei  der  physikalischen  Untersuchung  ge- 
wöhnlich ganz  gesund.  Die  Unthätigkeit  im  Athemholen 
macht  das  Hinzutreten  einer,  wemi  auch  an  sich  nicht  bedeu- 
tenden, Lungenaffektion  in  solchen  Fällen  höchst  bedenklich. 
In  der  That  starben  mehrere  dieser  Kinder  an  den  Folgen 
einer  leichten  Bronchitis,  die  unter  gewöhnlichen  Verhält- 
nissen gewiss  unschädlich  geblieben  wäre. 


III.  Logoneurosen. 

Eigentliche  maniakalische  Zustände  kamen , wie  dies 
überhaupt  in  einer  Poliklinik  sehr  selten  der  Fall  ist,  nicht 
zur  Behandlung.  Nur  in  einigen  Fällen  von  Epilepsie  wurde 
ein  Stadium  maniacum  oder  ecstaticum  im  Anfalle  beobachtet, 
welches  indess  nicht  als  selbstständige  Krankheit  gelten  kann. 
Aber  auch  imabhängig  von  der  Epilepsie  trat  die  Ecstasis 
zuweilen  auf,  charakterisirt  durch  Anfälle  eines  irren  Zu- 
standes, worin  die  Kranken  ihrer  eigenen  Persönlichkeit  und 

*)  Ich  verweise  in  Betreff  (1er  Reflexrahmungen  auf  die  3.  Abtheil, 
meines  Lehrbuches  der  Nervenkrankheiten.  R. 


ihren  Lebensverhältnissen  völlig  entfremdet  sind.  Derselbe 
Ideengang  herrscht  in  allen  diesen  Anfällen  vor,  ohne  sich 
jemals  in  den  Intervallen  geltend  zu  machen , so  dass  die 
Kranken  in  der  That  ein  doppeltes  psychisches  Leben 
führen,  das  eine  in  den  Paroxysmen,  das  andere  in  den 
Pausen  derselben.  Zuweilen  giebt  die  Entwicklung  der  Ca- 
tamenien  zu  diesem  Zustande  Veranlassung;  so  bei  einem 
13jährigen  Mädchen,  welches  von  Zeit  zu  Zeit  Anfälle  einer 
grossen  geistigen  Aufregung  bekam,  in  denen  es  fortwährend 
von  Staatsangelegenheiten,  von  König  und  Königin  sprach. 
Ein  anhaltendes  Hin-  und  Herwiegen  des  Kopfes  verband 
sich  mit  dieser  psychischen  Aufregung.  Das  Bewusstsein 
war  im  Anfälle  ganz  ungestört:  die  kleine  Kranke  war  sich 
aller  ihrer  Reden  vollkommen  bewusst,  vermochte  aber  nicht 
dem  innem  Drange,  der  sie  dazu  trieb,  Widerstand  zu  lei- 
sten. Mit  Ausnahme  einiger  Molimina  menstruationis  liess 
sich  durchaus  kein  krankhafter  Zustand  auffinden,  und  bei 
der  Erfolglosigkeit  aller  angewandten  Mittel  beruht  die  Hoff- 
nung nur  auf  dem  Eintritt  der  Catamenien,  der,  wie  man 
nach  der  Analogie  vermuthen  darf,  Heilung  herbeiführen  wird. 

Die  zweite  Beobachtung  betrifft  einen  20jährigen,  sonst 
ganz  gesunden  Mann.  Seit  sechs  Jahren  litt  er  an  Anfällen, 
in  denen  er  von  einem  unwiderstehlichen  Triebe,  alles  ihn 
Umgebende  zu  zertrümmern,  befallen  wurde,  obwohl  er  sich 
seiner  Handlungen  vollkommen  bewusst  war.  Lebhafte  Träume, 
Flimmern  vor  den  Augen,  Ohrensausen,  und  drückendes 
Angstgefühl  gingen  21  — 36  Stunden  dem  Anfalle  voraus : 
zuweilen  hlieb  es  auch  blos  bei  der  Angst,  imd  der  Anfall 
selbst  fiel  aus,  ein  Umstand,  der  an  die  Abortivausbrüche 
der  Epilepsie  erinnert.  Die  Dauer  des  Paroxysmus  beschränkte 
sich  gewöhnlich  auf  eine  bis  zwei  Minuten,  worauf  ein  Zit- 
tern des  ganzen  Körpers  und  ein  Gefühl  grosser  Erleichte- 
rung folgte.  Es  ist  dies  dieselbe  Krankheit,  welche  Pixel 
unter  dem  Namen  Mania  sine  delirio  beschrieben  hat,  und 
wogegen  die  Behandlung  so  wenig  auszurichten  vermag. 
Auch  bei  diesem  Kranken  blieb  die  Anwendung  der  kräftigsten 


74 


Mittel,  der  Sturzbäder,  der  Douche  u.  s.  w.,  ohne  den  ge- 
ringsten Erfolg. 

Eine  andre  Affektion,  die  zuweilen,  und  zwar  nur  bei 
Kindern,  in  der  Poliklinik  beobachtet  wurde,  ist  die  Eclipsis. 
Bei  ganz  normaler  psychischer  Thätigkeit  treten  hier  plötz- 
lich Pausen  derselben  ein,  das  Bewusstsein  erlischt,  und  die 
Kranken  verharren  in  der  Stellung,  in  der  sie  sich  zur  Zeit 
befinden.  Zuweilen  ist  ein  gesteigerter  Tonus  in  den  Mus- 
keln damit  verbunden,  so  dass  die  Glieder  in  jeder  Stellung, 
die  man  ihnen  giebt,  verbleiben,  die  wächserne  Biegsamkeit 
der  Glieder,  welche  die  Alten  als  ein  Hauptsymptom  der 
Katalepsis  betrachteten.  Nach  dem  Anfalle,  dessen  Dauer 
sich  auf  einige  Minuten  ausdehnen  kann,  vollenden  die  Kran- 
ken nicht  selten  die  im  Augenblicke  seines  Eintritts  begon- 
nenen Reden.  Als  Ursache  liess  sich  mitunter  Helminthiasis 
ermitteln,  und  die  Anwendung  wurmtreibender  Mittel,  z.  B. 
der  Stoekk’ sehen  Wurmlatwerge,  war  dann  von  sclinellem, 
günstigem  Erfolge  begleitet. 

Die  Ohnmacht  (Lipothymia)  ist  ein  Zustand,  der  mit 
der  Eclipsis  bei  oberflächlicher  Untersuchung  leicht  verwech- 
selt werden  kann.  Sie  kam  in  der  Klinik  noch  häufiger  als 
die  letztere  zur  Behandlung : die  Kranken,  meist  dem  kind- 
lichen und  jugendlichen  Lebensalter  und  dem  weiblichen  Ge- 
schlecht angehörend,  sinken  plötzlich  mit  erschlafften  Muskeln 
hin,  Herz-  und  Puls  schlag  werden  unfühlbar,  die  Haut  bleich 
und  kühl.  Durch  die  letztgenannten  Erscheinungen,  so  wie 
durch  das  Fortbestehen  des  Bewusstseins,  unterscheidet  sich 
dieser  Zustand  von  der  Eclipsis;  denn  die  Kranken  hören 
und  sehen,  was  in  ihrer  Ungebung  vorgeht,  sind  aber  ausser 
Stande,  einen  Laut  von  sich  zu  geben.  In  diesen  Fällen 
zeigten  sich  warme  Bäder  mit  kalten  Uebergiessungen  des 
Kopfes  und  Rückens,  und  der  innere  Gebrauch  der  Nervina, 
z.  B.  der  Radix  V alerianae,  von  trefflicher  Wirkung. 

Uebrigens  ist  zu  bemerken,  dass  die  drei  in  diesem  Ka- 
pitel erwähnten  Zustände  in  der  Natur  nicht  immer  scharf 
von  einander  abgegrenzt  sind,  sondern  Verbindungen  mit 


einander  eingehen  können.  So  beobachtete  man  bei  einem 
Kinde , welches  an  Anfällen  der  Ohnmacht  litt,  in  den  In- 
tervallen zuweilen  leichtes  Irrreden,  Hang  zum  Weinen, 
Phantasmen  u.  s.  w.  Dasselbe  war  bei  einem  andern  Kinde 
der  Fall,  avo  die  Anfälle  mehr  die  Form  der  Eclipsis  ange- 
nommen hatten. 

Gemüthsaffekte  können  im  kindlichen  Alter  so  gut,  wie 
bei  Erwachsenen  solche  Zustände  erzeugen.  Dahin  gehören 
z.  B.  Gram , lebhafte  Theilnahme  an  dem  unglücklichen 
Schicksal  der  Eltern,  die  Gegenwart  der  Kinder  bei  häus- 
lichen Zwisten  derselben,  wie  es  im  niedern  Stande  so  häufig 
der  Fall  ist,  Neid  und  Eifersucht,  die  durch  den  Vorzug  ei- 
nes Kindes  vor  den  übrigen  bei  diesem  geweckt  werden. 
Auch  frühzeitige  Ueberreizung  des  Genitaliensystems  durch 
Onanie  ist  eine  häufige  Quelle,  worauf  man  stets  den  Ver- 
dacht richten  muss.  Man  unterlasse  daher  nie,  in  solchen 
Fällen  bei  den  Eltern  Erkundigungen  einzuziehen,  ob  Flecke 
in  der  Wäsche  des  Kindes  vorhanden  sind,  man  fordere  sie 
auf,  die  Kinder  genau  zu  beobachten,  ob  sie  beim  Einschlafen 
die  Hände  unter  dem  Deckbett  halten,  die  Genitalien  beta- 
sten u.  s.  av.  Auch  A_nämie  ruft  nicht  selten  derartige  Ner- 
venleiden hervor,  deren  Behandlung  danach  modificirt  Aver- 
den  muss. 


IV.  Trophoneurosen. 

Der  folgende  merkwürdige  Fall,  welcher  in  einer  sorg- 
fältigen Inauguraldissertation  vom  Dr.  Behgson  beschrieben 
Avorden  ist  (De  Prosopodysmorphia  sive  nova  atrophiae  facia- 
lis specie)  scheint  dieser  Klasse  von  Krankheiten,  avo  durch 
aufgehobenen  Nerveneinfluss  mangelhafte  Ernährung  bedingt 
Avird,  anzugehören.  Bei  der  grossen  Seltenheit  solcher  Beob- 
achtungen lässt  sich  ZAvar  die  Entstehungsweise  der  Krankheit 
blos  vermuthen,  GeAvissheit  nur  von  der  Sektion  erwarten; 
allein  trotz  dieses  Mangels  berechtigt  das  UngeAv Ähnliche  der 
Erscheinungen  und  das  physiologische  Interesse,  Avelches  die- 
ser lall  darbietet,  zur  Mittheilung  desselben. 


76 


P.  S.,  ein  28jähriges  Mädchen  von  ziemlich  kräftiger 
Constitution  und  untersetzter  Statur,  war  nach  der  Aussage 
der  Mutter  ein  gesundes,  wohlgenährtes  Kind  gewesen.  Im 
dreizehnten  Lebensjahre  wurde  sie  zuerst  von  einem  Früh- 
lings wechselfieber  mit  Tertiantypus  befallen,  welches  damals 
in  ihrer  Gegend  epidemisch  herrschte  und  bei  der  Kranken 
sieben  Wochen  lang  anhielt.  Es  verschwand  indess  ohne  alle 
ärztliche  Hülfe,  und  ohne  Anschwellungen  der  Unterleibs- 
organe zurückzulassen.  Drei  Jahre  darauf  erlitt  die  Kranke, 
indem  sie  auf  einer  Fussreise  sehr  erhitzt  überschwemmten 
Boden  mit  nackten  Füssen  durchwaten,  und  mehrere  Meilen 
bei  heftigen  Regengüssen  zurücklegen  musste,  eine  starke 
Erkältung.  Bald  brach  unter  fieberhaften  Erscheinungen  imd 
ohmnachtähnlichen  Zufällen  ein  aus  diffusen  rothen  Flecken 
bestehender  Ausschlag  am  ganzen  Körper,  vorzugsweise  am 
Halse,  hervor,  verschwand  aber  wieder  nach  drei  Tagen,  da 
die  Kranke  sich  von  neuem  allem  Wechsel  der  Witterung 
aussetzte.  Die  V ermuthung , dass  dieser  Ausschlag  ein 
Scharlachfieber  gewesen,  wird  noch  dadurch  bestätigt,  dass 
nach  dem  Zurücktreten  desselben  das  Gesicht  sogleich  öde- 
matös  anschwoll,  gastrische  und  nervöse  Zufälle  verschiedener 
Art  und  Fieberbewegungen  sich  einstellten,  und  zu  diesen 
allgemeinen  Symptomen  locale  in  der  Rachenhöhle  hinzutra- 
ten. Die  Schleimhaut  derselben  wurde  trocken  und  dunkel 
geröthet,  die  Deglutition  ausserordentlich  schmerzhaft , die 
Stimme  heiser,  die  lymphatischen  Drüsen  am  Halse,  die 
Uvula  und  die  linke  Tonsille  schwollen  bedeutend  an,  und 
die  Kranke  sah  sich  genöthigt,  mit  kurzen  L nt  erbrech  ungen 
fast  drei  Monate  lang  das  Bett  zu  hüten.  Durch  erweichende 
Kataplasmen,  welche  auf  die  linke  Seite  des  Halses  applicirt 
wurden,  gelang  es,  den  in  der  Tonsille  sich  bildenden  Abscess 
zur  Reife  zu  bringen.  Derselbe  öffnete  sich  plötzlich  wäh- 
rend des  Schlafs,  und  eine  reichliche  Menge  grünlichen  Eiters 
wurde  ausgeworfen.  Von  dieser  Zeit  an  schritt  die  Besse- 
rung der  Kranken  schnell  vorwärts.  Die  Kräfte  nahmen  zu, 
der  Körper  gewann  wieder  an  Fülle ; allein  merkwürdigerweise 


7 / 

beschränkten  sich  der  Turgor,  die  Rothe,  die  zunehmende 
Fülle  im  Gesichte  nur  auf  die  rechte  Hälfte  desselben,  wäh- 
rend die  linke  collabirt  und  abgemagert  blieb.  Zuweilen  ga- 
ben sich  auch  noch  ziehende  Schmerzen  in  der  linken  Kör- 
perhälfte kund,  die  vorzugweise  zur  Winterszeit  imd  bei 
stürmischer  Witterung  exacerbirten.  Die  Menstruation  hatte 
sich  zwar  zu  achtzehn  Jahren  eingestellt,  aber  nur  mit  star- 
ken Beschwerden  und  nach  der  Anwendung  treibender  Mittel. 
Im  Sommer  1842  winde  die  Kranke  in  der  Klinik  vorge- 
stellt, und  bot  folgende  Erscheinungen  dar : Schon  beim  er- 
sten Anblick  zeigte  sich  ein  wesentlicher  Unterschied  beider 
Gesichtshälften:  die  rechte  hatte  das  normale  Ansehn  eines 
28jälmigen  Mädchens,  die  linke  das  einer  alten  Frau,  so  dass 
man  versucht  sein  konnte,  die  linke  flu  die  gesunde  Seite, 
die  rechte  aber  für  angeschwollen  zu  erklären.  Die  Mittel- 
linie des  Gesichts  bildete  eine  scharfe  Grenze,  auf  deren 
linken  Seite  das  Alter,  auf  deren  rechten  die  Jugend  den 
Beschauer  anblickte.  Der  Haarwuchs  der  linken  Kopfhälfte 
war  bei  weitem  dürftiger,  als  der  der  rechten,  so  dass  die 
Kranke,  um  die  kahlen  Stellen  zu  verbergen,  die  Haare  von 
rechts  nach  links  hinüber  zu  kämmen  pflegte.  Die  linke 
Seite  der  Stirn  war  weniger  convex  imd  voll  als  die  rechte, 
so  dass  das  Tuber  frontale  der  erstem  deutlicher  hervortrat. 
Querrunzeln  zeigten  sich  nur  rechterseits,  während  linkerseits 
die  Haut  ohne  Unterlage  von  Fett  imd  subcutanem  Zellge- 
webe dicht  auf  dem  Knochen  lag.  Daher  war  auch  der  linke 
Arcus  supraciliaris  schroffer  zu  fühlen,  als  der  rechte.  Die 
Augenbrauen  der  linken  Seite  waren  grösstentheils  ausgefal- 
len, die  Augenlieder  länger  und  dünner,  die  Cilien  des  un- 
tern Augenlieds  sehr  sparsam,  die  linke  Caruncula  lacrymalis 
kleiner  und  blasser  als  die  rechte.  Der  ganze  linke  Augapfel 
war  mehr  in  die  Orbita  zurückgesunken  als  der  rechte,  ob- 
wohl die  Convexität  der  Cornea  suf  beiden  Augen  dieselbe 
zu  sein  schien.  Sehr  auffallend  war  die  Atrophie  des  linken 
Nasenflügels  und  Nasenrückens,  welcher  letztere  sich  gleich- 
sam  terrassenf  örmig  zu  jenem  absenkte.  Auch  die  bewegliche 


78 


Scheidewand  der  Nase  zeigte  eine  Neigung  nach  links, 
wodurch  der  Raum  der  Nasenöffnung  dieser  Seite  beengt 
wurde.  Kinn  und  Wange  der  linken  Gesichtshälfte  waren 
bei  weitem  platter,  schlaffer,  mehr  eingesunken,  als  dieselben 
Theile  der  rechten,  ja  die  linke  Hälfte  des  Kinns  fehlte  fast 
ganz  und  war  gleichsam  nur  als  ein  kleiner  Anhang  der 
rechten  zu  betrachten.  Die  an  den  Nasenflügeln  und  Mund- 
winkeln herablaufenden  Falten  waren  linkerseits  zahlreicher 
und  deutlicher  ausgeprägt,  fehlten  dagegen  auf  der  rechten 
Seite  gänzlich,  so  dass  der  Unterschied  beider  Gesichtshälf- 
ten an  dieser  Stelle  am  entschiedensten  hervortrat.  Wegen 
der  Atrophie  des  linken  Theils  der  Ober-  und  Unterlippe 
war  auch  der  linke  Mundwinkel  stumpfer  als  der  rechte. 
Die  geringere  Ernährung  machte  sich  auch  noch  auf  der  linken 
Seite  des  Halses  bis  zur  Mitte  desselben  bemerkbar:  von 
hier  abwärts  liessen  beide  Körperhälften  durchaus  keinen 
Unterschied  wahrnehmen. 

Bei  der  Untersuchung  der  Mundhöhle  zeigte  sich  das 
Zahnfleisch  der  linken  Seite  blasser,  die  linke  Hälfte  der  Zunge 
und  der  Uvula  dünner  und  schmaler  als  die  rechte,  die  Gau- 
menbögen der  linken  Seite  atrophisch,  weiter  ausgeschweift, 
als  die  der  andern  Seite.  Die  linke  Tonsille  endlich  fehlte 
ganz,  und  an  ihrer  Stelle  zeigte  sich  eine  beträchtliche  Narbe, 
als  Spur  der  früher  stattgehabten  Ulceration.  Am  besten 
wird  man  den  Unterschied  beider  Gesichtshälften  erkennen, 
wenn  man  die  Maasse  mit  einander  vergleicht. 

Länge  des  Gesichts  von  der  Stirn  bis  zum  Kinn  in  der  Mittellinie 
beträgt 7 Zoll. 

linkerseits,  rechterseils. 

1.  Von  der  Incisur.  supraorbit.  bis  zum  Mundwinkel  3‘/2"  4" 

2.  Von  der  Insertion  des  Nasenflügels  bis  zur 

Spitze  des  Tragus 4"  4'/," 

3.  Von  der  Mitte  der  Glabella  bis  zur  Spitze  des 

Tragus 5"  S1/," 

4.  Von  dem  innern  Augenwinkel  über  die  Ohr- 

muschel bis  zur  Nackengrube  und  den  Dorn- 
fortsätzen   S’A"  9'//' 

5.  Von  der  Mitte  der  Glabella  über  den  Nasen- 

rücken bis  zum  innern  Augenwinkel  . . o"‘  61" 


79 


6. 


8. 

9. 


Von  der  Mitte  der  Glabella  über  den  Nasen- 
rücken bis  zum  äussern  Augenwinkel 
Von  der  Mitte  der  Glabella  bis  zum  Winkel 

des  Unterkiefers 

Vom  Mundwinkel  bis  zum  Philtrum  (auf  der 

Oberlippe) 

Vou  der  Spitze  des  Tragus  bis  zur  Nacken- 
grube und  den  Dornfortsätzen  . . . . 


linkerseits. 

rechlcrscits. 

l’A" 

2" 

57." 

6" 

l " 

1"  3"' 

4" 

47." 

Auch  in  der  Consistenz  und  Farbe  zeigten  sich  Unter- 
schiede: während  die  rechte  Wange  eine  jugendliche  Weich- 
heit imd  Elasticität  darbot,  war  die  linke  rauh,  runzelig,  in 
zahlreiche  Falten  gelegt,  und  von  bleicher  erdfahler  Farbe. 
Dagegen  liess  sich  durch  das  Thermometer  weder  auf  der 
Oberfläche  noch  in  der  Mundhöhle  ein  Unterschied  zwischen 
beiden  Seiten  auflinden. 

Die  Sensibilität  sowohl  der  Hautnerven  des  Gesichts 
und  der  Mundhöhle,  als  auch  der  Sinnesnerven  war  vollkommen 
ungestört.  Die  Funktionen  der  motorischen  Nerven,  des  Fa- 
cialis, des  Oculomotorius,  der  kleinen  Portion  des  Quintus, 
des  Hypoglossus,  gingen  auf  der  linken  Seite  mit  derselben 
Energie,  wie  auf  der  rechten  von  Statten.  Eben  so  wenig 
liess  sich  irgend  ein  Unterschied  in  den  Secretionen  bemer- 
ken. Thränen-  imd  Speichelabsonderung  waren  auf  der  atro- 
phischen Seite  nicht  im  geringsten  beeinträchtigt,  imd  nach 
der  Aussage  der  Mutter  und  der  Kranken  selbst  schwitzte 
die  letztere  eben  so  reichlich,  als  die  gesunde. 

Der  einzige  Unterschied,  der  sich  ausser  den  bereits  ge- 
nannten zwischen  den  beiden  Körperhälfte  auflinden  Hess, 
bestand  darin,  dass  derPuls  der  linken  Carotis  etwas  schwächer, 
als  der  der  rechten  zu  sein  seiden,  imd  auch  die  stethosko- 
pische  Untersuchung  ein  dumpferes  Geräusch,  als  in  der 
rechten  Carotis  nachwies. 

Die  unglückliche  Kranke  verfiel  später  durch  Gram 
über  ihren  Zustand  und  ihre  Armuth  in  Mania  religiosa  und 
wurde  einer  Irrenanstalt  übergeben.  Bei  ihrer  Entlassung 


80 


aus  derselben  in  ihre  Heimath  hatte  die  Atrophie  der  linken 
Gesichtshälfte  noch  zugcnonnnen.  *) 

*)  Vergl.  die  Abbildung  auf  der  ersten  Tafel. 

Diesem  Falle  reihe  ich  einen  in  mehreren  Beziehungen  ähnlichen  an, 
welcher  in  Paritv’s  lehrreichen  Collections  from  tlie  unpublislied  writings 
Yol.  I.  p.  478  beschrieben  ist. 

Miss  F.,  '28  Jahre  alt,  schlank  und  hager,  doch  von  blühendem 
Aussehn,  wurde  vor  ungefähr  dreizehn  Jahren  in  der  Schule  plötz- 
lich von  einem  mässigen  Grade  einer  Hemiplegie  der  linken  Seite  be- 
fallen, wobei  die  Intellektualität  nur  vorübergehend  gestört  war.  Ob- 
wohl sich  die  ursprünglichen  Symptome  jetzt  nicht  mehr  mit  Genauigkeit 
angeben  lassen,  so  ist  doch  so  viel  ermittelt,  dass  die  Kranke  zu  ver- 
schiedenen Zeiten  an  Kopfschmerzen  gelitten  hatte,  und  dass  seit  dem 
Eintritt  des  Anfalls  die  linke  Gesichtshälfte  anfing  magerer  als  die  rechte 
zu  werden.  Gleichzeitig  sank  das  linke  Auge  mehr  in  die  Orbita  zu- 
rück, und  wurde  scheinbar  kleiner.  Das  Merkwürdigste  war  aber,  dass 
von  dieser  Zeit  an  das  Haar  auf  dem  obern  Theilc  der  linken  Kopfhälfte, 
welches  früher  eine  dunkelbraune  Farbe  hatte,  anfing,  weiss  zu  werden, 
was  jetzt  in  einem  solchen  Grade  zugenommen  hat,  dass  nicht  ein  ein- 
ziges braunes  Haar  unter  den  weissen  zu  bemerken  ist.  An  derselben 
Seite,  und  zwar  am  unteren  Rande  der  behaarten  Kopfhaut,  nahe  am 
Nacken,  zeigt  sich,  nach  einem  natürlich  gefärbten  Zwischenräume,  noch 
eine  einzelne  vollkommen  weisse  Locke.  Die  Beschaffenheit  des  Auges 
und  des  Gesichts  ist  bisher  dieselbe  geblieben,  die  Zunge  wird,  beim 
Herausstrecken  aus  dem  Munde  , nach  links  gewendet.  Dagegen  be- 
merkt man  keine  Spur  von  Ptosis,  von  Verziehung  der  Mundwinkel,  oder 
irgend  eine  Schwäche  und  Taubheit  der  entsprechenden  Extremitäten. 
Der  Puls  von  84  Schlägen  in  der  Minute  ist  mässig  stark  in  den  Radi- 
alarterien', doch  ungewöhnlich  voll  und  kräftig  in  den  Carotiden.  Der 
Appetit  ist  gut,  die  Füsse  sind  mässig  warm ; die  Catamenien  treten  sel- 
ten öfter  als  einmal  binnen  sechs  Wochen  oder  zwei  Monaten  ein.  Die 
Kopfschmerzen  hatten  sich  durch  den  Genuss  des  Weins,  der  ihr  von 
einem  Arzte  verordnet  wurde,  bedeutend  gesteigert,  haben  aber  fast  ganz 
aufgehört,  seitdem  die  Kranke  die  Quantität  des  täglich  genossenen  auf 
ein  Glas  beschränkt  hat. 

Die  Haut  des  Kopfes  war  niemals  der  Sitz  von  Ulccrationen,  weder 
in  Folge  der  Application  eines  Vcsicators,  noch  aus  andern  Ursachen. 
Beine rkenswerth  ist,  dass  die  ganze  Familie  dieser  jungen  Dame,  die  ich 
zum  Theil  behandelt  habe,  einer  übermässigen  Blutüberfüllung  der  Hirn- 
gefässe,  und  den  mannichfachen  aus  dieser  Quelle  entspringenden  Krank- 
heiten unterworfen  ist. 

Die  Eltern  des  jungen  Mädchens  erzählten  mir  nachträglich,  dass 
heim  Eintritt  des  Anfalls  eine  Taubheit  des  Gefühls  in  der  linken  Ge- 
sichtshälfte, und  eine  Schwäche  des  linken  Arms  deutlich  zu  bemerken 
war.  Diese  Symptome  sind  jetzt  ganz  verschwunden ; nur  ein  geringer 


81 


Grad  von  Taubheit  auf  dem  linken  Ohre  besteht  seit  dem  Anfalle  fort. 
Zuweilen  empfindet  die  Kranke  beim  Niederlegen  lästige  Pulsationen  im 
Kopfe,  die  sich  beim  Liegen  auf  der  liuken  Seite  so  steigern,  dass  sie 
ihre  Lage  ändern  muss.  Die  Zunge  wendet  sich  beim  Herausstrecken 
aus  dem  Munde  nicht  allein  nach  der  linken  Seite,  sondern  ihre  linke 
Hälfte  ist  auch  offenbar  dünner  als  die  rechte.  Die  weisse  Färbung  des 
Haars  wird  durch  die  Mittellinie  des  Kopfes  genau  begränzt ; auf  der 
rechten  Seite  derselben  ist  nicht  ein  einziges  weisses  Haar  zu  bemerken. 
Einige  vereinzelte  zeigen  sich  auch  in  den  Stirn-  und  Angenbraunhaa- 
ren  der  linken  Seite. 

Noch  eines  Falles  erwähne  ich,  der  mir  von  dem  Regimentsarzte 
Hrn.  Dr.  Lehmann  in  Danzig  mitgetheilt  worden  ist.  Er  betrifft  ein 
IS  jähriges  Mädchen,  von  blühender  Gesichtsfarbe  und  kräftigem  Kör- 
perbau, welches  nach  Aussage  der  Eltern  in  den  Kinderjahren  an  scro- 
phulösen  Anschwellungen  der  Halsdrüsen,  Aufgetriebenheit  des  Bauches  und 
unregelmässiger  Verdauung  gelitten  hat.  Im  sechszehnten  Jahre  stellten 
sich  die  Katamenien  ein  und  kehrten  regelmässig  wieder.  Vor  drei  Jah- 
ren machte  sich  an  zwei  kleinen  Stellen  der  linken  Gesichtshälfte,  unter- 
halb des  äussern  Augenwinkels  auf  dem  Jochbein  und  am  Unterkiefer  in 
der  Gegend  des  Foramen  mentale,  eine  Blässe  der  Haut  bemerkbar.  Mit 
der  seit  zwei  Jahren  mehr  und  mehr  eingetretenen  Fülle  des  Körpers  und 
namentlich  des  Gesichts  war  ein  allmählig  zunehmendes  Zurückbleiben 
der  Entwicklung  der  betreffenden  Gesichtshälfte  nicht  zu  verkennen. 
Die  Haut  zeigt  zwar  dieselbe  Frische,  Temperatur  und  Sensibilität  wie 
auf  der  andern  Seite,  ebenso  gehen  die  Bewegungen  normal  von  Statten ; 
allein  die  ganze  linke  Gesichtshälfte  ist  eines  grossen  Theils  ihres  Fett- 
polsters beraubt,  besonders  an  den  erwähnten  beiden  Stellen,  von  denen 
die  obere  unregelmässig  geformte  von  dem  Umfange  eines  Achtgroschen- 
stücks, die  untere  im  Umfange  eines  Silbergroschens  der  Fettunterlage 
zu  ermangeln  scheint,  so  dass  die  Haut  das  Ansehen  hat,  als  wäre  sie 
mit  dem  darunter  liegenden  Knochen  verwachsen.  Diese  beiden  Haut- 
stellen sind  von  weisslick  schillernder  Farbe  und  unterscheiden  sich  von 
wirklichen  Narben  dadurch,  dass  sie  ganz  glatt  anzufühlen  und  ver- 
schiebbar sind.  R. 


6 


Krankheiten  des  lilutcs. 


Zu  dieser  grossen  Klasse  von  Krankheiten  gehören  sowohl 
diejenigen,  welche  in  einer  blos  quantitativen  Veränderung 
der  einzelnen  Bestandteile  des  Blutes  ihren  Grund  haben, 
als  auch  die  Zustände,  die  durch  qualitative  Alterationen  je- 
ner Flüssigkeit  bedingt,  und  unter  dem  gemeinsamen  Kamen 
der  Dyscrasieen  zusammengefasst  werden.  Wenn  auch  die 
Fortschritte  der  organischen  Chemie  in  der  jüngsten  Zeit  die 
Kenntniss  der  Blutkrankheiten  wesentlich  gefördert  haben, 
so  ist  dennoch  das  Dunkel,  welches  auf  einem  grossen  und 
für  die  ärztliche  Praxis  sehr  wichtigen  Theil  derselben  lastet, 
noch  nicht  gelichtet,  und  dieser  Umstand  mag  zur  Entschul- 
digung dienen,  dass  in  diesen  Abschnitt  Gele  Krankheiten 
hineingezogen  worden,  in  denen,  wie  man  allen  Grund  hat  an- 
zunehmen, die  veränderte  Beschaffenheit  des  Blutes  eine 
Hauptrolle  spielt,  deren  chemische  Charaktere  aber  bisher 
noch  nicht  genügend  ermittelt  werden  konnten. 

Unter  allen  Krankheiten  des  Blutes  kam 

1)  die  Blutarmut h,  Anaemia,  am  häufigsten  in  der 
Poliklinik  vor.  Diese  dem  weiblichen  Gesclilechte,  wenn  auch 
nicht  ausschliesslich,  doch  vorzugsweise  zukommende  Krankheit, 
muxle  zwar  gewöhnlich  bei  jimgen  Mädchen  in  der  Puber- 
tätsperiode, nicht  selten  aber  auch  im  kindlichen  Lebensalter 
beobachtet.  Am  seltensten  bot  sich  die  Krankheit  bei  Frauen- 
zimmern im  vorgerückteren  Lebensalter  dar,  und  wo  dies 
der  Fall  war,  liess  sich  fast  immer  ein  entschiedenes  Cau- 
salmoment,  z.  B.  starke  Blutverluste,  Mctrorrhagiecn  in  der 
Decrepiditätsperiode , organische  Krankheiten  des  Uterus  u. 
dgl.  m.  nachweisen,  wodurch  das  reine  Bild  der  Krankheit 


83 


mehr  oder  weniger  getrübt  wurde.  Die  Untersuchungen  der 
neuesten  Zeit  haben  auch  das  Vorkommen  eines  anämischen, 
acut  verlaufenden  Zustandes  im  frühesten  Kindesalter  kennen 
gelehrt,  welcher  zuerst  von  Makshall  IIall  unter  dem 
Namen  Hydro cephaloid  beschrieben  worden  ist.  Die  in 
der  Poliklinik  beobachteten  Fälle  dieser  Art  charakterisirten 
sich  vorzugsweise  durch  eine  mehr  und  mehr  zunehmende 
Sohlummersucht,  mit  aufwärts  gerollten  Augäpfeln,  so  dass 
nur  die  Selerotica  zwischen  den  halbgeöffneten  Augenlidern 
sichtbar  blieb,  durch  auffallende  Blässe  des  Antlitzes,  und 
kühle  Temperatur  aller  prominirenden  Theile  der  Hände, 
Fiisse,  Wangen  und  Nasenspitze.  Durch  sorgfältige  Beob- 
achtung dieser  Symptome  und  genaue  Erforschung  des  Ver- 
laufs der  Affektion  war  man  immer  im  Stande,  sie  von  der 
oft  damit  verwechselten  Blutüberfüllung  des  Gehirns  zu  un- 
terscheiden. Bei  einem  zweijährigen  Kinde  hatte  eine  er- 
schöpfende Diarrhoe  die  erwähnten  Zufälle  hervorgebracht, 
während  in  zwei  andern  Fällen  die  energische  Antiphlogose, 
welche  gegen  eine  intensive  Bronchitis  angewendet  worden 
war,  als  Ursache  betrachtet  werden  musste.  Eine  einfache 
excitirende  Behandlung  durch  Chamillenbäder,  kleine  Dosen 
der  Ammoniumpräparate,  z.  B.  Liq.  Comu  Cervi  succin. 
(3 — 5 Tropfen  pro  dosi  in  Aq.  Foeniculi),  Fleischbrühe  mit 
Eigelb,  frische  reine  Luft  genügte,  jene  Zufälle  verschwinden 
zu  machen. 

Bei  älteren  Kindern  und  jungen  Mädchen  tritt  diese 
Reaktion  des  Gehirns  gegen  das  mangelhafte  Blut  in  den 
Hintergrund,  während  sich  die  Erscheinungen  mehr  in  der 
Sphäre  des  respiratorischen  und  circulatorischen  Systems  be- 
merkbar machen.  In  den  meisten  Fällen  genügt  zwar  eine 
aufmerksame  Betrachtung  des  Kranken,  die  auffallende  Blässe 
des  Antlitzes,  so  wie  der  Zunge,  der  Mund-  und  Augen- 
lidschleimhaut, um  die  anämische  Basis  ihrer  Leiden  zu  er- 
mitteln ; indess  lehrt  der  folgende  Fall,  dass  die  Unterscheidung 
von  organischen  Krankheiten  des  Herzens  keineswegs  immer 
so  leicht  ist,  als  man  gewöhnlich  annimmt. 

6 * 


84 


Eine  24jährige  Nätherin  von  zartem  Körperbau  und 
florider  Gesichtsfarbe,  klagte  über  heftige,  mit  einem  zusam- 
menschnürenden Angstgefühle  verbundene  Palpitationen  des 
Herzens,  welche  zwar  nie  ganz  nachliessen,  sich  von  Zeit  zu 
Zeit  aber  zu  heftigen  Anfällen  steigerten.  Ein  lebhaftes 
Sausen  vor  den  Ohren,  Kopfschmerz,  eine  bei  jeder  Bewegung 
zunehmende  Dyspnoe,  durchfahrende  Stiche  in  der  Brust, 
unruhige^,  von  ängstlichen  Träumen  unterbrochener  Schlaf 
waren  ausserdem  Züge  einer  Krankheit,  deren  Sitz  im  Her- 
zen unzweifelhaft  schien.  Die  Percussion  ergab  zwar  keine 
V eränderung  des  Herzumfanges,  doch  war  der  Impuls  ausser- 
ordentlich verstärkt,  und  der  erste  Herzton  langgedehnt  und 
sehr  dumpf.  Mit  längeren  oder  kürzeren  Intermissionen  be- 
hauptete die  Kranke  schon  seit  sechs  Jahren  an  den  erwähnten 
Zufällen  gelitten  zu  haben,  wozu  sich  noch  Anschwellung  der 
Füsse  und  Hämoptysis  zu  wiederholten  Malen  hinzugesellt 
hatte.  Nach  sorgfältiger  Erwägung  dfer  genannten  Symptome 
wurde  die  Diagnose  auf  einfache  Hypertrophie  des  linken 
Herzventrikels  gestellt,  eine  entsprechende  Behandlung  einge- 
leitet, und  eine  geraume  Zeit,  allein  ohne  den  geringsten  Er- 
folg, fortgesetzt.  Die  Zunahme  der  Beschwerden  veranlasste  eine 
wiederholte  sorgfältige  Untersuchung,  bei  welcher  die  Kranke 
gestand,  dass  ihre  Katamenien  schon  seit  längerer  Zeit  schwach, 
unregelmässig,  das  Blut  sehr  blass  und  wässrig  sei ; die  Ge- 
sichtsfarbe wechselte  nach  ihrer  eigenen  Aussage  sein  häufig ; 
in  der  Regel  bleich,  rötheten  sich  die  Wangen  bei  grosser 
körperlicher  oder  geistiger  Aufregung,  z.  B.  während  ihrer 
Vorstellung  in  der  Klinik.  Der  schwache,  kleine  Puls  der 
Radialarterie  contrastirte  mit  der  stürmischen  Aktion  des 
Herzens,  und  in  der  rechten  Carotis  Hess  sich  ein  deutliches 
Summen  hören.  Diese  Resultate  der  neuen  Untersuchung 
mussten  die  zuerst  gestellte  Diagnose  erschüttern,  und  einen 
anämischen  Zustand  annehmen  lassen,  ein  Verdacht,  welcher 
durch  die  Aussage  der  Kranken,  dass  ihr  innerhalb  acht 
Jahren  75  Aderlässe  gemacht  worden,  first  zur  Gewissheit 
erhoben  wurde.  Trotz  der  drohenden  Erscheinungen  in  der 


Sphäre  des  Herzens  wurde  nun  der  Kranken  das  Spaawasser 
und  der  Gebrauch  der  SrAHL’schen  Pillen  verordnet,  welche 
Mittel  nach  einigen  Monaten  vollständige  Heilung  der  anfangs 
fyrffnungslos  scheinenden  Krankheit  herbeifülirten. 

Das  für  die  Anämie  so  charakteristische  summende  Ge- 
räusch in  den  Carotiden  wurde  in  keinem  Falle  vermisst,  liess 
sich  aber  in  der  rechten  Carotis  ungleich  häufiger  hören,  als 
in  der  linken  (in  zwölf  Fällen  hörte  man  es  neunmal  in  der 
rechten  und  nur  dreimal  in  der  linken).  In  der  Kegel  konnte 
der  auf  die  Carotis  lose  aufgelegte  Finger  ein  Schwirren 
fühlen.  Ein  Blasebalggeräusch  zwischen  den  Sternalenden 
der  zweiten  und  dritten  Rippe,  in  der  Gegend  der  Semilu- 
narklappen der  Aorta,  wurde  nur  sein1  selten  wahrgenommen. 

Der  Einfluss  der  mangelhaften  Beschaffenheit  des  Blutes 
auf  das  Nervensystem  äusserte  sich  sowohl  im  Allgemeinen 
dinch  die  grosse  Mattigkeit  und  Schwäche  solcher  Kranken, 
welche  sie  zu  jeder  Anstrengung  unfähig  machte,  als  auch 
im  Gebiete  einzelner  Nerven,  vorzugsweise  des  Vagus:  die 
Gastrodynia  neuralgica  war  eine  ausserordentlich  häufige  Be- 
gleiterin dieser  Zustände.  Ueberhaupt  zeigte  sich  die  Anä- 
mie als  eine  der  wichtigsten  Quellen  von  Neurosen  beim 
weiblichen  Geschlechte,  und  hartnäckige  hysterische  Erschei- 
nungen, welche  den  gepriesensten  Nervinis  Trotz  geboten 
hatten,  wichen  endlich  dem  Gebrauche  der  eisenhaltigen  Mi- 
neralwässer. Die  sogenannte  Pica  winde  in  den  meisten 
Fällen  beobachtet,  doch  war  sie  nur  ein  paarmal  auf  Kreide 
und  Sand,  gewöhnlich  auf  salzige  und  saure  Dinge  gerichtet. 
Störungen  der  Digestion  waren  in  der  Regel  Folgen,  zu- 
weilen aber  auch  Ursache  der  mangelhaften  Blutkrasis,  und 
äusserten  sich  hauptsächlich  durch  Appetitmangel  imcl  Stuhl- 
verstopfung. Bei  anämischen  Kindern  wurde  gewöhnlich  ein 
auffallendes  Zurückbleiben  des  Wachsthums  beobachtet. 

In  den  meisten  Fällen  waren  es  junge  Nätherinnen  oder 
andere  eine  sitzende  Lebensart  führende  Arbeiterinnen,  welche 
von  der  Krankheit  befallen  wurden.  Der  Mangel  an  Bewc- 

O 

gung  und  frischer  Luft,  zu  welchem  sich  gewöhnlich  noch 


86 


schlechte  Nahrung  hinzugesellt,  ist  wohl  genügend,  das  Ent- 
stehen der  fehlerhaften  Blutmischung  zu  erklären.  Bei  erwach- 
senen Mädchen  war  die  Krankheit,  wenn  auch  nicht  immer, 
doch  meistentheils  von  Störungen  im  Verlaufe  der  Katame- 
nien  begleitet  (Chlorosis). 

Die  einfache  und  selten  erfolglose  Behandlung  dieser 
Zustände  war  folgende:  In  Fällen,  wo  die  Digestion  wesent- 
lich beeinträchtigt,  und  Stuhlverstopfung  zu  berücksichtigen 
war,  wurde  die  Kur  durch  leicht  tonisirende  und  eröffnende 
Mittel,  wie  Ehe  um,  Calamus  aromaticus  u.  a.,  eingeleitet,  und 
nach  einem  längere  oder  kürzere  Zeit  fortgesetzten  Gebrauch 
derselben  zu  den  Eisenpräparaten  übergegangen.  Der  Man- 
gel des  Cruorins  im  Blute,  welcher  das  Wesen  dieser  Krank- 
heit ausmacht,  und  eine  relative  Zunahme  des  Faserstoffs 
nebst  einer  davon  abhängigen  nicht  seltenen  Neigung  zu 
Entzündungen  begründet,  weiset  schon  auf  den  Gebrauch 
dieses  in  der  Anämie  fast  spezifischen  Mittels  hin.  Ge- 
wöhnlich wurde  mit  der  Limatura  Martis  in  Verbindung  mit 
Pulv.  Rad.  Rhei  der  Anfang  gemacht  und  späterhin  zur 
Tinctura  Martis  aperitiva  übergegangen.  In  den  letzten  Se- 
mestern bediente  man  sich  mit  trefflichem  Erfolge  einer  Ver- 
bindung der  Eisenpräparate  mit  den  leichteren  Tonicis,  z.  B. 
in  folgender  Formel:  Infus.  Rad.  Calami  arom.  (ex  oij) 

^iv.  Colat.  adde:  Tinct.  Mart,  aperitiv.  5j— ij.  Syr.  Cortic. 
Aurant.  3j.  M.D.S.  viermal  täglich  einen  Esslöffel  voll  zu 
nehmen.  Auch  die  leicht  verdaulichen  Auflösungen  des  Ei- 
sens, das  künstliche  Pyrmonter-  und  Spaawasser  wurden  in 
vielen  Fällen  zu  einem  bis  zwei  Weingläsern,  Morgens  nüchtern 
zu  trinken,  mit  dem  besten  Erfolge  verordnet.  Der  durch 
diese  Mittel  leicht  herbeigeführten  Stuhlverstopfung  ward 
durch  den  abendlichen  Gebrauch  zweier  Pilul.  aperient.  Stahki 
wirksam  vorgebeugt.  Hartnäckige  Fälle  und  die  häufig  vor- 
kommenden Recidive  erforderten  die  gleichzeitige  Anwen- 
dung der  Eisenbäder,  welche  entweder  durch  Zusatz  von 
Pulv.  Globul.  Mart,  *ij  oder  Tinct.  Ferri  muriat.  oxydul.  31) 
bereitet  wurden.  Eine  nahrhafte  Diät,  und  tägliche  stunden- 


87 


lange  Bewegung  in  frischer  Luft  blieben  indess  Hauptbedin- 
gungen,  ohne  deren  Erfüllung  eine  gründliche  Kur  nicht  in 
Aussicht  gestellt  werden  konnte. 

2.  Cyanosis.  Diese  Krankheit  kam,  abhängig  von  ei- 
ner angebornen  Krankheit  des  Herzens,  bei  einem  noch  jetzt 
lebenden  vicijührigen  Knaben  vor.  Gesicht,  Hände  und  Füsse 
sind  von  dunkler,  bläulicher  Farbe,  ebenso  die  Schleimhaut 
des  Mundes  und  der  NasenöfFnungen.  Die  letzten  Finger- 
glieder zeigen  die  bekannte  kolbige  Anschwellung.  In  der 
Herzgegend  fühlt  die  aufgelegte  Hand  das  sogenannte  Katzen- 
sch wirren,  während  die  stethoskopische  Untersuchung  ein 
sehr  lautes,  beide  Herztöne  verdeckendes  Blasebalggeräusch 
ergiebt,  welches,  je  mehr  man  sich  der  Gegend  der  zweiten 
und  dritten  Kippe  nähert,  an  Intensität  zunimmt,  und  auch 
noch  am  rechten  Kande  des  Brustbeins  deutlich  hörbar  ist. 
Bei  der  Percussion  zeigt  sich  der  matte  Herzton  in  einem 
grossem  Umfange,  besonders  nach  rechts  verbreitet.  Die 
Respiration  ist  anhaltend  beschleunigt,  schon  bei  unbedeu- 
tenden Anstrengungen,  oft  auch  in  der  Ruhe  treten  Anfälle 
von  Dyspnoe  mit  Zunahme  der  bläulichen  Färbung  auf.  Am 
bedenklichsten  wird  der  Zustand,  wenn  sich  Störungen  in 
den  Athmungsorganen,  sei  es  auch  nur  ein  einfacher  Catarrh, 
hinzugesellen.  Ueber  Kälte  der  Extremitäten  und  des  Ge- 
sichts klagt  der  kleine  Kranke  beständig,  weshalb  auch  sein 
Befinden  im  Sommer  im  Allgemeinen  weit  besser,  als  im 
Winter  ist.  — Die  Krankheit  beruht  in  diesem  Falle  wahr- 
scheinlich auf  einer  Verengerung  am  Ursprünge  der  Arteria 
pulmonalis,  in  deren  Folge  sich  Dilatation  des  rechten  Herz- 
ventrikels entwickelt  hat.  Eine  Vermischung  des  venösen 
und  arteriellen  Blutes  ist  zur  Entstehung  der  Cyanose  durch- 
aus nicht  nothwendig,  da  auch  bei  Erwachsenen,  die  an  Er- 
weiterungen des  rechten  Herzens  leiden,  eine  livide  Farbe 
der  Haut  und  Schleimhäute  sein  oft  beobachtet  wird. 

In  einem  andern  früher  beobachteten  Falle  von  Cyanose  er- 
gab die  Section  eine  angeborneMissbildung:  Die  Arteria  pulmona- 
lis  entsprang  aus  dem  finken,  die  Aorta  aus  dem  rechten  V entrikel. 


88 


Geringere  Grade  cyanotischcr  Färbung  wurden  in  allen 
Fällen  starker  und  anhaltender  Störungen  der  Respiration  be- 
obachtet, vorzugsweise  im  Emphyscma  pulmonum , in  der 
Bronchitis,  im  Croup.  Diese  Blutentmischung  giebt,  beson- 
ders in  der  letztgenannten  Krankheit,  zu  wichtigen  Sympto- 
men Anlass,  von  denen  bei  der  Darstellung  der  häutigen 
Bräune  selbst  die  Rede  sein  wird. 

3.  Purpura.  Das  häufige  Vorkommen  dieser  Krank- 
heit erklärt  sich  leicht  aus  der  grossen  Verbreitung  ihrer 
Grundbedingungen,  die  von  denen  der  Anämie  wenig  abwei- 
chen. In  den  meisten  Fällen  zeigte  sich  nur  die  sogenannte 
Purpurasimplex,  gegen  welche  die  Säuren,  mineralische  und 
vegetabilische,  vorzugsweise  der  Cremor  Tartari  (zu  10  Gx*. 
pro  dosi),  mit  Erfolg  angewende  t wurden ; doch  gehörte  auch 
das  V orkommen  der  Purpura  haemorrhagica  (Morb.  ma- 
culosus)  keineswegs  zu  den  Seltenheiten.  Mit  Uebergehung 
einiger  minder  wichtigen  Fälle  sei  hier  nur  der  eines  sieben- 
jährigen Mädchens  erwähnt,  dessen  Krankengeschichte  aber 
durch  die  von  den  Eltern  verweigerte  Erlaubniss  zur  Section 
leider  unvollständig  geblieben  ist:  — Das  siebenjährige 
Kind,  welches  vor  vier  Jahren  eine  exanthematische  Ki*ank- 
heit  mit  darauf  folgendem  Hydrops  (wahrscheinlich  Scarla- 
tina)  überstanden  hatte,  litt  seit  einem  Jahre  an  Purpura,  die 
in  Gestalt  blaxu’other  und  gelblichgrüner  linsengrosser  Flecke 
und  Striemen  nicht  allein  über  das  grünlichbleiche  Antlitz 
und  die  ganze  Oberfläche  des  Körpers,  sondern  auch  über  die 
Schleimhaut  der  Zunge  und  Wangen  verbreitet,  und  mit  wie- 
derholten Blutungen  aus  Mund,  Nase,  Ohren,  Augen,  Dann 
und  Nieren  verbunden  war.  Anschwellung  der  Cervicalclrü- 
sen,  Appetitverlust,  Stuhlverstopfung,  grosse  Hinfälligkeit 
begleiteten  diese  lästige  Krankheit,  für  welche  sich  weder  in 
den  diätetischen  Verhältnissen  der  kleinen  Kranken , noch  in 
dem  Zustande  ihrer  Oi’gane  (die  Milz  zeigte  sich  bei  der 
Untersuchung  vollkommen  normal)  irgend  eine  Ursache  auf- 
finden liess.  Die  tonisirende  Behandlung  durch  China,  Ei- 
senbäder xmd  kalte  Waschungen  des  ganzen  Körpers  war  be- 


89 


reits  während  einer  Woche  fortgesetzt  worden,  als  plötzlich 
am  Morgen  des  neunten  Tages  die  heftigsten  Convulsionen 
ausbrachen,  und  das  Kind  in  einen  soporösen  Zustand  verfiel, 
welcher  öfters  durch  lautes  Aufschreien  (ähnlich  dem  Schrei 
hydrocephalischer  Kinder)  und  durch  wiederholte  Convulsio- 
nen unterbrochen  wurde.  Die  Anwendung  der  kalten  Um- 
schläge auf  den  Kopf,  der  Essigklystiere,  der  Blutegel  u.  s.  w. 
blieb  erfolglos ; am  dritten  Tage  nach  dem  Eintritt  der  be- 
schriebenen Zufälle  erfolgte  Hemiplegie  der  linken  Körper- 
hälfte, Lähmimg  des  rechten  Antlitznerven,  und  gegen  Abend 
der'Tod  des  Kindes.  Es  ist  mehr  als  wahrscheinlich,  dass  in  die- 
sem Falle  ein  ähnlicher  Bluterguss,  wie  er  bisher  aus  verschie- 
denen Organen  stattgefimden,  plötzlich  in  die  rechte  Hemisphäre 
des  Gehirns  erfolgt  war.  Für  diese  Annahme  spricht  noch  ein 
von  Mauthner  in  seiner  Schrift  über  Gehirn-  und  Kücken- 
markskrankheiten der  Kinder  mitgetheilter  Fall,  in  welchem 
sich,  nach  analogen  Symptomen  während  des  Lebens,  in  der 
einen  Hirnhemisphäre  ein  starkes  Blutextravasat  vorfand , so 
wie  auch  die  im  Journal  für  Kinderkrankheiten  Bd.  IV.  Heft 
-i.  p.  318  mitgetheilte  Beobachtung  eines  englischen  Arztes, 
der  bei  einem  an  Purpura  leidenden  und  im  Sopor  gestorbe- 
nen Knaben  einen  Bluterguss  zwischen  den  Blättern  der 
Arachnoidea  fand. 

Die  leicht  erklärbare  Complication  der  Purpura  mit 
Anämie  zeigte  sich  vorzugsweise  bei  einem  zwölfjährigen 
Mädchen,  welches,  ursprünglich  an  Anämie  leidend,  drei  Som- 
mer hinter  einander  von  Purpura  befallen  wurde,  zu  welcher 
sich  wiederholtes  Nasenbluten,  einmal  auch  Hämoptysis  ge- 
sellte. Durch  den  Gebrauch  der  Eisenpräparate  imd  einer 
Ghinaabkochung  in  Verbindung  mit  Mineralsäuren  kam  die 
Genesung  zu  Stande. 

In  manchen  Fällen  von  Masern,  namentlich  bei  Kindern 
aus  der  ärmsten,  in  feuchten,  dumpfen  Kellern  wohnenden 
Klasse,  zeigten  sich  zwischen  dem  eigentlichen  Masernaus- 
schlage  dunkle,  geröthete,  nicht  wegdrückbare,  verschieden  ge- 
staltete 1 lecke,  welche  offenbar  von  einer  kleinen  Blutergies- 


90 


sung  unter  der  Epidermis  herrührten.  Obwohl  sie  als  Be- 
weis für  die  schlechte  Blutcrasis  dieser  Kinder  betrachtet 
werden  konnten,  äusserten  sie  doch  auf  den  normalen  Ver- 
lauf der  Krankheit  durchaus  keinen  störenden  Einfluss. 

4.  Morbus  Brightii.  Die  Albuminurie  wurde  zwar 
nicht  selten  als  Begleiterin  des  Scharlach-  imd  zuweilen  auch 
des  Wechselfiebers  beobachtet;  doch  kamen  nur  wenige  Fälle 
zur  Behandlung,  wo  sie,  nebst  der  begleitenden  Wassersucht, 
die  Haupterscheinung  der  Krankheit  bildete.  Die  Bright- 
sche  Krankheit  ist  in  symptomatischer  und  pathologischer 
Beziehung  so  vielfach  beschrieben  worden,  dass  ein  ausführ- 
liches Eingehn  auf  diesen  Gegenstand  hier  am  Unrechten  Orte 
sein  würde.  Deshalb  schien  es  am  zweckmässigsten , nur 
einige  Fälle,  die  vorzugsweise  ein  therapeutisches  Interesse 
darbieten,  hier  mitzutheilen. 

Erster  F all. 

Ein  eilfjähriges  Mädchen  von  torpidem,  scrophulösem  Ha- 
bitus, deren  Gesundheit,  mit  Ausnahme  eines  ^wöchentli- 
chen Keuchhustens , und  einer  Impetigo  capitis  granulata, 
stets  imgestört  gewesen,  wurde  fünf  Tage  vor  seiner  Meldung 
in  der  Klinik  von  ödematöser  Anschwellung  der  untem  Ex- 
tremitäten und  des  Gesichts,  namentlich  der  untern  Augen- 
lider, befallen.  Ein  spannendes  Gefühl  in  der  Nierengegend, 
vorzugsweise  beim  tiefen  Druck  auf  der  rechten  Seite  sich 
zum  lebhaften  Schmerze  steigernd,  leichte  Beschwerden  beim 
Urinlassen  und  Brechneigung  begleiteten  diesen  Zustand. 
Der  Urin  war  hell , quantitativ  beträchtlich  vermindert, 
schäumte  stark  beim  Schütteln  des  Glases  und  ergab  bei  der 
Untersuchung  durch  Siedehitze  und  Salpetersäure  einen  be- 
deutenden Gehalt  von  Albumen.  Fieber  war  nicht  vorhanden. 
Nach  Aussage  der  Mutter  hatte  sich  die  Krankheit  plötzlich, 
ohne  dass  ein  acutes  Exanthem  vorausgegangen  war,  entwik- 
kelt,  und  im  Verlaufe  ivenigerTage  schnell  zugenommen.  In 
diesem  Falle  liess  sich  ein  inniger  Zusammenhang  zwi- 
schen dem  Hydrops  albuminosus  und  einer  entzündli- 
chen Reizung  der  Nieren,  besonders  der  rechten,  nicht  ver- 


9i 


kennen,  imd  eine  dieser  Annahme  entsprechende  antiphlogisti- 
sche Behandlung  hatte  einen  schnellen  und  bleibenden  Erfolg. 
Topische  Blutendeerungen  in  der  Nierengegend,  Einreibungen 
derselben  mit  grauer  Salbe,  der  innere  Gebrauch  eines  Pul- 
vers aus  Calomel  gr.  \ imd  Pulv.  Ilb.  Digitalis  gr.  { Mor- 
gens imd  Abends  genommen,  in  Verbindung  mit  ruhiger 
Lage  im  Bette  imd  sparsamer  Diät,  führten  nach  acht  Tagen 
vollständige  Genesimg  herbei.  In  der  Nacht  zwischen  dem 
vierten  imd  fünften  Tage  trat  eine  reichliche  Transpiration 
der  bisher  trocknen  Haut  ein,  die  Schmerzhaftigkeit  der  Nie- 
rengegend verschwand  gleichzeitig  mit  der  ödematösen  An- 
schwellung imd  der  in  gehöriger  Menge  entleerte  Urin  nahm 
seine  natürliche  Beschaffenheit  wieder  an. 

Zweiter  Fall. 

Ein  45 jähriger,  gesunder,  dem  Branntweintrinken  sein- 
ergebener  Mann  hatte  sich  vier  Wochen  zuvor  bei  einer  zur 
Nachtzeit  in  der  Nähe  seiner  Wohnung  ausgebrochenen  Feu- 
ersbrunst stark  erkältet.  Schon  am  folgenden  Tage  traten 
fieberhafte  Zufälle,  Kopfschmerz,  Uebelkeit,  Schwindel  und 
leichte  Brustbeklemmung  ein,  wozu  sich  bald  ödematöse 
Anschwellung  der  untern  Extremitäten  bis  zum  Knie,  imd 
des  Unterhautzellgewebes  am  obern  Theile  des  Halses  hin- 
zugesellte, so  dass  an  dieser  Stelle  eine  teigige,  sackartig 
herabhängende  Geschwulst  gebildet  war,  deren  Umfang  wäh- 
rend der  Nacht  sich  bedeutend  verminderte,  am  Tage  zunahm 
und  gegen  Abend  sein  Maximum  erreichte.  Die  Untersu- 
chung des  in  reichlicher  Menge  gelassenen  imd  stark 
sauer  reagirenden  Harns  ergab  einen  bedeutenden  Eiweiss- 
gehalt desselben.  Da  bei  diesem  Kranken  der  Mangel  aller 
entzündlichen  Erscheinungen  in  den  Nieren  die  Anwendung 
der  antiphlogistischen  Methode  nicht  erforderte,  die  Krankheit 
Gehn  ehr,  wie  in  den  meisten  Fällen,  in  einer  krankhaft  ver- 
änderten Blutmischung  ihren  Grund  zu  haben  schien,  so 
wurde,  um  unmittelbar  auf  letztere  einzuwirken,  das  Jodeisen 
in  form  des  Syrupus  Fern  jodati  in  Gebrauch  gezogen,  und 
vom  19.  December  1843  an  acht  Wochen  hindurch  in  stei- 


92 


gender  Dosis,  von  \ — 1 Gran , dreimal  täglich  fortgesetzt. 
Der  Erfolg  dieses  Versuchs  war  auffallend  günstig,  indem 
nicht  allein  das  Allgemeinbefinden  des  Kranken  sich  merklich 
besserte,  sondern  auch  die  ödematösen  Anschwellungen  und 
mit  denselben  jede  Spur  von  Eiweiss  im  Urin  verschwanden. 
Der  Kranke  ist  jetzt  ein  gesunder,  kräftiger  Mann,  der  nicht 
die  geringste  Spur  mehr  der  Gefahr  drohenden  Krankheit 
darbietet. 

D ritt  er  F all. 

Ein  48 jähriger,  sonst  gesunder  Nachtwächter  hatte  vor 
vier  Tagen  eine  Anschwellung  der  untern  Extremitäten  be- 
merkt. Bei  seiner  Vorstellung  in  der  Klinik  zeigte  sich  je- 
doch nicht  allein  eine  ödematöse  Geschwulst  der  Unterschen- 
kel bis  zum  Knie , sondern  auch  im  Unterleibe  Hess  sich 
Fluctuation  wahmehmen.  Der  Urin  war  stark  eiweisshaltig. 
Störungen  des  Allgemeinbefindens,  Kopfschmerz,  Beklemmung 
waren  liier  wie  im  vorigen  Falle  zugegen.  Die  einmal  be- 
obachtete günstige  Wirkung'  des  Syrup.  Fern  jodati  veran- 
lasste  eine  Wiederholung  des  Versuchs  bei  diesem  Kranken, 
die  eben  so  glücklich  ausfiel.  Nach  einem  sechswöchentli- 
chen Gebrauch  des  Syrups  war  der  Kranke  vollkommen  her- 
gestellt,  und  hat  auch  bisher  kein  Recidiv  seines  früheren 
Uebels  erlitten. 

Herr  Dr.  Schleussner  aus  Kopenhagen  hatte  die  Güte, 
die  Untersuchung  des  Urins  und  des  Bluts  dieses  Kranken 
vorzunehmen ; die  von  ihm  erhaltenen  Resultate  waren  folgende : 
Analyse  des  Harns. 


Spezif.  Gewicht  1,007. 
1000  Theile  enthielten: 


Wasser  .... 

. . 981,51 

Festen  Rückstand  . 

. . 18,49 

Salze 

. . 3,02 

Harnsäure  .... 

. . 0,17 

Harnstoff  .... 

. . 1,52 

Eiweiss 

. . 4,08 

Extraktivstoff  . . 

. . 9,70 

9 3 


Analyse  des  Bluts. 
1000  Theile  enthielten: 


Wasser 816,83 

Festen  Rückstand  . . . . 183,17 

Fibrine 6,1529 

Fett  aus  der  Fibrine  . . . 0,0071 

Fett  aus  dem  Serum  . . . 2,78 

Blutrotk 57,9629 

Eiweiss 62,39 

Extraktivstoff 50,57 

Salze 3,98 


Von  Harnstoff  war  keine  Spur  aufzufinden. 

Wenn  auch  der  Erfolg  eines  Mittels  in  zwei  Fällen  noch 
nicht  genügen  kann,  um  demselben  die  Heilung  der  Krank- 
heit zuzuschreiben,  so  fordert  er  doch  jedenfalls  zur  wieder- 
holten Anwendung  auf,  zumal  in  einer  Krankheit,  deren  streng 
rationelle  Behandlung  bei  unsem  bisher  nur  mangelhaf- 
ten Kenntnissen  kaum  möglich  ist.*)  Wo  die  Krankheit 
mit  so  entschieden  ausgesprochenen  Symptomen,  wie  im  er- 
sten der  mitgetheilten  Fälle,  auftritt,  da  liegt  allerdings  auch 
die  zu  erfüllende  Indication  sehr  nahe.  Allein  in  der  Regel 
zeigt  sich  die  Krankheit  nach  Art  des  zweiten  und  dritten 
Falls,  und  befällt  meistens,  wie  auch  in  der  Klinik  beobach- 
tet wurde,  solche  Individuen,  die  sich  viel  in  freier  Luft  be- 
wegen, allem  Wechsel  der  Witterung  blossgestellt,  und  dem 


*)  Ich  habe  in  mehreren  andern  Fällen  dieser  Krankheit  grossen, 
wenn  auch  nur  temporären  Erfolg  vom  Jodeisen  beobachtet,  den  schnell- 
sten hei  einem  fremden  Officier,  im  Anfang  der  dreissiger  Jahre,  der  we- 
gen einer  mit  Albuminurie  verbundenen  Leberaffektion  von  seinen  Aerz- 
ten  nach  Carlsbad  geschickt  worden  war.  Dort  verfiel  er  in  Ascites  und 
Anasarca,  und  kam  in  einem  verzweifelten  Zustande,  mit  bedeutender 
Dyspnoe  und  sehr  geringer  Harnabsonderung  nach  Berlin.  Die  Schenkel 
waren  zu  dem  Dreifachen  ihres  normalen  Umfangs  geschwollen  und  von 
ausserordentlicher  Härte.  Der  Gebrauch  des  Jodeisens  und  des  Wildlin- 
ge1 Hassers  beseitigte  in  drei  Wochen  den  Hydrops  gänzlich  und  bewirkte 
auch  eine  Abnahme  des  Albumcn  im  Urin.  Der  Kranke  reisete  schein- 
bar genesen  ab,  allein  nach  einem  halben  Jahre  kehrten,  wie  mir  brief- 
lich gemeldet  wurde,  die  früheren  Symptome  zurück.  R. 


94 


Genüsse  der  Spirituosa  ergeben  sind,  Schiffer , Fuhrleute, 
Nachtwächter  u.  s.  w. 

5.  Diabetes  mellitus.  Diese  überhaupt  seltene 
Krankheit  kam  auch  in  der  Poliklinik  nur  einmal,  bei  einem 
36jährigen  Zuckersieder,  vor.  Sie  begann  vor  sechs  Monaten, 
ohne  deutliche  V eranlassung,  mit  einem  plötzlich  ausbrechen- 
den heftigen  Durste,  zu  dem  sich  bald  ein  bedeutend  ver- 
meinter Urinabgang  gesellte.  Als  der  Kranke  in  der  Klinik 
Hülfe  suchte,  hatten  diese  Symptome  den  höchsten  Grad  er- 
reicht, so  dass  clie  Menge  des  in  24  Stunden  entleerten  Urins 
eilf  Quart  betrug.  Spröde,  trockene  Haut,  Röthe  der  Zunge, 
starke  Abmagerung  und  Verfall  der  Kräfte  trotz  imgestörten 
Appetits  und  reichlicher  Mahlzeiten,  so  wie  vollkommenes  Er- 
loschensein der  männlichen  Potenz  wurden  bei  diesem  Kran- 
ken, wie  fast  in  allen  Fällen  des  Diabetes  mellitus,  beobachtet. 
Der  stark  sauer  reagirende  Urin,  von  dem  verstorbenen  Dr. 
Franz  Simon  chemisch  untersucht,  enthielt  in  einem  Quart 
zwei  Unzen  und  drei  Drachmen  Zuckerstoff.  Sein  spezifi- 
sches Gewicht  betrug  1034.  Bei  der  gänzlichen  Unwirksam- 
keit aller  bisher  gegen  den  Diabetes  mellitus  empfohlenen 
Mittel  wurde  diesem  Kranken , in  Verbindung  mit  der  rein 
animalischen  Kost,  der  Syrupus  Fern  jodati  in  steigender 
Dosis  verordnet.  Der  Erfolg  war  anfangs  auffallend  günstig, 
indem  gleichzeitig  mit  der  Abnahme  des  Durstes  und  der 
verminderten  Quantität  des  Urins  die  Reproduktion  sich  we- 
sentlich verbesserte.  Allein  diese  günstige  Veränderung  war 
leider  nur  von  kurzer  Dauer : zur  Steigerung  der  schon  ge- 
nannten Symptome  gesellte  sich  noch  eine  täglich  zunehmende 
Schwäche  des  Sehvermögens,  ein  quälender,  später  mit  einem 
reichlichen  eiterartigen  Auswurfe  verbundener  Husten.  L nter 
zunehmender  Entkräftung  und  Abmagerung  erfolgte  drei- 
viertel Jahr  nach  seiner  Vorstellung  in  der  Klinik  der  Tod 
des  Kranken. 

24  Stunden  nach  dem  Tode  wurde  die  Section  vorge- 
nommen. 

Geringe  Ansammlung  von  Serum  fand  sich  in  beiden 


Pleurasäcken  vor.  Die  linke  Lunge  enthielt  in  ihrem  obern 
Lappen,  welcher  stark  an  der  Rippenpleura  adhärirte,  zahl- 
reiche crude  Tuberkeln.  Letztere  fanden  sich  auch  in  dem 
obern  und  mittlern  Lappen  der  rechten  Limge,  wo  sich 
bereits  eine  umfangreiche  tuberculöse  Excavation  von  der 
Grösse  eines  Pliilmereies  gebildet  hatte.  Die  Leber  war 
sehr  voluminös  und  blutreich,  die  Milz  etwas  geschwunden, 
welk,  im  Innern  von  braunrother  Farbe  und  matschig  weichem 
Gefüge.  Die  Yena  portarum  zeigte  sich  in  ihrem  ganzen 
Verlaufe  bis  zur  Einsenkung  in  die  Fossa  transversa  der 
Leber  vollkommen  normal.  Beide  Nieren  waren  sehr  hyper- 
trophisch , fest  imd  blutreich , die  Harnleiter  normal , die 
Blase  etwas  erweitert  und  in  ihren  Wandungen  bedeutend 
verdickt.  — Herr  Dr.  Remak,  welcher  die  Güte  hatte,  eine  ge- 
naue Untersuchung  der  erkrankten  Nieren  vorzunehmen,  find 
eine  ungewöhnliche  Umfangzunahme  der  Corticalsubstanz,,  be- 
dingt durch  Y erdickung  der  Nierenkanälchen  und  vorzugsweise 
der  mit  Blut  überfüllten  MALPiGm’schenDriischen,  die  sich  schon 
dem  blossen  Auge  in  überraschender  Menge  darstellten.  Die 
Kanälchen  waren  nicht  durchscheinend,  sondern  von  weisslicher 
Farbe,  welche  von  einer  Ueberfüllung  der  äussem  Zellen- 
schicht der  Kanälchen  mit  fettähnlichen  Körperchen  herrührte, 
die  bei  der  Behandlung  mit  Aether  und  kochendem  Alkohol 
unkenntlich  wurden.  Auch  freies  Fett  in  Form  grösserer 
Kugeln  Hess  sich  stellenweise  innerhalb  der  Kanälchen  und 
auf  der  Schleimhaut  der  Nierenkelche  wahrnehmen.  Das 
Zellgewebe,  welches  die  Nierenkanälchen  unter  einander  und 
mit  den  MALPicm’schen  Driischen  verbindet,  war  verhärtet. 
Zucker  Hess  sich  aus  der  Nierensubstanz  auf  keine  Weise 
darstellen. 

Wenn  auch  in  diesem  Falle  wichtige  Veränderungen  in 
den  Nieren  und  der  Blase  gefunden  winden,  so  würde  man 
doch  gewiss  mit  dem  grössten  Unrecht  den  Sitz  der  Krank- 
heit in  die  uropoetischen  Organe  verlegen.  Vielmehr  lässt 
sich  mit  Bestimmtheit  annehmen,  dass  die  Texturveränderun- 
gen derselben  nicht  Ursache,  sondern  Folge  des  Diabetes 


96 


mellitus  waren.  Es  unterliegt  wolil  keinem  Zweifel,  dass  die 
durch  einen  congestiven  Vorgang  bedingte  Hypertrophie  der 
Nieren  in  dem  Heiz  des  zuckerhaltigen  Urins  ihren  ersten 
Grund  hatte,  und  auch  die  Verdickung  der  Muskelhaut  der 
Harnblase  lässt  sich  aus  der  gesteigerten  Aktion  der  Muskel- 
biindel,  als  Folge  der  bedeutend  vermehrten  Diurese  ohne 
Schwierigkeit  erklären.  Die  Vorgefundene  Alteration  der 
Milz  ist  bei  ihrem  häufigen  Vorkommen  in  den  verschieden- 
sten Blutkrankheiten  von  keinem  erheblichen  Belang;.  Wich- 
tiger  ist  die  schnell  tödtlich  gewordene  Erkrankung  der  Lun- 
gen, die  ausgebreitete  Tuberculose,  welche  in  der  Hegel  das 
Leben  der  Diabetischen  beschliesst,  sich  in  diesem  Falle  je- 
doch durch  einen  ungewöhnlich  raschen  Verlauf  auszeichnete. 
Sie  ist  ein  entscheidendes  Argument  für  die  Erkrankung  der 
gesammten  Blutmasse,  welche  in  der  Pathologie  des  Diabetes 
mellitus  die  wichtigste  Rolle  spielt. 

6.  Rhacliitis.  Die  Erscheinungen  dieser  Krankheit 
boten,  so  weit  sie  in  der  Klinik  beobachtet  wurde , nichts 
Neues  dar.  Um  so  mehr  nahmen  die  chemischen  Charaktere 
des  Urins  und  der  Knochen,  und  überhaupt  die  pathischen 
Veränderungen  der  letztem,  die  in  der  neuesten  Zeit  von 
Güehin  beschrieben  worden  sind,  die  Aufmerksamkeit  in  An- 
spruch. Herr'  Dr.  Ephraim  untersuchte  den  Urin  von  vier 
in  der  Poliklinik  behandelten  Kindern,  so  wie  das  Oberschen- 
kelbein eines  zweijährigen  rhachitischen  Knaben,  der  an  einer 
Bronchitis  gestorben  war,  und  hat  die  gewonnenen  Resultate, 
die  im  Auszuge  hier  folgen,  in  seiner  Inauguraldissertation 
(Ad  Morphologiam  rhachitidis  Symbolae  nonnullae.  Berolim 
1843)  mitgetheilt.  Die  Untersuchungsmethode  war  im  All- 
gemeinen dieselbe,  deren  sich  auch  Dr.  Simon,  unter  dessen 
Leitung  diese  Analysen  vorgenommen  wurden,  zu  bedienen 
pflegte  (Medizin.  Chemie,  I.  p.  354).  Unter  R.  findet  man 
die  mittleren  Verhältnisse  des  rhachitischen  Urins,  von 
Dr.  Ephraim  aus  seinen  vier  Analysen  zusammengestellt; 
unter  K.  die  Zusammensetzung  des  Urins  eines  zweijährigen 
gesunden  Kindes,  welchen  der  Verf.  des  Vergleichs  halber 


genau  untersuchte;  clie  dritte  Reihe  (E.)  enthält  die  mittleren 
Verhältnisse  aus  den  von  Berzelius,  Becquerel,  Lecanu, 
Simon  und  Lehmann  angestellten  Analysen  des  Urins  er- 
wachsener Personen.  1000  Theile  Ham  enthielten: 


Harnstoff  .... 
Harnsäure  .... 
F euerbestänclige  Salze 
Sehwefelsaures  Kali  . 
Phosphorsaures  Natron 
Erdphosphate  . . . 

Chiorsaures  Natron  . 
Milchsäure  Alkalien  . 


R. 


20  . 1 

1 . 8 


42  . 13 
6 . 6 
5 . 4 

. 1 . 15 


K. 

27  . 65 
0 . 34 
36  . 52*) 

8 . 57 

9 . 84 
0 . 57 


E. 
41  . 1 
1 . 5 
25  . 

9 . 09 
5 . 71 
1 .75 


Hieraus  ergiebt  sich  mm  folgendes  Resultat: 

1)  Die  Quantität  der  feuerbeständigen  Salze  im  rhachi- 
tischen  Urin  übersteigt  immer  die  im  Urin  Erwachsener  vor- 
kommende, und  auch  die  bedeutende  in  der  Analyse  K. 

2)  Die  Erdphosphate  und  die  Harnsäure  sind  bedeutend 
vermehrt,  der  Harnstoff  dagegen  vermindert. 

3)  Die  Reaction  des  Urins  war  immer  sauer,  Sedimente 
aber  fehlten.  Stand  der  Urin  einige  Stunden,  so  wurde  die 
Reaktion  alknählig  alkalisch,  und  die  Erdphosphate  schieden 
sich  als  Sedimente  aus.  Das  spezifische  Gewicht  betrug  im 
Mittel  1008. 

Die  Analyse  des  Oberschenkelbeins  eines  zweijährigen 
rhachitischen  Knaben  ergab  die  unter  E.  angegebenen  Pro- 
portionen , womit  unter  V.  die  von  Valentin  angestellte 
Analyse  des  Condyl.  femor.  ext.  eines  gesunden  Mädchens, 
unter  B.  Berzelius  Untersuchung  eines  nicht  näher  bezeich- 
neten  Knochens  von  einem  gesunden  Individuum  zusammen- 
gestellt -worden  ist. 


*)  Der  Verf.  bemerkt,  dass  diese  sehr  grosse  Quantität  feuerbestän- 
diger Salze  nicht  auf  einem  Fehler  der  Analyse  beruhe,  da  dieselbe  so- 
wohl von  ihm,  als  auch  von  Dr.  Simon  mit  dem  zu  anderer  Zeit  gelasse- 
nen Urin  desselben  Kindes  wiederholt  wurde  und  gleiche  Resultate  ergab. 

7 


98 


100  Theile  des  Knochens  enthielten: 


E. 

V. 

64  . 271 

35  . 73 

44  . 83 

31  . 29 

37  . 89 

4 . 02 

1 . 98 

0 . ' 42 

5 . 04 

B. 


Organische  Substanzen  . 

Anorganische  Substanzen  . 35  . 73  44  . 83  67  . 14 

Erdphosphate  31  . 29  37  . 89  54  . 64 

Kohlensaurer  Kalle  ....  4 . 02  1 . 98  1 . 20 

Kohlensaures  u.  salzs.  Natron  0 . 42  5 . 04  1 1 . 30 

/ 

Aus  diesen  und  andern  Analysen  gesunder  Knochen  von  In- 
dividuen verschiedener  Lebensalter  ergiebt  sich , dass  das 
mittlere  Verhältniss  der  anorganischen  Substanzen  der  Kno- 
chen gesunder  Kinder  zu  dem  Erwachsener  wie  29  : 32,  da- 
gegen das  der  rhachitischen  Knochen  zu  dem  Erwachsener 
wie  37  : 65 , und  zu  demjenigen  neugeborner  Kinder  wie 
37  : 58  ist. 

Die  wichtigen  Veränderungen  der  Knochen,  welche 
Guerin  beobachtet  und  beschrieben  hat,  veranlassten  auch 
den  Verf.  zur  genauen  Untersuchung  des  Knochengewebes, 
wobei  er  sich  der  Anleitung  und  Unterstützung  des  Herrn 
Dr.  Remak  zu  erfreuen  hatte.  Durch  diese  Untersuchung 
wurden  indess  Guerin’s  Ansichten  durchaus  nicht  be- 
stätigt, vielmehr  ergab  sich,  dass  die  Anschwellung  der  Epi- 
physen auf  einer  Vermehrung  der  Knorpelmasse  selbst  be- 
ruht. Die  Knorpelkörperchen  liegen  (wahrscheinlich  von 
einer  Flüssigkeit  umspült)  lose  in  ihren  Zellen,  und  können 
daher  unter  dem  Mikroskop  frei  herumschwimmend  beobachtet 
werden.  Die  Knochenkörperchen  und  die  Knochenkanäle  er- 
scheinen durchsichtiger,  und  enthalten  weniger  Kalksalze  als 
im  Normalzustände. 

Die  in  der  Klinik  übliche  Behandlung  der  Rhachitis 
bestand  hauptsächlich  in  dem  Gebrauche  der  Eisenpräparate 
(m  der  letzten  Zeit  auch  des  Syrupus  Eerri  jodati)  in  Ver- 
bindung mit  aromatischen  und  mit  Eisen  versetzten  Bädern. 
Reibungen  des  Bauchs,  des  Rückens,  der  Extremitäten  mit 
durchräucherten  Flanelllappen,  Herumkriechen  der  Kinder 
auf  freien  sonnigen  Sandplätzen  zeigten  sich  von  Nutzen. 
Nährende  Diät,  gutes  Bier,  Fleischspeisen,  mit  Vermeidung 


aller  Fette  und  mehlhaltiger  Nahrungsmittel,  waren  zum 
Gelingen  der  Kur  unerlässlich. 

Von  den  Blutvergiftungen  betrachten  wir  vorzugs- 
weise deu  typhösen  Process  und  die  acuten  Exantheme, 
t.  F ebris  typhosa. 

Olme  auf  die  Symptomatologie  dieser  so  vielfach  be- 
sprochenen Krankheit  ausführlicher  einzugehen,  sei  hier  nur 
der  Grundsätze  gedacht,  nach  denen  die  Behandlung  der 
Typhuskranken  in  der  Poliklinik  geleitet  wurde.  Jedes  ge- 
waltsame Eingreifen  in  den  noch  unbekannten  Krankheits- 
vorgang vermeidend,  weder  grosse  Dosen  des  Calomel,  noch 
andre  gepriesene  Mittel  in  Gebrauch  ziehend,  bezweckte  die 
Behandlung  nur  die  grösstmöglichste  Reinheit  des  Krank- 
heitsverlaufs, die  Verhütung  gefahrdrohender  Complicationen, 
und,  so  weit  es  anging,  Erhaltung  der  normalen  Blutkrasis, 
deren  Verlust  ohne  Zweifel  als  eins  der  wichtigsten  Momente 
in  der  Pathologie  des  Typhus  zu  betrachten  ist.  Ruhe  des 
Gemiiths  *)  imd  Körpers,  strenge  Diät  und  der  innere  Ge- 
brauch der  Aqua  oxymuriatica  reichten  in  den  gelinderen 
Fällen  der  Gastrico  - nervosa  gewöhnlich  zur  Pleilung  hin. 
Durch  strenges  Befolgen  der  Vorschrift,  die  Kranken,  auch 
wenn  die  funktionellen  Symptome  nicht  dazu  auffordern  soll- 
ten, täglich  zu  auscultiren,  war  man  oft  im  Stande,  die  spä- 
ter so  verderbliche  Bronchitis  schon  in  ihrem  Beginn  zu  ent- 
decken, und  durch  geeignete  Mittel  zu  unterdrücken.  Allge- 
meine Bluten tleerim  gen  wurden  in  solchen  Fällen  nur  selten 
angewendet:  man  beschränkte  sich  Gelmehr  auf  topische, 
liess  den  Gebrauch  des  Chlorwassers  aussetzen,  und  verord- 


*)  Kein  Moment  fand  ich  von  so  verderblichem  Einflüsse  auf  den 
Ausgang  des  Typhus  als  deprimirende  Gemüthsaffccte,  welche  der  Mensch 
mit  in  die  Krankheit  hineinnimmt.  Bei  Kaufleuten  mit  verunglückten 
Spekulationen  sah  ich  auch  den  gelindesten  Grad  tödtlich  werden.  Bei 
den  typhösen  Armen  bemühte  ich  mich  daher,  von  Anfang  an  die  Lage 
durch  Unterstützungen,  und  wenn  es  ein  Familienvater  war,  durch  Bewah- 
rung der  Seinigcn  vor  Noth  und  Elend  zu  verbessern.  Ich  stehe  nicht 
an,  in  diesen  Fällen  der  Beruhigung  des  Gemüths  einen  wesentlichen  An- 
theil  an  dem  günstigen  Erfolge  zuzuschreiben.  - . K. 

7* 


100 


nete  statt  desselben,  um  so  wenig  als  möglich  zu  schaden, 
eine  einfache  Oelemulsion.  Machte  die  Affektion  der  Lun- 
genschleimhaut  dennoch  Fortschritte,  traten  feuchte  Rasselge- 
räusche an  die  Stelle  der  sonoren  und  pfeifenden,  so  leisteten 
Vesicatore  auf  der  Brust,  und  der  innere  Gebrauch  der  Ar- 
nica  und  der  Senega  treffliche  Dienste,  zumal  in  diesem  Sta- 
dium der  Krankheit  der  Verfall  der  Kräfte  die  Anwendung 
excitirender  Mittel  zu  fordern  pflegt.  Was  die  Darmsymptome 
betrifft,  so  ging  gewöhnlich  Stuhlverstopfung,  Aveit  seltener 
Diarrhoe , der  Krankheit  voraus , und  bestand  auch  in  der 
Regel  wahrend  des  Verlaufs  derselben  fort.  Milde  Abführ- 
. mittel,  Oleum  Ricini,  Electuarium  lenitivum  wurden  Aron  Zeit 
zu  Zeit  verordnet,  und  die  Aqua  oxymuriatica  bis  nach  er- 
folgtem Stuhlgänge  ausgesetzt.  Die  Schmerzhaftigkeit  des 
Bauches  erforderte  nur  selten  die  Application  Aron  Blutegeln, 
die  überhaupt  hier  wenig  fruchten:  in  der  Regel  begnügte 
man  sich  mit  warmen  Fomentationen  und  Kataplasmen.  Kalte 
UeberschTäge  über  den  Kopf  und  örtliche  Blutentleerungen 
fanden  bei  vonvaltenden  Cerebralerscheinungen,  zumal  bei 
Kindern,  ihre  Anwendung.  Von  warmen  Bädern,  die  sonst 
zweckmässig  zur  Bethätigung  der  Haut  angewendet  werden, 
liess  sich  der  imgünstigen  Verhältnisse  Avegen,  worin  die 
Kranken  lebten,  sein  selten  Gebrauch  machen. 

Diese  einfache  Methode,  welche  Avenigstens  den  Vortheil 
der  Unschädlichkeit  vor  dem  Pruritus  praescribendi  voraus 
hat,  wurde  in  vielen  Fällen  unter  den'  ungünstigsten  Um- 
ständen von  glücklichem  Ei-folge  gekrönt,  so  dass  das 
Mortalitätsverhältniss  der  in  der  Klinik  behandelten  Typhus- 
kranken sich  günstig  gestaltete. 

In  ZAvei  Fällen  wurde  gegen  das  Ende  der  Krankheit 
Schwerhörigkeit  beobachtet.  Dieses  Symptom,  welches  gleich 
der  erhöhten  Empfindlichkeit  des  Ohrs  im  Anfänge  immer 
einen  stärkeren  Angriff  auf  das  Gehirn  bekundet,  verliert  in 
den  spateren  Stadien  diese  Bedeutung,  und  darf  daher  nicht 
beunruhigen.  Ein  wichtiger  Unterschied  zeigte  sich,  je  nach- 
dem die  Krankheit,  Erwachsene  oder  Kinder  befiel.  Bei  letz- 


101 


tem  war  ein  Vorherrschen  der  bronchitischen  Erscheinungen 
unverkennbar,  ja  der  ganze  typhöse  Process  schien  sich  in 
vielen  Fällen  allem  auf  der  Bronchialschleimhaut  zu  concen- 
triren,  während  der  Unterleib  fast  gar  keine  krankhafte  Er- 
scheinungen darbot.  Bei  Erwachsenen  hingegen  trat  die 
Krankheit  fast  immer  als  Abdominaltyphus  auf,  und  erst  nach 
der  vollständigen  Entwicklung  desselben  gesellte  sich  die 
LungenafFektion  hinzu. 

In  einem  Falle,  bei  einem  achtjährigen  Knaben,  bildeten 
sich  am  zwölften  Tage  der  Krankheit  auf  der  leicht  gerötheten 
Haut  des  Gesässes  erbsengrosse  Pusteln,  mit  lividem,  stellen- 
weise sogar  blutig  gefärbtem  Inhalt.  Obwold  diese  Erschei- 
nung immer  auf  eine  weit  vorgeschrittene  Dccomposition  der 
Säftemasse  hindeutet,  hatte  sie  doch  in  diesem  Falle  auf  den 
Verlauf  der  Krankheit  keinen  imgiinstigen  Einfluss. 

Bei  einem  andern,  eilfjährigen  Knaben  entwickelte  sich 
in  der  Reconvalescenz  am  ersten  Backzahn  ein  putrides  Ge- 
schwür, welches  das  Ausfallen  des  Zahns  bald  zur  Folge 
hatte,  und  alle  Charaktere  der  Stomacace  annahm.  Trotz 
der  Anwendung  der  kräftigsten  örtlichen  Mittel,  einer  stär- 
kenden Diät,  imd  des  innern  Gebrauchs  der  Chinarinde,  un- 
terlag das  bereits  durch  die  Krankheit  erschöpfte  Kind  dem 
von  neuem  auflodemden  Fieber. 

2.  Febris  scarlatina. 

Als  die  gefährlichste  Complication  des  Scharlachfiebers 
zeigte  sich  immer  die  mit  einem  Leiden  des  Gehirns  oder 
der  Meningen,  wofür  folgender  Fall  als  Beispiel  dienen  mag : 
Ein  sechsjähriges,  bisher  gesundes  Kind,  seit  mehreren  Ta- 
gen bereits  an  Fieberbewegungen  leidend,  verfiel  am  18.  Ja- 
nuar 1845  plötzlich  in  heftige,  mehrere  Stunden  anhaltende 
Convulsionen,  die  sich  auf  die  rechte  Körperhälfte  beschränk- 
ten. Lnmittelbar  nach  denselben  trat  ein  soporöser  Zustand 
ein,  aus  welchem  jedoch  das  Kind  mit  leichter  Mühe  zu  er- 
wecken war.  Beim  Versuche  zu  trinken  klagte  es  über  hef- 
tige Schinerzen  im  Halse,  welche  ein  wiederholtes  Regurgi- 
tiren  der  I lÜ3sigkeit  veranlassten,  und  wie  die  Untersuchung 


102 


ergab,  in  einer  intensiven  Entzündung  der  Rachenhöhle  ihren 
Grund  hatten.  Am  20.  brach  der  Scharlachausschlag;  am 
ganzen  Körper  hervor,  ohne  dass  jedoch  die  Intensität  der 
vom  Gehirn  her  drohenden  Zufälle  sich  verminderte.  Die 
Application  von  Blutegeln  an  den  Kopf,  kalte  Ueberschläge, 
Ableitungen  auf  den  Darmkanal  vermochten  den  Eintritt  wie- 
derholter heftiger  Convulsionen,  die  sich  ebenfalls  nur  auf  der 
rechten  Seite  des  Körpers  kund  gaben,  nicht  zu  verhüten. 
Dabei  war,  trotz  der  enormen  Pulsfrequenz  von  150  Schlä- 
gen, die  Temperatur  der  Haut  nicht  bedeutend  erhöht.  Am 
23.  war  das  Exanthem  völlig  verschwunden , die  Gehim- 
symptome  nahmen  jedoch  auf  beunruhigende  Weise  zu,  die 
Conviüsionen  wiederholten  sich,  das  Kind  konnte  nicht  mehr 
aus  dem  Sopor  geweckt  werden,  und  starb  trotz  der  Anwen- 
dung der  kräftigsten  Mittel  am  26.  Am  folgenden  Tage  ward 
die  Sektion  vorgenommen.  Ausser  einer  starken  Injektion 
der  Pia  mater  zeigten  sich  vermehrte  Consistenz  und  auffal- 
lende Blutüberfüllung  des  Gehirns  selbst,  so  dass  die  Schnitt- 
fläche ein  gleiclnnässiges  rosafarbenes  Colorit  darbot.  Exsu- 
dation war  weder  in  den  Ventrikeln  noch  an  der  Aussen- 
fiäche  des  Centralorgans  wahrzunehmen.  Im  untern  Lappen 
der  rechten  Lunge  fand  sich  ein  erbsengrosser,  in  Erweichung 
übergegangener  Tuberkel,  in  seiner  Umgebung  noch  einige 
Heinere.  Beide  Lungen  waren  vorzugsweise  in  ihren  untem 
Lappen  mit  Blut  angefüllt.  Die  Schleimhaut  des  Oesopha- 
gus war  lebhaft  geröthet,  und  zumal  in  der  Nähe  der  Cardia 
mit  Lagen  abgestossenen  Epitheliums  bedeckt;  die  Mucosa  • 
des  Magengrundes  war  im  Umfange  eines  Zweithalerstücks 
dunkel  braunroth , und  völlig  erweicht.  Auffallend  ist  die 
Halbseitiffkeit  der  Convulsionen,  während  die  sorgfältigste 

o 

Untersuchung;  des  Gehirns  kernen  Unterschied  in  den  bei- 
den  Hemisphären  auffinden  konnte.  Ausserdem  verdient  die 
Röthe  der  Speiseröhrenschleimhaut,  und  der  auf  derselben 
stattfindende  Dcsquamationsprocess,-  so  Avie  die  Erweichung 
der  Schleimhaut  des  Magengrundes  besonders  hervorgehoben 
zu  werden,  Avclche  letztere  sich  während  des  Lebens  durch 


103 


kein  einziges  Symptom  kundgegeben  hatte.  Diese  Magener- 
weichung kommt  überhaupt  bei  acuten  und  chronischen  Him- 
krankheiten,  ohne  dass  man  sie ' während  des  Lebens  vermu- 
then  komite,  nicht  selten  vor,  womit  Rokitansky’ s Beobach- 
tungen übereinstimmen. 

Prognostisch  nicht  minder  schlimm,  als  die  Complication 
mit  einem  Gehirnleiden  ist  die  Abweichung  des  Fiebercha- 
rakters vom  synochösen  zum  asthenischen,  typhösen.  Da 
Fälle  dieser  Art  bei  uns  nicht  häufig  Vorkommen,  so  dürfte 
die  folgende  Krankengeschichte  sowohl  in  pathologischer,  wie 
in  therapeutischer  Hinsicht  nicht  ohne  Interesse  sehr: 

Ein  neunjähriger  Knabe  ward  vor  sieben  Tagen  von 
heftigen  Leibschmerzen  und  darauf  folgendem  Erbrechen  be- 
fallen,  wogegen  Blutegel  auf  den  Unterleib  und  ein  paar 
Dosen  Rheum  verordnet  wurden.  Trotz  reichlicher  Stuhl- 
entleerungen besserte  sich  der  Zustand  des  Kindes  nur  in  so 
weit,  als  die  quälenden  Schmerzen  im  Unterleibe  und  das 
Erbrechen  nachliessen : dafür  bildete  sich  allnrählig  ein  fie- 
berhaftes, zur  Nachtzeit  mit  Delirien  verbundenes  Leiden 
heraus,  welches  die  Mutter  nöthigte,  in  der  Klinik  Hülfe  zu 
suchen. 

Bei  der  ersten  Untersuchung  fand  man  den  Knaben  in 
Somnolenz  unbeweglich  auf  dem  Rücken  liegen,  aus  welchem 
Zustande  er  jedoch  leicht  geweckt  werden  konnte.  Aus  der 
Nase  floss  eine  corrodirende  Flüssigkeit,  die  Mundwinkel  wa- 
ren wund,  wie  geätzt.  Die  intensiv  rothe  Zunge  zeigte  hie 
und  da  weisse  Flecken,  die  sich  weit  nach  hinten  über  das 
geröthete  Yelum  palatinum  und  den  Pharynx  erstreckten. 
Aus  dem  geöffneten  Munde  drang  ein  widriger,  fauliger  Ge- 
ruch hervor.  Das  Gesicht  war  bleich,  und  contrastirte  stark 
mit  der  Farbe  des  Körpers.  Der  Hals,  an  dessen  rechter 
Seite  die  Lymphdriisen  angeschwollen  waren,  und  die  Brust 
zeigten  eine  schmutzig  livide,  auf  den  Fingerdruck  momentan 
verschwindende  Röthe ; die  Haut  war  spröde,  trocken,  heiss ; 
der  Puls  klein,  leicht  zu  comprimiren,  von  144  Schlägen  in 
der  Minute , während  in  derselben  Zeit  nur  28  Inspiratio- 


104 


nen  erfolgten,  der  Urin  sparsam  und  dunkel.  Die  Hautrötbe 
in  Verbindung  mit  den  anginösen  Erscheinungen  und  dem 
heftigen  Fieber  Hess  das  Vorhandensein  eines  Scharlachfiebers 
nicht  verkennen.  Allein  die  Beschaffenheit  der  Röthe,  der 
torpide  Charakter  des  Fiebers,  die  ätzende  Eigenschaft  des 
Secrets  der  Nasenschleimhaut,  der  faulige  Geruch  aus  dem 
Munde,  die  aphthöse  Eruption  in  demselben,  und  endfich  die 
Mitleidenschaft  des  Sensoriums,  alle  diese  Symptome  sprachen 
dafür,  dass  man  es  in  diesem  Falle  mit  einer  der  gefährHch- 
sten  Formen  dieser  Krankheit,  der  Febris  scarlatina  putrida, 
zu  thun  hatte.  Die  Prognose  musste  in  Betracht  des  vorge- 
rückten Stadiums  der  Krankheit  sehr  imgiinstig  gestellt 
werden,  und  die  Heilung  war  wohl  nur  noch  von  der  Erzie- 
lung eines  mächtigen  Eindrucks  auf  den  Organismus,  und  der 
Erzeugung  einer  kräftigen  Reaktion  in  demselben  zu  erwarten. 
Diesen  Zweck  erreicht  man  am  besten  durch  die  V erbindung 
der  Kälte  mit  der  Erschütterung,  und  es  wurde  demgemäss 
verordnet,  den  Kranken  alle  zwei  Stunden  im  warmen  Bade 
mit  kaltem  Wasser  zu  übergiessen,  in  der  Zwischenzeit  aber 
den  Körper  mit  kaltem  Essig  und  Wasser  zu  waschen.  In- 
nerlich erhielt  er  einen  Tamarindenaufguss  mit  V einstein- 
säure.  Gegen  Abend  (den  19.  November)  stieg  die  Frequenz 
des  Pulses  auf  160  Schläge  in  der  Minute;  der  comatöse 
Zustand  nahm  zu  imd  der  Kranke  konnte  aus  demselben  nur 
noch  durch  die  Begiessungen  erweckt  werden.  V ährend 
der  Nacht  trat  indess  ein  ruhiger  Schlaf  ein;  gegen  ein  Uhr 
brach  ein  duftender  Sclnveiss  über,  den  ganzen  Körper  aus, 
mit  welchem  das  Bewusstsein  zurückkehrtc.  Am  20.  hatte 
sich  das  Aussehen  des  kleinen  Kranken  um  \ ieles  gebessert. 
Schon  das  klare  Auge  deutete  eine  grössere  Freiheit  des  Sen- 
soriums an,  die  sich  auch  in  den  Antworten  des  Knaben  auf 
die  ihm  vorgelegten  Fragen  kund  gab.  Die  Pulsfrequenz 
hatte  sich  auf  120  Schläge  ermässigt,  die  Haut  war  weich, 
duftend,  während  das  Exanthem  in  voller  Bllithe  stand,  und 
am  Halse  bereits  die  Desquamation  begann.  Auch  der  Aus- 
fluss aus  der  Nase,  die  sogenannte  Coryza  scarlatinosa,  che  so 


105 


häufig  eine  der  schlimmsten  Nachkrankheiten  des  Scharlach- 
fiebers bildet,  hatte  abgenommen.  Dagegen  verharrten  die 
übrigen  Localaffektionen,  sowohl  die  putrid-aphthöse,  als  die 
anginöse  und  die  in  prognostischer  Hinsicht  immer  höchst 
ungünstige  Geschwulst  am  Halse  auf  derselben  Höhe,  wie 

O Ö 

am  Tage  zuvor.  Bei  dem  jetzigen  Zustande  der  Haut 
war  für  die  kalten  Begiessungen  durchaus  keine  Indication 
mehr  vorhanden.  Die  Aufgabe  war  vielmehr,  den  kriti- 
schen Trieb  nach  der  Haut  zu  unterstützen,  wozu  sich  lau- 
warme  Waschungen  mit  gleichen  Theilen  Essig  und  Was- 
ser am  besten  eigneten.  Zum  innern  Gebrauche  wurde  die 
Aqua  oxymuriatica  verordnet,  die  Temperatur  des  Kranken- 
zimmers auf  15°  R.  bestimmt.  Am  22.  war  die  Besserung 
des  Kindes  im  Fortscbreiten  begriffen;  die  Desquamation 
verlief  regelmässig,  sowohl  auf  der  äussern  Haut,  wie  auf  den 
Schleimhäuten,  indem  mit  dem  Stuhlgang  und  Urin  viel  Epi- 
thehumtrümmer  abgingen.  Die  Zunge  hatte  das  bekannte 
erdbeerartige  Ansehn.  Der  Puls  machte  nur  noch  102  Schläge 
in  der  Minute;  Haut-  und  Urinsecretion  gingen  normal  von 
Statten,  und  im  Urin  zeigte  sich  ein  starkes  Sediment.  Nur 
die  Localaffektion  der  Cervicaldrüsen  verrieth  noch  keine  Nei- 
gung zur  Besserung.  Die  Therapie  beschränkte  sich  jetzt 
auf  die  Darreichung  gelinder  Purgantia,  um  den  etwas  ange- 
haltenen Stuhlgang  zu  befördern.  — Am  folgenden  Tage 
ergab  die  Untersuchung  zwei  nicht  unwichtige  Veränderun- 
gen im  Befinden  des  Kranken:  1)  Die  Geschwulst  am  Halse 
hatte  ihre  Härte  verloren  und  schien  zur  Eiterung:  zu  neigen. 
2)  Der  Urin  war  plötzlich  sehr  sparsam  und  dunkel  gewor- 
den, eine  Erscheinung,  die,  wenn  sie  in  der  Desquamations- 
periode des  Scharlachs  vorkommt,  immer  den  Verdacht  auf 
eintretenden  Hydrops  lenken  muss.  Zur  Beförderung  der 
Diurese  wurde  reichliches  Trinken  von  Selterserwasser  em- 
pföhlen, die  Geschwulst  des  Halses  aber  mit  warmen  Kata- 
plasmen  bedeckt.  Der  nächste  Tag  rechtfertigte  in  der  Tliat 
die  am  23.  lautgewordenen  Befürchtungen.  Es  zeigte  sich 
eine  ödematöse  Anschwellung  der  untern  Augenlider,  wäh- 


106 


rend  die  Untersuchung  des  Urins  schwache  Spuren  von  Al- 
buinen in  demselben  entdecken  liess.  Zur  Beförderung  der 
Diurese  wurde  ein  Infus.  Hb.  Digital,  (gr.  vm.)  3iij,  mit 
Kali  aceticum  ?ij  und  Syrup.  simpl.  ^j,  stündlich  einen  Ess- 
löffel zu  nehmen,  verordnet.  Beunruhigend  war  noch  eine 
umschriebene  livide  Röthe  der  rechten  Wange,  die  in  Ver- 
bindung mit  dem  Oedem  und  der  vorausgegangenen  Krank- 
heit die  Entwicklung  einer  Noma  wohl  befürchten  lassen 
konnte:  es  fehlte  jedoch  in  diesem  Falle  der  faulige  Geruch 
aus  dem  Munde,  der  schon  im  Beginn  der  Noma  fast  nie 
vermisst  wird.  Am  25.  waren  auch  die  aufNoma  deutenden 
Erscheinungen  bereits  verschwunden,  doch  hatte  sich  dafür 
ein  neues  sehr  lästiges  Symptom,  Schwerhörigkeit,  ein- 
gefunden. Im  Verlaufe  des  Scharlachfiebers  wird  das  Ge- 
hörorgan nicht  selten  afficirt.  Im  ersten  Stadium  der  Krank- 
heit deutet  ein  sehr  feines  Gehör  auf  phrenitische  Affektion 
und  drohende  Convulsionen , in  den  spätem  Stadien  bildet 
sich  zuweilen  eine  Otitis  im  Innern  der  Paukenhöhle,  indem 
sich  die  Entzündung  der  Rachenschleimhaut  durch  die 
EusxACHi’sche  Trompete  auf  das  innere  Ohr  fortpflanzt,  imd 
dann  zuweilen  Paralysis  facialis  derselben  Seite  veranlasst; 
auch  kann  die  Knochensubstanz  des  Felsenbeins  selbst  krank- 
haft afficirt  werden,  Tuberkelstoff  sich  in  demselben  ablagern, 
und  eine  langwierige  Otorrhöe  zur  Folge  haben.  — Die  Urin- 
ausleerung erfolgte  reichlicher  als  an  den  vorhergehenden  Tagen, 
die  Desquamation  auf  der  äussern  Haut,  wie  auf  den  Schleim- 
membranen ging  normal  von  Statten.  Die  Halsgeschwulst 
näherte  sich  der  Maturation.  Am  26.  wurde  die  Geschwulst 
geöffnet,  und  ein  dickes,  stinkendes,  mit  vielem  Eiter  ver- 
mischtes Blut  aus  derselben  entleert.  Der  ganze  Zustand 
des  Knaben  liess  ein  stetes  Fortschreiten  zur  Besserung  nicht 
verkennen.  — Leider  wurde  am  folgenden  Tage  der  Knabe 
von  seinen  Eltern  dem  Klinikum  entzogen,  so  dass  eine  fer- 
nere genaue  Beobachtung  desselben  unmöglich  war.  Doch 
brachte  man  zur  Kunde,  dass  die  Genesung  vollständig  er- 
folgte. 


107 


Unter  den  Nachkrankheiten  des  Scharlachfiebers  kamen 
hyclropische  Affektionen  am  häufigsten  vor.  In  einigen  Fäl- 
len war  die  üdematöse  Anschwellung  des  Gesichts,  der  un- 
tern Extremitäten  und  die  Auftreibung  des  Unterleibs  über- 
haupt das  erste  Symptom,  welches  Aufsehn  erregte,  und  die 
Eltern  antrieb,  ärztliche  Hülfe  in  Anspruch  zu  nehmen.  Bei 
genauerer  Nachforschung  erfuhr  man  dann,  dass  vor  einigen 
AVochen  ein  fieberhafter,  mit  Schlingbeschwerden  verbundener 
Ausschlag  vorausgegangen  sei;  zuweilen  Hessen  sich  selbst 
noch  Spuren  der  Desquamation  entdecken.  Die  Beschaffen- 
heit des  Urins  wechselte,  wenn  auch  seine  Quantität  immer 
mehr  oder  weniger  beschränkt  war.  In  fünf  Fällen  enthielt 
er  nur  zweimal  Albumen,  wahrscheinlich  von  beigemischtem 
Cruor,  welcher  den  Urin  dieser  Kranken  dunkel  rothbraun 
färbte;  dagegen  Hess  sich  in  drei  andern  Fällen  in  dem  kla- 
ren, hellgelben  Ham  keine  Spur  von  Eiweiss  auffinden. 
Schmerzhaftigkeit  der  Nierengegend  wurde  selbst  da,  wo 
Albuminurie  vorhanden  war,  niemals  wahrgenommen.  Das 
heftige  Fieber,  welches  die  hydropischen  Erscheinungen  ge- 
wöhnlich begleitete,  liess  sich  fast  immer  von  einem  wichtigen 
Leiden  der  Respirationsorgane  herleiten.  Livide  Färbung 
des  Gesichts,  schnelle  oberflächliche  Respirationsbewegungen, 
quälender  Husten,  und  sonore,  pfeifende,  oder  feuchte  Rassel- 
geräusche in  einer  oder  in  beiden  Lungen  deuteten  in  den 
meisten  Fällen  das  Vorhandensein  einer  Bronchitis  an.  Allein 
auch  die  Ergiessung  seröser  Flüssigkeit  in  die  Bauchhöhle 
liess  sich  bei  einigen  Kranken  nicht  verkennen. 

Ein  fünfjähriges  Kind,  welches  drei  AVochen  zuvor  von 
Scarlatina  befallen  worden,  imd  schon  während  der  Desqua- 
mationsperiode an  Oedem  der  Hände  mit  Anschwellung  der 
Submaxillardrüsen  gelitten  hatte,  bekam  vor  drei  Tagen  plötz- 
lich ein  heftiges,  von  Husten  begleitetes  Fieber,  wobei  die 
Auscultation  Schleimrasseln  vorzugsweise  an  der  AVurzel  beider 
Lungen  nachwies.  Die  Application  einiger  Blutegel,'  so  wie 
der  Gebrauch  des  Brechweinsteins  hatte  zwar  eine  scheinbare 
Besserung  zur  Folge,  allein  nach  zweitägiger  Pause  traten 


108 


die  genannten  Symptome  von  neuem  und  mit  noch  grösserer 
Heftigkeit  hervor.  Die  livide  Blässe  des  ödematös  ange- 
schwollenen Gesichts,  der  fortwährende  trockne  Husten,  die 
ausserordentlich  gesteigerte  Dyspnoe  deuteten  auf  eine  bedenk- 
liche Affektion  der  Respirationsorgane  hin.  Die  linke  Brust- 
hälfte liess  bei  der  Untersuchung  mit  Ausnahme  der  fortbe- 
stehenden Rasselgeräusche  keine  Anomalieen  wahrnehmen,  die 
rechte  hingegen  gab  bei  der  Percussion  bis  zur  Höhe  der 
zweiten  Rippe  sowohl  auf  der  Vorder-  wie  auf  der  Rücken- 
fläche einen  vollkommen  matten  Ton;  auch  war  das  Respira- 
tionsgeräusch nur  äusserst  schwach  hörbar,  als  wäre  die 
Lunge  durch  eben  fremden  Körper  von  der  Brustwand  ge- 
trennt. Der  scharfe  Rand  der  Leber  war  unter  den  falschen 
Rippen  hervorgedrängt.  Entsprechend  den  hydropischen  Er- 
scheinungen im  Gesicht  und  am  Scrotum,  wurde  der  Urin 
nur  in  geringer  Quantität  entleert,  machte  ein  stark  graugel- 
bes Sediment , enthielt  jedoch  kein  Eiweiss.  Da  an  dem 
Vorhandensein  einer  Flüssigkeit  in  der  rechten  Brusthälfte 
nicht  mehr  gezwcifelt  werden  konnte,  die  Fortdauer  des 
heftigen  Fiebers  und  der  intensiven  Rasselgeräusche  in  der 
linken  Lunge  jedoch  das  Fortbestelm  der  Entzündung  an- 
deutete, so  wurde  die  Application  der  Blutegel  wiederholt, 
und  innerlich  ein  Infus.  Hb.  Digital,  mit  Kali  aceticum  ver- 
ordnet. Auf  die  rechte  Brust,  in  welcher  der  Sitz  des  Ex- 
sudats angenommen  werden  musste,  wurde  Sublimatsalbe  bis 
zur  Blasenbildung  eingerieben.  Schon  am  folgenden  Tage 
war  die  Pulsfrequenz  von  160  auf  120  Schläge  gesunken,  die 
bisher  trockne  Haut  secernirte  mässig,  der  Urin  war  klarer 
und  reichlicher,  die  Brusterscheinungen  bedeutend  ermässigt. 
Die  Behandlung  wurde  auf  dieselbe  W eise  fortgesetzt,  wobei 
allmählig  der  matte  Percussionston  der  rechten  Brusthälfte 
dem  normalen  Platz  machte,  und  das  vesiculäre  Atlunungs- 
geräusch  deutlicher  hörbar  wurde.  Am  siebzehnten  Tage 
nach  dem  Beginne  der  Kur  wurde  das  Kind  als  vollständig 
genesen  vorgestellt. 

Die  in  der  Poliklinik  übliche  Behandlung  dieser  Nach- 


1 09 


krankheit  des  Scharlachfiebers  beschränkte  sich  in  einfachen 
Fällen  von  Anasärca  ohne  begleitendes  heftiges  Fieber  auf 
den  Gebrauch  der  antiphlogistischen  Diuretica,  besonders  des 
Tartarus  depuratus,  der  zu  10  Gr.  zweistündlich  gereicht  wurde. 
Bestand  jedoch  ein  heftiges  Fieber,  oder  gar  eine  Complication 
mit  Bronchitis,  so  zeigte  sich  eine  allgemeine  Blutentleerung 
von  zwei  Tassen,  die  selbst  bei  kleinen  Kindern  eine  Tasse 
voll  ohne  Scheu  angestellt  wurde,  von  der  grössten  Wirk- 
samkeit. Zum  iimern  Gebrauch  verorclnete  man  gewöhnlich 
eine  Verbindung  der  Herb.  Digital,  mit  Cremor  Tart.  in  Pul- 
verform oder  einen  Aufguss  der  ersteren  mit  Terra  foliat. 
Tartan.  Diese  Behandlung  wurde  noch  dringender  erfordert, 
wo  schon  ein  Erguss  seröser  Flüssigkeit  in  die  Brusthöhle 
erfolgt  war.  In  diesem  Falle  zeigten  sich  Einreibungen 
der  Sublimatsalbe  nicht  allein  gegen  die  drohenden  suffoca- 
torischen  Anfälle  sehr  hlilfreich,  sondern  schienen  auch  die 
Resorption  des  Ergossenen  kräftig  zu  befördern.  Die  Salbe 
winde  aus  einer  Drachme  Sublimat  und  einer  Unze  Fett  be- 
reitet, wovon  stündlich  eine  haselnussgrosse  Quantität  bis  zu 
der  eines  halben  Tlieelöffels  in  eine  umschriebene  Stelle  der 
Brust,  von  dem  Umfange  eines  Thalers,  eingerieben  wurde. 
Sobald  sich  diese  Stelle  röthete,  winden  die  Einreib ungen 
ausgesetzt,  imd  die  Entwicklung  der  pemphigusähnlichen 
Blase  abgewartet,  nach  deren  spontanem  Abtrocknen  die  Ein- 
reibung auf  einer  andern  Stelle  in  derselben  Art  von  neuem 
begonnen  wurde. 

Schliesslich  sei  noch  einer  eigentlnimlichen  Erscheinung 
gedacht,  welche  bei  einem  kräftigen,  stets  gesunden  Kinde  in 
der  Desquamationsperiode  eines  normal  verlaufenden  Schar- 
lachfiebers vorkam.  Es  bildeten  sich  nämlich,  ohne  deutliche 
Ursache,  an  den  einander  zugewandten  Rändern  sämmthcher 
Finger  Erhebungen  der  Oberhaut,  welche  die  ganze  Länge 
des  Fingers  einnahmen,  und  mit  einem  trüben  Serum  gefüllt, 
das  Ansehn  des  Pemphigus  darboten.  Vielleicht  hat  man  die- 
selben nur  als  eine  höhere  Entwicklung  des  Desquamations- 
processes  zu  betrachten,  wobei  anstatt  einfacher  Abblätterung 


110 


der  Epidermis  diese  zuerst  in  Gestalt  von  Blasen  in  die 
Höhe  gehoben  wurde.  Nach  der  künstlichen  Eröffnung  der- 
selben wurden  die  entblössten  Iiautstellen  mit  einem  aus 
Ol.  Lini  und  Aq.  Calcis  bereiteten  Liniment  verbunden,  und 
durch  Einwicklung  der  einzelnen  Finger  mittelst  Leinwand- 
streifen der  Verwachsung  derselben  vorgebeugt. 

3.  Die  Ma  sern  traten  epidemisch  im  Wintersemester 
18  ^ auf.  Die  damals  herrschende  Epidemie  zeichnete  sich 
durch  fast  nie  fehlende  gastrische  Complication  aus,  so  dass  zur 
Stillung  der  Vomituritionen  und  des  wirklichen  Erbrechens 
sehr  oft  Emetica  erforderlich  waren.  Nur  höchst  selten  wurde 
die  Schleimhaut  des  Larynx,  wie  es  bei  drei  gleichzeitig  an 
den  Masern  erkrankten  Geschwistern  der  Fall  war,  ergriffen. 

4.  Auch  die  Var  ioloiden  gehörten  zu  den  öfters  vor- 
kommenden Krankheiten,  ohne  jedoch  besonders  hervorzuhe- 
bende Erscheinungen  darzubieten.  Dagegen  zeigten  die  V a- 
ricellen  in  einigen  Fällen  imgewöhnliche  Symptome.  Ab- 
gesehen von  den  heftigen  Convulsionen , die  bei  manchen 
Kindern  dem  Ausbruche  der  Windpocken  voherrgingen, 
wurde  bei  einer  wahrscheinlich  durch  ihr  Kind  angesteckten 
Frau  im  Verlaufe  der  Krankheit  eine  heftige  Angina  mit 
Bildung  von  Bläschen  auf  der  Schleimhaut  des  weichen  Gau- 
mens und  der  Mandeln  beobachtet,  welche  platzend  in  aphthöse 
Geschwüre  übergingen.  Bei  einer  Wöchnerin  brachen  die 
Varicellen  mit  so  intensiven,  bis  in  die  untem  Extremitäten 
hineinschiessenden  Kreuzschmerzen  hervor,  dass  man  beim 
ersten  Erscheinen  der  Bläschen  Variolois  vermuthete,  ein 
Irrt  hum,  welcher  durch  die  vollständige  Entwicklung  der  Va- 
ricellen bald  beseitigt  wurde. 

Den  Krankheiten,  welche  durch  qualitative  Veränderun- 
gen des  Blutes  bedingt  werden,  reihen  wir  noch  den  Rheu- 
matismus und  die  Arthritis  an. 

1 . Rheumatism  u s. 

In  der  Behandlung  des  Rheumatismus  acutus  wur- 
den, mit  Verwerfung  jedes  einseitigen  Verfahrens,  weder  die  un- 


111 


massigen  Blutentleerungen  nach  Bouillaud,  deren  Anwendung 
nur  im  Falle  einer  Complication  mit  Pericarditis  oder  Endocarditis 
gerechtfertigt  sein  dürfte,  noch  die  früher  üblichen,  oft  wieder- 
holten Brechmittel  in  Gebrauch  gezogen.  In  frischen  Fällen 
ward  die  Behandlung  mit  einem  starken  Aderlass  eingeleitet : 
das  gelassene  Blut  zeigte  die  charakteristische  Crusta  rheu- 
matiea,  welche  sich  durch  ihr  zähes  Ankleben  an  den  Wänden 
der  Tasse,  und  durch  den  Mangel  des  aufgeworfenen,  crene- 
lirten  Bandes  von  der  phlogistischen  wesentlich  unterscheidet. 
Die  geschwollenen , schmerzhaften  Gelenke  wurden  durch 
Einwicklung  in  Watte,  Werg  u.  dgl.  m.  in  einer  gleich- 
mässigen  Temperatur  erhalten,  und  zum  innern  Gebrauch 
mässig  auf  den  Darmkanal  ableitende  Mittel  verordnet,  von 
denen  sich  folgende  Formel  am  meisten  bewährte:  tk  Magnes. 
sulphuricae  3 j,  solve  in  Aq.  commun.  3V,  adde:  Tinct.  Semin. 
Colchici  aut.  ?,iß — ij,  Syr.  commun.  5 j-  Mds.  zweistündlich 
einen  Esslöffel  voll  zu  nehmen.  Der  Gebrauch  dieser  Mi- 
schung zeigte  sich  auch  für  sich,  ohne  gleichzeitige  Anwen- 
dung von  Bluten tleerungen,  in  solchen  Fällen  hiilfreich,  wo 
einzelne  Gelenke,  >z.  B.  das  Schultergelenk,  der  Sitz  des 
rheumatischen  Ivrankheitsprocesses  waren,  ohne  von  allgemei- 
nen Beaktionserscheinimgen  begleitet  zu  sein.  Anders  ge- 
staltete sich  die  Behandlung,  wo  nächtige  Complicationen  ein 
mein-  energisches  Eingreifen  erforderten,  wofür  der  folgende 
Fall  als  Beispiel  dienen  mag: 

Ein  17 jähriges  Mädchen,  dessen  Begehr  erst  dreimal 
eingetreten  und  stets  von  heftigen  Palpitationen  begleitet  ge- 
wesen waren,  hatte  bereits  zehn  Tage  zuvor  über  Glieder- 
reissen,  Frösteln  mit  darauf  folgender  Hitze,  Kopfschmerz 
und  Ohrensausen  geklagt.  Zur  Nachtzeit  nahmen  die  Schmer- 
zen bedeutend  zu  und  wurden  von  starken  säuerlich  riechen- 
den Schweissen  begleitet.  Am  zehnten  Tage  erfolgte  plötzlich 
eine  Milderung,  ja  gegen  Abend  zur  grossen  Freude  der 
Kranken  ein  vollkommener  Nachlass  der  Schmerzen.  Um  so 
unerwarteter  traten  mitten  in  der  Nacht  die  heftigsten  Deli- 
rien ein,  die  bis  gegen  Morgen  fortdauerten,  imd  die  Ange- 


112 


hörigen  antrieben,  in  der  Klinik  Hülfe  zu  suchen.  Bei  der 
ersten  Untersuchung  hatten  die  Delirien  zwar  schon  nachge- 
lassen, aber  ein  heftiger  Schmerz  tobte  in  der  Gegend  der 
fünften  und  sechsten  linken  Kippe,  welcher  zwar  nicht  durch 
Druck  auf  die  Intercostalräume,  wohl  aber  durch  Aufwärts- 
schieben des  Zwerchfells  auf  der  linken  Seite  bedeutend  ge- 
steigert wurde.  In  der  Herzgegend  war  das  Vibrationsphä- 
nomen deutlich  fühlbar;  bei  der  Auscultation  hörte  man  ein 
Keibimgsgeräusch,  wobei  die  unzählbare  Frequenz  der  Schläge 
die  Herztöne  nicht  deutlich  zu  unterscheiden  erlaubte.  Die 
Percussion  ergab  keine  Vergrösserung  des  Herzumfangs.  Ein 
hoher  Grad  von  Dyspnoe,  kurzer,  trockner  Husten,  Kälte 
der  Hände  und  Fiisse,  livide  fleckige  Röthe  des  Gesichts, 
das  heftigste  Fieber  vervollständigten  das  Bild  einer  Krank- 
heit, deren  Diagnose  nach  den  genannten  Symptomen  nur 
auf  P ericarditis  gestellt  werden  konnte.  Es  wurde  so- 
gleich eine  Vs.  von  12  3 gemacht,  und  diese  im  Laufe  der 
nächsten  Tage  noch  zweimal  wiederholt.  Mehrmals  ange- 
stellte  topische  Blutentleerungen  in  der  Herzgegend,  Einrei- 
bungen mit  einer  Salbe  aus  Ung.  neapolitan.  und  Extract. 
Digitalis,  starke  Dosen  des  Calomeis  bewirkten  binnen  kurzem 
einen  Nachlass  der  drohendsten  Erscheinungen,  so  dass  am 
fünften  Tage  der  früher  unzählbare,  kleine  Puls  die  Frequenz 
von  140  Schlägen  in  der  Minute  nicht  überstieg.  Die  bisher 
gebrauchten  Mittel  wurden  nun  mit  einem  Infus.  Herb.  Di- 
gital.  und  der  Application  eines  Blasenpflasters  auf  die  Herz- 
gegend vertauscht,  und  zwar  mit  so  günstigem  Erfolge,  dass 
nach  vierzehn  Tagen  die  Kranke  als  Keconvalescentin  be- 
trachtet werden  konnte. 

In  diesem  Falle  winde  das  Pericardium  um  so  leichter 
ein  Anziehungspunkt  für  den  rheumatischen  Krank  heitspro- 
cess,  als  die  Kranke  schon  im  gesimden  Zustande  an  einer 
grossen  Irritabilität  des  Herzens  litt,  welche  vorzugsweise 
zur  Zeit  der  Catamenien  sehr  belästigend  hervortrat.  Die 
schnelle,  fast  plötzliche  Entwicklung  der  Pericarditis  nach 
dem  Aufhören  der  rheumatischen  Glieder  schmerzen  würde 


.113 


die  älteren  Aerzte  in  diesem  Falle  zur  Annahme  einer  rheu- 
matischen Metastase  bewogen  haben,  während  im  Gegenthcil 
das  Verschwinden  des  Rheumatismus  aus  den  äussern  Thei- 
len  nicht  Ursache,  sondern  vielmehr  Folge  der  Concentration 
der  Krankheit  auf  den  Herzbeutel  war.  Ob  die  Pericarditis 
rheumatica  bei  dieser  Kranken  ohne  alle  schlimme  Folgen 
vorübergegangen,  oder  ob  sie,  wie  so  häufig  geschieht  und 
bei  der  hier  obwaltenden  Disposition  des  Herzens  zu  vermu- 
then  sehr  nahe  liegt,  den  Grund  zu  einer  organischen  Er- 
krankung des  Herzens  gelegt,  Hess  sich  nicht  mit  Sicherheit 
bestimmen.  Jedenfalls  suchte  man  den  schlimmen  Folgen 
diu'ch  längeres  Offenhalten  des  Vesicators  vorzubeugen,  welches 
sich  überhaupt  bei  rheumatischen  Entzündungen,  insbesondere 
der  Bauchmuskeln,  nach  vorausgeschickten  Blutentleerungen 
sein*  wirksam  zeigte.  / 

Das  einzige  Mittel,  welches  im  Stande  zu  sein 
scheint,  den  Verlauf  des  acuten  Rheumatismus  abzukür- 
zen, ist  der,  auch  im  Rheumatismus  chronicus  mit  entschie- 
denem Erfolge  angewandte  Sublimat.  In  der  Poliklinik 
wurden  vorzugsweise  diejenigen  Fälle,  wo  der  rheuma- 
tische Krankheitsprocess  sich  auf  ein  einzelnes  Gelenk  con- 
centrirte , imd  bereits  längere  Zeit  andern  Mitteln  hart- 
näckig widerstanden  hatte,  der  Behandlung  mit  Sublimat  un- 
terworfen. Mangel  aller  gastrischen  Störungen  blieb  indess 
eine  Hauptbedingung,  ohne  welche  die  Kur  nie  unternommen 
wurde,  weshalb  man  oft  Brech-  oder  Abführmittel,  je  nach 
den  Umständen,  voranschicken  musste.  Kindern  gab  man 
den  Sublimat  zu  bis  t Gran,  Erwachsenen  zu  £ bis  t 
Gran  zwei-  bis  dreimal  täglich.  Bei  einem  23jährigen 
Mädchen,  welches  schon  seit  vier  Wochen  an  einer  heftigen, 
mit  starkem  Fieber  vei’bundenen  rheumatischen  Entzündung 
des  linken  Handgelenks  litt,  wurde  nach  vorausgeschickter 
allgemeiner  und  örtlicher  Blutentziehung , der  äussere  Ge- 
brauch der  grauen  Quecksilbersalbe  mit  dem  innem  des  Su- 
blimats (zu  t Gr.  dreimal  täglich  zu  nehmen)  verbunden, 
wodurch  die  Krankheit  nach  vierzehn  Tagen  vollständig  geheilt 

8 


114 


wurde.  In  einem  andern  Falle  wurde  der  Sublimat  bei  einer 
schon  fünf  Wochen  bestehenden  rheumatischen  Entzündung 
des  rechten  Hüftgelenks  angewandt , und  brachte  in  Verbin- 
dung mit  einem  in  Eiterung  erhaltenen  Vesicator  nach  Mo- 
natsfrist die  Heilung  zu  Stande. 

Von  gleich  trefflicher  Wirkung  zeigte  sich  der  Sublimat 
im  chronischen  R heu  m a t i s m u s,  namentlich  in  einigen 
Fällen,  wo  die  Brustmuskeln  den  Sitz  desselben  abgaben. 
Auch  das  Kali  hydriodicum  wurde  zu  wiederholten  Malen 
mit  Erfolg  gegen  diese  Krankheit  verordnet:  doch  wird  Nie- 
mand, der  die  Hartnäckigkeit  derselben  lind  die  Verhältnisse 
der  meisten  in  einer  klinischen  Anstalt  behandelten  Patienten 
berücksichtigt,  sich  darüber  wundem  können,  dass  die  gute 
Wirkung  der  Mittel  nicht  immer  von  Bestand  war. 

Das  Jodkali  bewährte  sich  vorzugsweise  in  denjenigen 
Fällen,  wo  eine  entzündliche  Affektion  der  Beinkaut  (Pe- 
riostitis) angenommen  werden  musste,  mochte  diese  nun 
rheumatischer  oder  syphilitischer  Natur  sein.  Zuweilen  ent- 
stand die  Periostitis  auch  ohne  alle  erkennbaren  Ursachen. 
Am  häufigsten  hatte  sie  im  Oberschenkelbeine  und  zwar  in 
seinem  untern  Drittheile  ihren  Sitz,  zunächst  im  Stirnbein 
und  in  der  Crista  des  Darmbeins.  Im  ersten  Falle  kann  bei 
oberflächlicher  Untersuchung  eine  Verwechslung  mit  Ischias 
statt,  finden,  allein  die  Schmerzhaftigkeit  beim  tiefen  bis  auf 
den  Knochen  gehenden  Druck , die  Exacerbation  bei  jeder 
Bewegung,  der  Mangel  vollkommen  freier  Intervalle  dienen 
zur  Unterscheidung.  Meist  findet  man  auch  eine  grössere 
oder  geringere  Aufwulstung  des  schmerzhaften  Knochens,  die 
sich  vorzugsweise  an  den  platten  Schädelknochen  leicht  ent- 
decken lässt.  In  der  Klinik  kam  die  Periostitis  oft  vor, 
und  fand  im  Kali  hydriodicum  ihr  kräftigstes  Gegenmittel. 
Ehi  39  jähriger  Schneider,  der  seit  Jahresfrist  an  einer  Pe- 
riostitis des  Oberschenkelbeines  litt,  die,  weder  auf  einer  sy- 
philitischen noch  rheumatischen  Basis  begründet,  den  verschie- 
densten Heilmitteln,  selbst  der  Application  von  Moxen  Trotz 
geboten  hatte,  wurde  durch  den  Gebrauch  von  sieben  Skrupel 


115 


Jodkali  (6  gr.  pro  dosi,  in  destillirtem  Wasser  aufgelöset,  dreimal 
täglich  genommen)  binnen  kurzer  Zeit  vollständig  hergestellt. 
Auf  Krücken  gestützt,  die  leidende  Extremität  wie  eine  ge- 
lähmte nachschleppend,  hatte  er  in  der  Poliklinik  Hülfe  gesucht ; 
schon  nach  dem  Gebmuch  einer  halben  Drachme  konnte  er 
frei  von  Schmerzen  schlafen,  und  vierzehn  Tage  später  war  er 
im  Stande,  ohne  Hülfe  eines  Stockes  die  weitesten  Wege 
zurückzulegen.  Eben  so  wirksam  war  das  Mittel  in  den  Fällen, 
wo  das  Stirnbein  den  Sitz  der  Periostitis  abgab.  Bei  rheu- 
matischer Diathese  wurde  die  günstige  Wirkung  des  Jodkali 
diu'ch  russische  Dampfbäder  kräftig  unterstützt. 

Schon  bei  der  Betrachtung  der  Neuralgieen  war  von 
jenen  im  Körper  herumziehenden  schmerzhaften  Empfindun- 
gen die  Eede,  welche  beim  weiblichen  Geschlechte  durch 
Störungen  der  Catamenien  herbeigeführt  werden.  Todd  (in 
seinem  lehrreichen  Werke:  Practical  remarks  on  gout,  rheu- 
matic  fever  and  chronic  rheumatism  of  the  joints.  London  1843 
p.  147  f.)  Avill  auch  diese  als  rheumatische  Affektion  be- 
trachtet wissen,  und  bringt  sie  mit  der  durch  Hemmung 
der  blutigen  Uterinsccretion  bedingten  Säfteentmischung  in 
Zusammenhang.  Für  diese  Ansicht  spricht  noch  ein  andrer, 
dem  weiblichen  Geschlechte  vorzugsweise  zukommender  Zu- 
stand, welcher  aus  gleicher  Ursache  hervorgehend  entschieden 
rheumatischer  Natur  ist,  die  sogenannte  Ar  thri  ti  s nodosa. 
Diese  im  Allgemeinen  nicht  häufige  Krankheit  wurde  in  der 
Klinik  viermal  beobachtet,  dreimal  in  der  Decrepiditätsperiode 
bei  Frauen  von  50,  55  und  64  Jahren,  und  nur  einmal  be 
einem  23jährigen  Mädchen.  Der  letzte  Fall  soll,  da  er  als  Aus- 
nahme zu  betrachten  ist,  und  das  Bild  der  Krankheit  in  einem 
ausgezeichneten  Grade  darbietet,  hier  näher  erörtert  werden. 

A.  B.,  ein  23jähriges  Mädchen,  als  Kind  sich  einer  un- 
getrübten Gesundheit  erfreuend,  wurde  in  ihrem  eilften  Le- 
bensjahre von  einem  heftigen  rheumatischen  Fieber  mit  Glie- 
derreissen  und  Steifheit  der  Extremitätengelenke  befallen. 
Nach  dem  \ erschwinden  des  Fiebers  bestanden  die  übrigen 
Symptome  mit  abwechselndem  Steigen  und  Fallen  acht  bis  neun 

8* 


1 lß 


Monate  lang  fort.  Seit  dieser  Zeit  verging  kein  Jahr,  wo 
die  Kranke  nicht  im  Frühling  oder  Herbst  von  reissenden 
Schmerzen  in  den  Gliedern  oder  schmerzhaften  Anschwel- 
lungen der  Gelenke  befallen  wurde.  Vor  sechs  Jahren  be- 
merkte sie  zuerst  eine  sehr  empfindliche  Auftreibung  der 
Fingergelenke  an  der  rechten  Hand,  die  allen  angewandten 
Mitteln  zum  Trotz  fort  und  fort  zunahm  und  endlich  die 
auffallende  Defiguration  der  Hand  zur  Folge  hatte,  die  sich 
bei  der  Untersuchung  der  Kranken  in  der  Klinik  heraus- 
stellte. Beide  Hände,  vorzugsweise  indess  die  rechte,  sind 
stark  nach  dem  Ulnarrande  hinübergebogen,  so  dass  letzterer 
mit  der  Ulna  einen  stumpfen  Winkel  bildet,  ohne  dass  dadurch 
die  Bewegung  der  Hand  nach  der  Radialseite  gehindert  würde  : 
vielmehr  kann  diese  von  der  Kranken  selbst  mit  Leichtigkeit 
ausgeführt  werden.  Sämmtliche  Finger  (die  Daumen  aus- 
genommen) folgen  der  Richtung  der  Hand,  und  liegen  dach- 
ziegelartig übereinander,  sind  aber  mit  Ausnahme  des  Dau- 
mens, welcher  nicht  adducirt  werden  kann,  beweglich.  Die 
Gelenkenden  der  Fingerphalangen,  so  wie  auch  der  Mittel- 
handknochen sind  angeschwollen  und  beim  Druck  ausseror- 
dentlich schmerzhaft.  Zur  Nachtzeit  treten  heftige  Schmerzen 
in  den  leidenden  Theilen  ein.  Bei  der  Untersuchung  der 
untern  Extremitäten  zeigte  sich  eine  empfindliche  Auftreibung 
am  hintern  Gelenkende  der  ersten  Phalanx  der  rechten  grossen 
Zehe.  Klagen  über  Palpitationen,  über  heftige  Dyspnoe  bei 
jeder  Bewegung  und  Anstrengung  veranlassten  eine  genaue 
Untersuchung  des  Herzens,  welche  einen  sein*  verstärkten 
Impuls,  und  ein  den  ersten  Herzton  begleitendes  rauhes  Af- 
tergeräusch ergab.  Kopiöse,  sauer  riechende  Schweisse  fin- 
den sicli  in  jeder  Nacht  ein,  und  der  sauer  reagirende  Urin 
lagert  dicke  rosige  Sedimente  ab.  Die  Ivatamenicn  waren 
bis  vor  drei  Monaten  vollkommen  regelmässig:  seit  dieser 
Zeit  sind  sie  in  Folge  einer  Erkältung  weggeblieben. 

Die  Ursache,  welche  dieser  Krankheit  in  der  Kegel  und 
auch  bei  den  drei  andern  Patienten  zu  Grunde  liegt,  Stö- 
rungen oder  Wegbleiben  der  Menses,  ist  in  dem  mitgetlieilten 


117 


Falle  nicht  anzuklagen.  Es  fand  hier  vielmehr  schon  früh- 
zeitig die  Entwicklung  der  sogenannten  rheumatischen  Dia- 
these  statt,  die  einer  spätem  Aussage  der  Kranken  zufolge 
überhaupt  in  ihrer  Familie  obwaltete.  Hierauf  müssen  die 
jährlich  wiederkehrenden  Anfälle,  die  sauren  Schweisse,  die 
Beschaffenheit  des  Urins,  endlich  auch  die  Theilnahme  des 
Herzens  bezogen  werden.  Nach  den  Resultaten  der  physika- 
lischen Untersuchung  muss  man  in  diesem  Falle  eine  Hyper- 
trophie des  linken  Ventrikels  verbunden  mit  Insufficienz  der 
Mitralklappe  annehmen.  Ob  diese  Affektion  ihren  ersten 
Grund  in  dem  vor  zwölf  Jahren  stattgehabten  Rheumatismus 
acutus  gehabt,  oder  sich  erst  durch  allmählige  Einwirkung 
der  rheumatischen  Diathese  entwickelt  habe,  lässt  sich  hier 
nicht  mit  Bestimmtheit  angeben. 

Bei  einer  so  weit  vorgeschrittenen  Desorganisation,  wie' 
sie  die  vier  in  der  Poliklinik  beobachteten  Kranken  darboten, 
würde  jede  eine  Restitution  der  Gelenke  bezweckende  Be- 
handlung völlig  erfolglos  geblieben  sein.  Die  neuesten  in 
England  angestellten  anatomischen  Untersuchungen  dieser 
Krankheit  haben  nachgewiesen,  dass  nach  vorgängiger  Zer- 
störung der  die  Gelenkenden  der  Knochen  überkleidenden 
Knorpelplatten,  die  Knochenflächen  selbst  blossgelegt  werden, 
und  vermöge  der  anhaltenden  gegenseitigen  Reibung  eine  dem 
polirten  Elfenbeine  ähnliche  Beschaffenheit  annehmen.  Schon 
hieraus  ergiebt  sich,  wie  eitel  jedes  Bestreben,  eine  radicale 
Heilung  herbeizuführen,  sein  würde.  Nicht  einmal  der  in 
der  Klinik  angestellte  Versuch,  durch  Aufpinselungen  der  Jod- 
tinctur  die  knotigen  Anschwellungen  der  Epiphysen  zurück- 
zubilden, gelang.  Man  überliess  deshalb  die  Localaffektion 
der  Natur,  und  begnügte  sich,  diejenigen  Mittel  zu  verordnen, 
welche  der  Allgemeinzustand  der  Kranken,  Complicationen, 
u.  ö.  w.  zu  erfordern  schienen. 

2.  Arthritis. 

In  Uebereinstimmung  mit  der  Lebensweise  und  den 
\ erhältnissen  der  behandelten  Kranken  kam  auch  nur  dieje- 
nige iorm  der  Arthritis  in  der  Poliklinik  zur  Beobachtung, 


118 


welche  das  Eigenthum  schwächlicher,  alter  Leute  und  des 
weiblichen  Geschlechts  ist,  die  Arthritis  oedematosa. 
Sie  erschien  in  der  Regel  an  den  untem  Extremitäten,  zu- 
weilen auch  an  den  Händen  als  schmerzhafte  ödematöse  An- 
schwellung, ohne  die  Bewegung  der  Theile  wesentlich  zu 
beschränken.  Nicht  selten  wurden  die  Kranken  gleichzeitig 
durch  nächtlich  exacerbirende  Schmerzen  in  andern  Theilen 
belästigt.  Charakteristisch  war  immer  das  Vorausgehen  dys- 
peptischer  Beschwerden,  die  beim  Eintreten  der  ödematösen 
Anschwellung  verschwanden.  Der  in  seinem  Aeussern  varii- 
rende  Urin  zeigte  immer  überwiegend  saure  Reaktion.  Ge- 
linde Ableitungen  auf  den  Darmkanal  und  der  gleichzeitige 
Gebrauch  des  Sodawassers  zu  zwei  bis  drei  Gläsern  täglich, 
genügten  in  der  Regel  zur  Beseitigung  dieses  Zustandes, 
wenn  auch  früher  oder  später  eintretende  Reciclive  dadurch 
nicht  verhindert  werden  konnten. 


Krankheiten  des  Nalirungskanals  und  seiner  Anhänge. 


1.  Entzündliche  Affektionen  der  Mundschleim- 
haut gehörten,  vorzugsweise  bei  Kindern,  zu  den  in  der 
Poliklinik  am  häufigsten  beobachteten  Krankheiten.  Die  ver- 
schiedenen Formen  der  Stomatitis,  vorzugsweise  die  aphthöse, 
waren  fast  tägliche  Erscheinungen,  während  von  den  wich- 
tigeren Affektionen  Stomacace  nur  sehr  selten,  Noma  trotz 
der  grossen  Zahl  jährlich  behandelter  Kinder  nur  einmal  vorkam. 

Vieles,  was  man  früher  unter  der  umfassenden  Benen- 
nung Aphthen  zusammengeworfen,  ist  durch  die  gründlicheren 
Untersuchungen  der  neueren  Zeit  als  Aeusserimg  verschie- 
dener Krankheitsprocesse  von  einander  getrennt,  und  auf  eine 
passendere  Weise  geordnet  worden.  Unter  „Aphthen” 
darf  man  jetzt  nur  noch  jene  kleinen  Bläschen  verstehen,  die 
sich  auf  rothem  Grunde  mit  einem  brennenden  Gefühle  ent- 
wickeln, und  wenn  sie  platzen,  kleine  rundliche  Geschwüre 
hinterlassen.  Diese  Form,  die  auch  den  Namen  Stomatitis 
aphthosa  führt,  unterscheidet  sich  nur  durch  die  Bläschen  - 
bildung  von  der  einfachen  Stomatitis,  welche  sich  lediglich  durch 
dunkle  Röthe  und  grosse  Schmerzhaftigkeit  der  Schleimhaut 
kund  giebt,  im  Ganzen  aber  selten  vorkommt.  Wahre  Pu- 
steln sieht  man  wohl  nur  im  Laufe  der  Variola  auf  der 
Mundschleimhaut  entstehn. 

Während  die  Stomatitis  aphthosa  vorzugsweise  Kinder 
vom  zweiten,  dritten  Jahre  an  befällt,  hebt  die  exsudative 
Form,  der  Soor  (Muguet  der  Franzosen),  ein  noch  zarteres 
Alter.  Diese  Krankheit,  deren  Symptome  allgemein  bekannt 
sind,  und  von  der  hier  nur  bemerkt  werden  soll,  dass  die 
charakteristischen  Exsudate  sich  oberhalb  des  Schleimhaut- 


120 


epitheliums,  nicht  unterhalb  desselben,  befinden,  steht  in  der 
Kegel  mit  einer  kachektischen  Körperbeschaffenheit,  oder 
schlechter  Blutmischung  in  Verbindung,  ergreift  vorzugsweise 
Kinder,  die  in  schlechter  Luft  und  engen  Käumcn  leben.  Auch 
beschränken  sich  die  Exsudate  nicht  immer  auf  die  Mundhöhle, 
sondern  erstrecken  sich  oft  weit  nach  hinten,  bis  in  den  Pharynx, 
seltener  in  den  Larynx  hinein,  wo  sie  dann  die  in  der  neueren 
Zeit  unter  dem  Namen  „Diphtheritis”  beschriebene  Krankheit 
darstellen.  Einer  der  klinischen  Zuhörer,  Herr  La  Pierre 
untersuchte  mittelst  des  Mikroskops  die  Exsudate,  und  erhielt 
dabei  folgendes  Resultat : Der  weisse  Belag  der  Mundschleim- 
haut liess  sich  schwer  mit  dem  Spatel  entfernen  und  bildete 
fest  zusammenhängende,  wie  Hautfetzen  aussehende  Massen. 
Unter  dem  Mikroskop  zeigte  er  sich  bestehend  aus  vielen 
Epitheliumblättchen,  aus  den  von  Vogel  (Allg.  Zeitung  für 
Chirurgie  1831.  Nr.  23 — 25)  entdeckten  gegliederten  Faden- 
pilzen, die  an  den  Enden  kolbig  anschwellen,  und  aus  den 
runden  Sporen.  Eigenthiimlich  war , dass  sich  in  dieser 
weissen  Masse  keine  Exsudatkörperchen  fanden,  deren  fau- 
lige Zersetzung  fast  stets  der  Pilzbildung  in  pathologischen 
Secreten  vorangeht,  so  dass  man  hier  annehmen  muss,  die 
Pilzbildung  finde  statt  begünstigt  durch  den  zu  stark  abge- 
sonderten und  faulig  zersetzten  Epitheliumschleim.  Es  schien 
ferner,  als  ob  der  abgesonderte  faulige  Epitheliumschleim 
seine  eigentümliche  häutige  Beschaffenheit  den  nach  allen 
Richtungen  eingewebten  Pilzfäden  verdanke.  Dass  der  Epi- 
theliumschleim zersetzt  und  verändert  war,  erkannte  man 
aus  dem  gekörnten,  fäcettirten,  zerfallenen  Aussehn  der  ihn 
bildenden  Zellen. 

Die  verderblichsten  Affektionen  der  Mundschleimhaut  im 
kindlichen  Lebensalter  sind  jedoch  die  gangränösen,  die  ent- 
weder in  Form  der  Stomacace  oder  der  Noma  auftreten.  Die 
Stoma  ca  ce  geht  in  der  Regel  vom  Periosteum  des  Alveo- 
larrandes aus,  ergreift  zunächst  das  Zahnfleisch,  dann  den 
Knochen  selbst,  und  bewirkt  das  Ausfallen  des  entsprechen- 
den Zahns.  Diese  Form  ist  bei  weitem  gutartiger  als  die 


121 


N o m a,  welche  auf  der  Schleimhaut  der  Wange  als  ein  asch- 
grauer Fleck  beginnt,  der  wegen  der  geringen  Beschwerden, 
die  er  erregt,  gewöhnlich  ganz  übersehn  wird.  Meist  wird 
der  Arzt  erst  dann  hinzugerufen,  wenn  der  Reflex  des  Lei- 
dens bereits  auf  der  äussern  Haut  der  Wange  sichtbar  wird. 
Diese  nämlich  schwillt  an,  wird  härtlich,  zeigt  eine  blasse, 
livide  Röthe , und  einen  eigentliümlichen  fettigen  Glanz. 
Bald  aber  erscheint  auf  dieser  Fläche  ein  schwarzer  brandi- 
o-cr  Fleck,  das  Zeichen  der  bevorstehenden  Perforation 
der  Wange.  Diese  Afiektion,  welche  sich  leicht  mit  gastri- 
schen Störungen,  namentlich  mit  profusen  Durchfällen,  selten 
mit  einem  typhösen  Fieber  complicirt,  richtet  oft  die  furcht- 
barsten Verheerungen  im  kindlichen  Antlitze  an.  Selbst  die 
Knochen  bleiben  nicht  verschont,  und  alle  Theile  zergehen 
unter  Erzeugung  eines  dem  faulenden  Wildprett  ähnlichen 
Gestankes  in  eine  bröckliche,  braune  Masse.  Zuweilen  ge- 
sellen sich  noch  gangränöse  Affektionen  andrer  Körpertheile 
zur  Koma  hinzu ; so  ergreift  die  Sepsis  bei  weiblichen  Kin- 
dern, namentlich  in  Findelhäusern,  zuweilen  gleichzeitig  die 
Schleimhaut  der  Genitalien.  Noma  erscheint  bekanntlich  oft 
nach  exanthematischen  Fiebern,  Masern,  Scharlach,  wenn  sie 
kachektische , in  ungünstigen  V erhältnissen  lebende  Kinder 
ergreifen;  doch  tritt  sie  auch  zuweilen  als  Folgekrankheit 
typhöser  Fieber  auf.  In  höheren  Ständen  ist  sie  sehr  selten. 

Die  in  der  Klinik  übliche  Behandlung  der  Stomatitis 
richtete  sich  theils  nach  den  Complicationen,  theils  nach  dem 
constitutioneilen  Befinden  des  erkrankten  Kindes.  Der  dicke, 
weissgelbe  Ueberzug  der  Zunge  in  solchen  Fällen  scheint 
zwar  immer  den  Verdacht  auf  eine  bedeutende  gastrische 
Complication  hinzulenken,  allein  man  weiss,  dass  die  Schleim- 
haut der  Zunge  bei  allen  Affektionen  in  der  Mundhöhle  von 
dem  einfachen  Zahngeschwür  an  bis  hinauf  zum  Ptyalismus 
mercurialis  einen  solchen  Belag  darzubieten  pflegt.  Dennoch 
lässt  sich  nicht  läugnen,  dass  in  der  That  gastrische  Be- 
schwerden sehr  oft  die  Quelle  dieser  Mundaffektion  bilden, 
und  deshalb  sind  in  frischen  Fällen  Emetica,  und  darauf 


122 


folgende  gelinde  Abführmittel  ganz  an  der  Stelle.  Am  besten 
eignen  sich  hiezu  OL  Ricini  oder  Infus.  Sennae  comp,  mit 
Vermeidung  der  reinen  Salina,  die  beim  Einnehmen  die  Rei- 
zung der  Mundschleimhaut  nur  noch  steigern.  Oertlich  suchte 
man  durch  Bepinselung  der  kleinen  Geschwüre  Linderung 
zu  verschaffen.  Der  Borax,  der  in  dieser  Beziehung  eines 
so  grossen  Rufes  geniesst,  leistet  in  hartnäckigen  Fällen  fast 
gar  Nichts:  dagegen  zeigten  sich  das  Cuprum  sulphuricum 
(5  Gr.  auf  3ß  Mel  rosatum)  oder  das  Acidum  muriat.  in 
Verbindung  mit  Honig  sehr  wirksam.  Pinselungen  mit  Cu- 
pruin sulphuricum  empfehlen  sich  vorzugsweise  bei  ausge- 
dehnter Stomatitis  ulcerosa,  wo  die  geschwürige  Fläche  ge- 
wöhnlich mit  einem  weissgrauen  Exsudate  bedeckt,  der  Athem 
sehr  übelriechend , die  Speichelabsonderung  profus,  und  die 
Unterkieferdrüsen  mehr  oder  weniger  angeschwollen  sind. 
Gleichzeitig  kann  man  den  Mund  mit  folgender  Mischung 
ausspülen  lassen:  fy:  Aq.  oxymuriat.,  Mel.  commun.  ää  jij. 
M.  D.  S.  einen  kleinen  Esslöffel  in  einer  Tasse  lauwarmen 
Wassers  zum  Ausspülen  des  Mundes. 

Von  der  grössten  Wichtigkeit  ist  jedoch  die  Berücksich- 
tigung der  Constitution  des  kleinen  Kranken,  wonach  die 
Behandlung  hauptsächlich  modificirt  werden  muss.  In  veral- 
teten Fällen,  vorzugsweise  bei  schwächlichen,  kachektischen 
Individuen,  hat  man  sich  vor  der  Anwendung  der  Emetica 
und  Purgantia  wohl  zu  hüten.  Das  Heil  des  Kindes  beruht 
hier  einzig  und  allein  auf  dem  Gebrauch  der  roborirenden 
Methode.  In  solchen  Fällen  bewirkt  oft  ein  saturirtes  Decoct. 
Cort.  Chinae  in  Verbindung  mit  einer  nahrhaften  Diät,  Bä- 
dern u.  s.  w.  die  Heilung  einer  Stomatitis,  die  lange  Zeit  den 
gepriesensten  Mitteln  hartnäckig  Widerstand  geleistet  hatte. 
Besonders  gilt  diese  Regel  für  die  Behandlung  des  Muguet, 
und  der  folgende  Fall  mag  dazu  dienen,  den  schnellen  Erfolg 
der  roborirenden  Methode  darzuthun. 

Ein  halbjähriges  Kind,  im  hohen  Grade  abgemagert, 
welk  und  entkräftet,  litt  seit  acht  Tagen  an  einem  mässig 
starken  Durchfall,  wobei  die  Umgegend  des  Äffers  stark 


123 


geröthet  erschien.  Weichheit  und  Schmerzlosigkeit  des  Un- 
terleibs, Mangel  des  Erbrechens  und  des  Durstes  Hessen 
den  Verdacht  eines  entzündhchen  Darmleidens  nicht  auf  kom- 
men. Auf  der  massig  gerötheten  Schleimhaut  der  Wangen 
und  der  Zunge,  besonders  an  den  Rändern  der  letzteren, 
zeigten  sich  zahlreiche  Flecke  des  Soors.  Durch  eine  näh- 
rende Diät,  Kalbfleischbrühe,  kleine  Gaben  von  Wein,  und 
durch  den  Gebrauch  eines  Decoct.  Cort.  Chinae  aus  £ij  auf 
3iij  mit  j5iij  Mucil.  Salep.  waren  nach  vierzehn  Tagen  der 
DurchfaH  und  die  Mundaflektion  gänzhch  geschwunden,  und 
die  Behandlung  wurde  nur,  um  die  Constitution  des  Kindes 
überhaupt  zu  kräftigen,  noch  eine  Zeitlang  fortgesetzt. 

Bei  einem  zweijährigen  Mädchen  bildete  sich  der  Soor 
schnell  auf  der  innern  Fläche  der  Lippen  und  der  Zunge, 
nachdem  ein  längere  Zeit  bestehender  Durchfall  gestopft 
worden  war.  Ein  ähnhches  Verhältniss  findet  sich  auch  bei 
Erwachsenen,  die  nach  schnell  unterdrückter  Dysenterie  zu- 
weilen von  einer  exsudativen  Entzündung  der  Mundschleim- 
haut befallen  werden.  In  diesem  Falle  musste  die  Behand- 
lung, weit  entfernt  zu  roboriren , vielmehr  mässig  auf  den 
Darmkanal  abzuleiten  suchen.  Das  zu  diesem  Zweck  ver- 
ordnete  Ricinusöl,  und  die  äussere  Anwendung  eines  Pinsel- 
safts aus  3ß  Zinc.  sulphur.  und  Mel  rosat.  brachte  in 
kurzer  Zeit  die  Heilung  zu  Stande.  Aehnhch  war  der  Fall 
eines  sechs  Monate  alten  Kindes,  welches  durch  den  innern 
Gebrauch  des  Acidum  muriaticum  von  einer  starken  Diarrhoea 
aestiva  befreit  worden  war.  Ein  paar  Tage  später  entwickelte 
sich  der  Muguet,  der  selbst  Pinselsäften  aus  Zinkvitriol  und 
Salzsäure  hartnäckigen  Widerstand  leistete.  Erst  dem  wie- 
derholten Bestreichen  mit  einer  Auflösung  des  Höllensteins 
(5  Gr.  in  3ß  Wasser)  gelang  es,  die  Heilung  herbeizu- 
führen. 

In  manchen  frischen,  aber  doch  hartnäckigen  Fällen  der 
Stomatitis  aphthosa  und  ulcerosa,  wo  die  nach  oben  und  un- 
ten entleerende  Methode  keinen  schnellen  Erfolg  hatte,  beob- 
achtete man  von  den  Säuren,  insbesondere  vom  Acidum  mu- 


124 


riaticum,  dieselben  trefflichen  W irkungen  wie  bei  ekzematösen 
Affektionen  der  äussem  Haut. 

In  der  Behandlung  der  so  häufig  vorkommenden  catar- 
rhalischen  Angina  tonsillaris  suchte  man  den  in  der  Praxis 
mit  der  Application  der  Blutegel  getriebenen  Missbrauch  so 
viel  als  möglich  zu  beschränken.  Die  Erfahrung  hat  die  Un- 
wirksamkeit der  topischen  Blutentleerungen  in  dieser  Krank- 
heit hinlänglich  bewährt,  die  nur  bei  der  wahrhaft  inflamma- 
torischen, mit  starkem  Fieber  verbundenen  Angina,  oder  bei 
der  scarlatinösen  mit  Erfolg  angewendet  werden.  In  den 
übrigen  Fällen  sind  warme  Kataplasmen  des  Halses,  anhal- 
tend fortgesetzt,  bei  weitem  vorzuziehen,  und  auch  beim 
Mangel  gastrischer  Complication  dient  ein  starkes  Emeticum 
zur  Abkürzung  des  Verlaufs. 

Erwähnung  verdient  hier  ein  F all  von  Angina  p h 1 y c t a e- 
nosa,  der  bei  einem  jungen  Manne  nach  der  durch  Chinin 
bewirkten  Heilung  eines  Wechselfiebers  vorkam.  Der  tveiche 
Gaumen  und  die  Schleimhaut  der  Mandeln  waren  bei  sehr 
imbedeutender  Röthe  mit  einer  grossen  Menge  kleiner  Bläs- 
chen besetzt,  welche,  ohne  Anschwellung  der  Theile,  beim 
Schlucken  die  heftigsten  Schmerzen  erregten.  Man  konnte 
die  Affektion  mit  gutem  Recht  als  ein  Ekzema  pharyngis 
bezeichnen,  und  die  Annahme  einer  kritischen  Bedeutimg, 
ähnlich  der  des  Herpes  labialis,  liegt  in  diesem  Falle  ziemlich 
nahe.  Mit  Alaun  versetzte  Gurgelwasser,  später  das  Ver- 
schlucken des  fein  gepulverten  Alauns  bewirkten  endlich 
Heilung,  nachdem  die  Affektion  einige  Wochen  hindurch 
verschiedenen  Mitteln  Trotz  geboten  hatte. 

Gegen  die  als  Symptom  der  secundären  Syphilis  auf- 
tretende Angina  wurde  das  Kali  hydriodicum  in  steigender 
Dosis  mit  Erfolg  angewendet.  Bei  einem  40jährigen  Manne 
beobachtete  man  eine  harte,  knotige  Degeneration  der  Uvula 
und  des  Gaumensegels  mit  Ulceration  der  Tonsillen.  Scro- 
phulöse  Diathese  war  nicht  zu  verkennen,  hartnäckige  primäre 
syphilitische  Geschwüre  vor  Jahresfrist  vorangegangen.  In 
diesem  Falle  bediente  man  sich  neben  dem  iimem  Gebrauche 


125 


des  Jodkali’s  der  Aufpinselungen  der  verdünnten  Jodtinctur 
auf  die  entarteten  Theile.  Unmittelbar  nach  der  Pinselung 
empfand  der  Kranke  immer  lebhafte  Schmerzen : allein  schon 
nach  der  dritten  Application  war  die  Uvula  bedeutend  ver- 
kleinert, die  Ulcerationen  verschwunden,  und  eine  gesunde 
Köthe  an  die  Stelle  der  frühem  lividen  Färbung  getreten. 
Leider  konnte,  da  der  Kranke  Berlin  verliess,  der  Fortschritt 
der  Kur  nicht  weiter  verfolgt  werden.  In  einem  zweiten 
ähnlichen  Falle,  der  eine  32jährige  Frau  betraf;  wurde  durch 
dieselbe  Behandlung  vollständige  Heilung  erzielt. 

2.  Der  Oesophagus  war  in  zwei  Fällen  Sitz  einer 
scirrhösen  Degeneration.  Beide  Kranke,  Männer  zwi- 
schen 40  und  50  Jahren,  Schuhmacher  von  Profession,  konnten 
genau  die  Stelle  angeben,  an  welcher  der  verschluckte  Bissen 
stecken  blieb.  Quälende  Schmerzen  im  Schlunde  und  saures, 
schon  während  des  Essens  oder  unmittelbar  nach  demselben 
eintretendes  Erbrechen,  sowie  schnelle  und  starke  Abmagerung 
wurden  in  beiden  Fällen  beobachtet.  Als  Ursache  liess  sich 
bei  beiden  ein  Abusus  spirituosorum  auflinden,  doch  ist  zu  be- 
merken, dass  der  zweite  Kranke  auch  auf  der  linken  Wange 
ein  hartnäckiges,  nach  der  Beschreihung  carcinomatöses  Ge- 
schwür gehabt  hatte,  nach  dessen  Vernarbung  die  von  einer 
Krankheit  der  Speiseröhre  herrührenden  Zufälle  mehr  und 
mehr  hervorgetreten  waren.  Im  ersten  Falle  befand  sich  die 
unmittelbar  über  der  Cardia  hegende  Portion  des  Oesophagus 
in  einer  Strecke  von  etwa  anderthalb  ZoU  scirrliös  degenerirt 
und  das  Lumen  der  Speiseröhre  beträchtlich  verengt,  da 
Erweichung  noch  nicht  eingetreten  war.  Bei  dem  zweiten 
Kranken  hatten  die  heftigen  Schmerzen  im  Schlunde,  sonne 
das  Erbrechen  einige  Monate  vor  dem  Tode  ganz  aufgehört  ; 
an  ihrer  Stelle  war  aber  ein  unaufhörlicher  quälender  Husten 
eingetreten,  mit  welchem,  namentlich  gegen  das  Ende  der 
Krankheit,  stinkende  schwärzliche  Stoffe  ausgeworfen  wurden. 
Bei  der  Leichenöffnung  fand  sich  eine  scirrhöse  Geschwulst, 
welche  das  ganze  obere  Drittheil  der  Portio  thoracica  des  Oeso- 
phagus einnahm , und  sowohl  mit  der  Wirbelsäule,  wie  mit 


126 


dem  obern  Lappen  der  rechten  Lunge  sehr  fest  verwachsen 
war.  Das  Lumen  der  Speiseröhre  war  an  der  Stelle  der 
Entartung  keineswegs  verengt,  vielmehr  weiter  als  im  Nor- 
malzustände, da  sich  im  Innern  bereits  Exulceration  gebildet 
hatte:  von  dem  hier  bestehenden  carcinomatösen  Geschwür 
erstreckte  sich  ein  schmaler  Fistelgang  bis  in  die  Substanz 
des  obem  Lappens  der  rechten  Lunge,  der  zu  einer  nahe  der 
Lungenspitze  liegenden  und  mit  carcinomatöser  Jauche  an- 
gefüllten Höhle  von  der  Grösse  einer  welschen  Nuss  führte. 
Ueberhaupt  zeigte  das  Parenchym  der  ganzen  rechten  Lunge 
eine  jauchige,  bei  jedem  Einschnitt  aus  der  Schnittfläche  her- 
vorquellende Lifiltration.  Die  Communication  der  rechten 
Lunge  mit  dem  carcinomatösen  Theile  des  Oesophagus  er- 
klärt hinlänglich  den  andauernden , mit  fötidem  Auswurf 
verbundenen  Husten,  -welcher  die  letzten  Monate  des  Un- 
glücklichen verbittert  hatte.  Wider  Y ermuthen  fand  man  aber 
an  der  sehr  verengten  Cardia  selbst  eine  zweite  scirrhöse 
Degeneration,  welche  mit  einem  wallnussgrossen,  auf  der  un- 
tern Fläche  des  kleinen  Leberlappens  aufsitzenden  Scinims 
fest  verwachsen  war.  Auch  am  obem  Rande  des  Pancreas- 
körpers  zeigte  sich  eine  steinharte  Wucherung  von  der  Ge- 
stalt und  Grösse  einer  Haselnuss.  Auffallend  bleibt  bei 
diesem  Kranken  immer  der  vollkommene  Nachlass  der  Schmer- 
zen und  des  Erbrechens  zwei  bis  drei  Monate  vor  dem 
Tode ; denn  die  Bildung  einer  Communication  mit  der  Limge 
kann  nicht  dazu  beigetragen  haben,  die  von  der  Entartung 
der  Speiseröhre  herrührenden  Symptome  zu  mildern;  imd 
wollte  man  dies  auch  annehmen,  so  bleibt  doch  immer  noch 
die  Degeneration  der  Cardia  und  des  kleinen  Leberlappens, 
welche  das  plötzliche  Verschwinden  der  qualvollsten  Zufälle 
unerklärlich  macht.  Diese  Beobachtung  ist  um  so  wichtiger, 
als  man  nach  Rokitansky  den  Krebs  des  Oesophagus  nur 
selten  mit  Krebs  in  andern  Organen  complicirt  findet. 

3.  In  denjenigen  Fällen,  wo  man  einen  entzündli- 
chen oder  gar  ulcerösen  Process  auf  der  Magenschleim- 
haut selbst  anzunehmen  berechtigt  war,  wurde  mit  Hintenan- 


* 


127 


setzung  der  pharmaceutiscken  Behandlung  vorzügliches  Ge- 
wicht auf  die  diätetische  gelegt.  Die  Wirksamkeit  der  Milch- 
kur war  nicht  immer  blos  palliativ,  sondern  hat,  wie  man 
annehmen  darf,  in  einem  Falle  auch  radicale  Heilung  zu  Stande 
gebracht.  Die  betreffende  Kranke  war  eine  junge  früher  ge- 
sunde Frau,  die  seit  Jahresfrist  an  heftigen,  anfallsweise  auf- 
tretenden und  beim  äussern  Druck  bedeutend  zunehmenden 
Schmerzen  in  der  Magengegend,  gänzlichem  Appetitmangel, 
und  an  einem  bald  nach  dem  Genüsse  von  Speisen  eintreten- 
den Erbrechen  litt.  Diese  Symptome,  im  Verein  mit  der 
sehr  gesimkenen  Reproduktion  der  Kranken,  deuteten  auf  eine 
wichtige  Krankheit  der  Magenschleimhaut,  und  demgemäss 
wurde  bei  gleichzeitigem  Gebrauch  schmerzstillender  Mittel 
die  Diät  in  der  Art  bestimmt,  dass  die  Kranke  zum  Früh- 
stück nur  Milch,  Mittags  nur  Milchspeisen,  und  Abends  wie- 
derum nur  eine  Milch  suppe  gemessen  durfte.  Der  gute  Wille 
der  Kranken  kam  den  ärztlichen  Verordnungen  zu  Hülfe, 
und  auf  diese  Weise  gelang  es,  die  Frau  nach  Verlauf  eines 
halben  Jahres  so  vollständig  herzustellen,  dass  nicht  allein 
keine  Spur  der  frühem  Krankheit  mehr  übrig  ist,  sondern 
auch  Körperfülle  und  blühende  Gesichtsfarbe  für  das  Gelin- 
gen der  Kur  ein  erfreuliches  Zeugniss  ablegen.  Aber  selbst 
da,  wo  bereits  eingetretene  Desorganisation  des  Magens 
und  der  nahehegenden  Theile  den  Gedanken  einer  gründli- 
chen Heilung  verbannten,  hatte  die  Anwendung  der  Milchkur 
doch  wenigstens  einen  temporären  Erfolg,  indem  sie  nicht 
allein  die  Schmerzen  und  das  Erbrechen  linderte,  sondern 
zuweilen  auch  die  Reproduktion  auffallend  verbesserte.  Diese 
gute  V irkung  zeigte  sich  vorzugsweise  bei  einem  35  jähri- 
gen, seit  drei  Jahren  an  allen  Symptomen  einer  organischen 
Krankheit  des  Pylorus  leidenden  Schuhmacher.  Während 
des  vierrnonatlichen  Gebrauchs  der  Milchkur  hatten  Schmer- 
zen und  Erbrechen  ganz  aufgehört,  das  Antlitz  ein  gesun- 
deres Colorit  angenommen,  der  abgemagerte  Körper  an  Fülle 
bedeutend  gewonnen.  Nur  das  Fortbestehn  der  palpabeln 
Geschwulst  in  der  Magengegend  verscheuchte  jede  Hoffnung 


128 


auf  einen  günstigen  Ausgang,  und  nach  dem  ein  halbes  Jalu- 
später  unter  grossen  Qualen  im  Charite-Krankenhause  erfolg- 
ten Tode  fand  man  die  Pars  horizont.  super,  des  Zwölffinger- 
darms in  der  Nähe  des  Pylorus  im  Zustande  scirrhöser, 
theilweise  schon  verjauchender  Entartung,  den  Magen  selbst 
zu  einem  enormen  Umfange  erweitert. 

4.  Ha  ematemesis  wurde  auch  unabhängig  von  einer 

organischen  Magenkrankheit  nicht  selten  beobachtet.  In  meh- 
reren Fällen  liess  sich  ein  Schlag  oder  Stoss  auf  die  Milz-, 
Magen-  oder  Lebergegend  als  Causalmoment  der  Blutung 
ermitteln,  seltener  Suppression  der  Catamenien  mit  schmerz- 
hafter Anschwellung  der  Milz.  In  Verbindung  mit  einer 
energischen  Antiphlogose,  allgemeinen  und  örtlichen  Blutent- 
leerungen, wurden  solche  Mittel  in  Gebrauch  gezogen,  deren 
Wirkungen  mit  dem  Heilbestreben  der  Natur  selbst  überein- 
stimmen und  das  in  den  Magen  und  Darmkanal  ergossene 
Blut  auf  eine  milde  Weise  entleeren.  Dieser  Zweck  wird 
vorzugsweise  durch  säuerliche  Abführmittel,  am  besten  durch 
die  Pulpa  Tamarindorum,  oder  das  mit  Weinsteinsäure  ver- 
setzte Elect.  lenit.  erreicht  in  der  vom  verewigten  Heim  ein- 
geführten Formel:  Electuar.  lenitiv  ^ j,  Sal.  essent.  Tart. 

3ß,  Aq..  commun.  ^ij,  Sacch.  alb.  ^ß.  M.  D.  S.  zweistündlich 
einen  Esslöffel  zu  nehmen. 

5.  Entzündliche  Affektionen  der  Magen-  und 
Darmschleimhaut  wurden  sowohl  im  acuten,  wie  im  chroni- 
schen Zustande,  besonders  im  kindlichen  Alter  beobachtet- 
Die  acute  Gastro  - enteritis , für  deren  Unterscheidung  von 
minder  gefährlichen  Zuständen  des  Darmkanals  das  Vorhan- 
densein oder  der  Mangel  eines  heftigen  Durstes  wohl  zu 
berücksichtigen  ist,  suchte  man  durch  Blutentleerungen,  Ivata- 
plasmen  und  den  innern  Gebrauch  schleimiger  Mittel,  am 
besten  einer  einfachen  Emulsio  oleosa  zu  bekämpfen.  Der 
Aelmlichkeit  der  Symptome  wegen  mag  auch  die  Gastro- 
malacie  an  dieser  Stelle  erwähnt  werden,  wenngleich  der 
ihr  zu  Grunde  liegende  Krankheitsprocess  nicht  imbedingt 
zu  den  entzündlichen  gerechnet  werden  darf.  Die  Erweichung 


129 


des  Magengrundes  wurde  zuweilen  gefunden,  wo  während 
des  Lebens  kein  einziges  Symptom  auf  die  Entwicklung  der- 
selben lungedeutet  hatte.  In  der  Regel  fand  dann  aber  eine 
Complieation  mit  einer  wichtigen  Krankheit  des  Gehirns  oder 
der  Lungen  statt.  Auch  konnte  sich  die  Krankheit  erst  in 
den  letzten  Lebensstunden  ausgebildet  haben.  In  fünf  Fällen 
hatte  man  Gelegenheit,  die  während  des  Lebens  gestellte 
Diagnose  durch  die  Section  zu  bestätigen.  In  der  Regel 
trat  (he  Krankheit  bei  aufgefütterten  Kindern  im  Alter  von 
sechs  bis  acht  Monaten  auf,  nur  in  einem  Falle  zeigte  sie 
sich  bei  einem  erst  sieben  Wochen  alten  Kinde,  welches  drei 
Wochen  die  Mutterbrust  bekommen  hatte,  und  dann  aufge- 
füttert  worden  war.  Die  Symptome  waren  in  allen  Fällen 
die  nämlichen,  Erbrechen,  starker  Durchfall,  intensiver  Durst, 
so  dass  die  Kinder  den  gierigen  Blick  von  dem  Gefässe, 
worin  das  Getränk  enthalten  war,  kaum  ab  wendeten.  Am 
wichtigsten  war  jedoch  die  auffallend  schnelle  Abmagerung, 
so  dass  durch  das  Y erschwinden  des  in  den  Augenhöhlen  be- 
findlichen Fettes  die  Augen  tief  in  dieselben  zurücksanken, 
sich  mit  einem  dunkeln  bleifarbenen  Ringe  umgaben,  und 
dadurch  den  der  asphyktischen  Cholera  der  Kinder  eigenen 
Ausdruck  bekommen  hatten.  Dazu  kam  noch  die  trockne, 
spröde  Beschaffenheit  der  Haut,  die  sich  am  Bauche  wie  ein 
Stück  Tuch  in  grossen  Falten  aufheben  liess,  Kälte  der  Hände, 
der  Ftisse,  der  Wangen  und  Nasenspitze.  In  allen  Fällen 
war  ein  comatöser  Zustand  mit  Aufwärtsrollen  des  Augapfels 
damit  verbunden,  und  nach  vier-  bis  achttägiger  Dauer  der 
Krankheit  erfolgte  der  Tod  gewöhnlich  in  einem  Anfalle  von 
Convulsionen.  Complieation  mit  Hautausschlägen,  Strophu- 
lus,  Ekzema,  Ekthyma  wurde  beobachtet:  in  einem  Falle  war 
gleichzeitig  Soor  der  Mundschleimhaut  vorhanden.  Die 
Section  ergab  in  drei  Fällen  die  bekannten  Erscheinungen 
der  gallertartigen  Erweichung  des  Magengrundes,  der  schon 
bei  leiser  Berührung  einriss.  Obwohl  sämmtliche  Magen- 
häute  bis  auf  das  Peritonäum  in  den  Erweichungsproeess 
hineingezogen  waren,  liess  sich  doch  in  keinem  Falle  eine 

9 


130 


spontane  Perforation  wahrnehmen.  Im  vierten  Falle  zeigte 
sich  die  zweite  von  Rokitansky  beschriebene  Form  der 
Krankheit,  die  sich  durch  eine  mehr  oder  weniger  dunkle 
Färbung  der  erweichten  Theile  auszeichnet.  Der  Magen 
enthielt  eine  dunkelbraune,  dem  Kaffeesätze  ähnliche  Flüssig- 
keit, die  Schleimhaut  war  fast  in  ihrem  ganzen  Umfange  zu 
einem  Brei  erweicht,  der  im  Fundus  an  mehreren  Stellen  mit 
Blutextravasaten  vermischt  war.  Die  übrigen  Häute  des  Ma- 
gens hatten  an  der  Desorganisation  noch  keinen  Theil  genom- 
men. Im  fünften  Falle  endlich  bot  der  Magen  selbst  gar 
keine  krankhafte  Veränderung  dar,  dagegen  bildete  die 
Schleimhaut  des  Jejunum  den  Sitz  der  Erweichung.  Auch 
bei  einem  der  an  gallertartiger  Gastromalacie  gestorbenen  Kinder 
fanden  sich  auf  der  Schleimhaut  der  Flexura  sigmoidea  kleine 
oberflächliche  Geschwüre,  die  offenbar  einer  Verschwärung 
der  Schleimdrüschen  ihre  Entstehung  verdankten  (Colitis  fol- 
licularis). Dieser  Befund  erklärte  den  während  des  Lebens 
beobachteten  heftigen  Tenesmus,  welcher  in  den  gewöhnlichen 
Fällen  der  Gastromalacie  nicht  vorkommt. 

Fast  noch  häufiger  als  die  acute,  wurde  die  chroni- 
sche Entzündung  der  Magen-  und  besonders  der  Darm- 
schleimhaut im  kindlichen  Alter  beobachtet.  In  den  meisten 
Fällen  hatte  sich  bereits  bei  der  ersten  Vorstellung  der' Kin- 
der Phthisis  intestinalis  und  hydropische  Ansammlung  im 
Unterhautzellgewebe  oder  auch  in  der  Bauchhöhle  gebildet. 
Die  schnelle  Zunahme  der  hydropischen  Erscheinungen  beim 
Nachlass  der  stets  vorhandenen  profusen  Durchfälle  machte 
Vorsicht  in  der  Behandlung  der  letzteren  nötliig.  Aus  die- 
sem Grunde  wurde  mit  Verwerfung  derjenigen  Mittel,  welche 
schnelle  Suppression  der  Diarrhoe  herbeizuführen  pflegen,  in 
sehr  vielen  Fällen  eine  Auflösung  des  Argentum  nitrieüm 
verordnet,  ein  Mittel,  welches  wegen  seiner  milden,  allmähli- 
gen  und  sichern  Einwirkung  in  den  angegebenen  Fällen  vor 
allen  andern  den  Vorzug  verdient.  Die  im  Klinikum  übliche 
Formel  für  das  kindliche  Alter  in  den  ersten  Lebensjahren 
ist:  Ik  Argent.  nitr.  cryst.  gr.  ß solve  in  Aq.  destill.  q.  s., 


131 


Dec.  Rad.  Salep  5ÜJ,  Syr.  Diacodii  ^ß.  M.  D.  S.  vier  Mal 
täglich  einen  Kaffee-  bis  Kinderlöffel  voll  zu  nehmen.  Auch 
gegen  die  bei  Intestinalphthisis  der  Erwachsenen  vorkommen- 
den Durchfälle  wurde  die  Auflösung  des  Höllensteins  mit 
günstigem  Erfolge  angewendet,  so  wie  überhaupt  gegen  alle 
hartnäckigen  Diarrhöen  namentlich  des  kindlichen  Alters, 
die  frei  A-on  Complicationen  mit  gastrischen  Zuständen  wa- 
ren. In  einer  grossen  Reihe  sowohl  frischer,  wie  veralteter, 
mit  den  verschiedensten  Mitteln  erfolglos  behandelter  Fälle 
hat  sich  das  salpetersaure  Silber  so  trefflich  bewährt,  dass 
seine  Anwendung  nicht  dringend  genug  empfohlen  werden 
kann. 

Als  eine  der  häufigsten  Folgen  erschöpfender  Durch- 
fälle bei  Kindern,  zumal  solchen,  die  in  ungünstigen  Ver- 
hältnissen, in  feuchten  Kellern  leben,  zeigte  sich  eine  öde- 
matöse  Anschwellung  der  untern  Extremitäten,  welche  am 
wirksamsten  durch  die  Verbindung  der  roborirenclen  mit  der 
diuretischen  Methode  bekämpft  wurde.  Zu  diesem  Zwecke 
Avurde  gewöhnlich  ein  saturirtes  Decoct  der  Chinarinde  mit 
Roob  Juniperi  verordnet. 

Die  in  der  wärmeren  Jahreszeit  gleichzeitig  mit  andern 
Krankheiten  biliösen  Ursprungs  auftretenden  Diarrhöen  wi- 
chen in  der  Regel  dem  Gebrauch  des  Acidum  muriaticum, 
bei  Kindern  zu  2 — 5 Tropfen,  versetzt  mit  Mucil.  Gij  mirnos., 
eines  Mittels,  welches  auch  bei  höheren  Graden  der  Krank- 
heit, in  der  Cholera  aestiva  seine  treffliche  Wirkung  bewährte. 
Doch  sah  man  sich  in  mehreren  Fällen  der  letztgenannten 
Krankheit  bei  unfühlbarem  Pulse,  Kälte  der  Nasenspitze  und 
der  Zunge,  und  äusserster  Erschöpfung  der  Lebenskräfte  ge- 
nöthigt,  sogleich  zum  Opium  seine  Zuflucht  zu  nehmen,  wel- 
ches A'orzugSAveise  in  Verbindung  mit  einem  Infus.  Rad.  Ipe- 
cacuanhae  niemals  in  Stich  liess. 

Bei  der  sogenannten  Febris  remittens  der  Kinder 
mit  Appetitlosigkeit,  Neigung  zur  Stuhlverstopfung,  Leib- 
schmerzen, abendlichen  Fieberbewegungen  bediente  man  sich 
oft  mit  gutem  Erfolge  der  englischen  Methode:  Abends  gab 

9* 


132 


man  '2  Gran  Calomel , Morgens  1 — 2 Löffel  Infus.  Sennae 
comp.,  worauf  täglich  2 — 3 grüne  Stühle  eintraten,  und  bal- 
dige Besserung  erfolgte. 

6.  Die  in  der  Klinik  beobachteten  Fälle  von  acuter 
Peritonitis  boten  keine  besonders  hervorzuhebenden  Er- 
scheinungen dar.  Einer  der  wichtigsten  Fälle,  wo  eine  schnell 
tödtliche  Peritonitis  durch  Ruptur  eines  hydatidösen  Eier- 
stocks entstanden  war,  wird  weiter  unten  mitgetheilt  werden. 
Erwähnung  verdient  noch  der  Fall  eines  an  Chorea  leiden- 
den neunjährigen  Mädchens,  welches  am  Abende  des  sechsten 
Tages  nach  Eintritt  der  Peritonitis  unterlag.  In  diesem  Falle, 
wie  überhaupt  in  der  Peritonitis  der  Kinder,  zeigte  sich 
recht  deutlich  der  Unterschied  des  entzündlichen  Schmer- 
zes vom  neuralgischen.  Während  die  von  Kolik  befalle- 
nen Kinder  sich  im  Bette  herumwälzen,  und  schreien,  ver- 
harren die  an  Peritonitis  leidenden  unverrückt  in  derselben 
Lage,  gewöhnlich  auf  dem  Rücken,  und  stossen  nur  von 
Zeit  zu  Zeit  einen  kurzen,  sogleich  in  leises  Gewimmer  über- 
gehenden Schrei  aus,  indem  die  durch  das  Schreien  verur- 
sachte Spannung  der  Bauchmuskeln  dieselbe  Wirkung  auf 
das  entzündete  Bauchfell  hervorbringt,  wie  äusserer  Druck 
oder  starke  Bewegungen  des  Körpers.  Obwohl  bei  diesem 
Kinde  während  des  Lebens  alle  Symptome  einer  über  den 
ganzen  Umfang  des  Bauchfells  verbreiteten  Peritonitis  vor- 
handen waren,  zeigten  sich  doch  bei  der  Section  nur  diePli- 
cae  semilunar.  Douglasii  als  Sitz  der  Entzündung : dieselben 
erschienen  dunkel  geröthet  und  enthielten  eine  nicht  unbe- 
trächtliche Quantität  dicken,  gelben  Eiters.  Der  übrige 
Thcil  des  Peritonäums  hatte,  ohne  Strukturveränderungen 
darzubieten,  seine  Theilnahme  durch  reichliche  Absonderung 
einer  klaren  serösen  Flüssigkeit  kund  gegeben.  — In  der 
Behandlung  der  acuten  Peritonitis  wurde  nächst  den  allge- 
meinen und  örtlichen  Blutentleerungen  das  meiste  Gewicht 
auf  warme  Fomentationen  des  Unterleibs,  am  besten  mit  ei- 
nem KamiUenaufgusse , gelegt,  welche  Tag  und  Nacht  un- 
ausgesetzt gemacht  werden  müssen. 


133 


Die  chronische  Peritonitis  der  Kinder  wurde  meist 
in  Verbindung  mit  einem  tuberculüsen  Leiden  der  Lungen, 
der  Bronchialdrüsen,  der  Milz  und  Gekrösdrüsen  beobachtet. 
Ihre  wesentlichen  Symptome  waren  Schmerzhaftigkeit  des 
Bauches,  dumpfer  Ton  bei  der  Percussion,  nicht  selten  deut- 
liche Fluctuation  im  Unterleibe;  sehr  bemerkenswert!!  ist 
noch  das  Schreien  und  schmerzhafte  Verziehen  des  Gesichts 
beim  Stuhlgange,  ein  Symptom,  welches  sich  leicht  daraus 
erklärt,  dass  die  Austreibung  der  harten  Faeces  stärkere  pe- 
ristaltische Bewegungen  der  Därme  erfordert,  die  wegen  der 
theilweisen  Verwachsung  der  Darmschlingen  unter  einander 
schmerzhaft  sein  müssen.  In  der  Pegel  ist  Stuhl  Verstopfung 
zugegen,  und  begleitende  Durchfälle  müssen  immer  den  V er- 
dacht eines  gleichzeitigen  Erkrankens  der  Darmschleimhaut 
erregen.  Dies  war  z.  B.  bei  einem  dreijährigen,  äusserst  abge- 
zehrten Knaben  der  Fall,  welcher  neben  den  angeführten 
Symptomen  der  chronischen  Peritonitis  (nur  die  Fluctuation 
im  Unterleibe  war  nicht  wahrnehmbar)  noch  an  profusen 
Durchfällen,  Anasarca  und  quälendem  Husten  litt.  Die  Lei- 
chenöffnung ergab  eine  weit  vorgeschrittene  Tuberculose 
der  Limgen  und  Bronchialdrüsen , eine  an  vielen  Stellen  in 
Ulceration  übergegangene  Entzündung  der  Schleimhaut  des 
Ileum  und  chronische  Peritonitis,  welche  eine  vollkommene 
Verwachsung  der  Leber  und  Milz  mit  den  Bauchdecken, 
Verdickung  des  serösen  Ueberzugs  der  Milz,  und  Verwach- 
sung des  Netzes  mit  der  Bauchwand  und  den  Därmen  her- 
beigeführt hatte.  In  sämmtliche  Adhäsionen  waren  zahlreiche 
Tuberkel  eingesprengt,  die  Mesenterialdrüsen  angeschwollen 
und  von  Tuberkelmaterie  durchdrungen.  Die  chronische  Pe- 
ritonitis der  Kinder  ist  überhaupt  in  den  meisten  Fällen  tu- 
berculöser  Natur,  und  erfordert  daher  die  Verbindung  der 
topischen  mit  einer  gegen  das  Allgemeinleiden  gerichteten 
Behandlung.  Mässig  angestellte,  aber  wiederholte  örtliche 
Blutentleerungen,  Einreibungen  der  grauen  Salbe  oder  einer 
Mischung  dieser  mit  dem  Unguent.  Kali  hydrojod.  entspra- 
chen der  ersten  Anzeige ; lauwarme  Bäder , der  Gebrauch 


« 


134 


des  Leberthrans  und  anderer  gegen  die  scrophulöse  Dyscrasie 
gerichteter  Mittel  der  zweiten.  Von  günstiger  Wirkung  zeigte 
sich  insbesondere  eine  Mischung,  welche  von  unserm  verewig- 
ten Heim  gegen  die  beginnende  Tabes  mesenterica  der  Kin- 
der empfohlen  worden  ist.  Ijc  Kali  acetici  — ij,  Extr.  Conii 

macul.  gr.  iv,  Aq.  commun.  ^iij,  Syr.  Papaver.  3 j->  M.  D.  S. 
viermal  täglich  einen  Kinderlöffel.  Auf  diese  Weise  gelang 
es  in  mehreren  Fällen,  wo  die  Annahme  einer  Peritonitis  tu- 
berculosa  vollkommen  gerechtfertigt  war,  vollständige  Heilung 
herbeizuführen.  Ein  dreijähriges,  früher  an  Rhachitis  behan- 
deltes Kind  klagte  seit  vier  Wochen  über  Schmerzen  im  Un- 
terleibe, die  beim  Stuhlgange  bedeutend  Zunahmen.  Neigung 
zur  Obstructio  alvi  war  vorhanden,  der  Leib  aufgetrieben, 
gegen  Druck  empfindlich,  etwas  fluctuirend,  Am  16.  Fe- 
bruar 1844  wurde  die  Kur  mit  topischen  Blutentleerungen, 
Einreibungen  der  Jodsalbe,  lauwarmen  Bädern  und  dem  in- 
nern  Gebrauche  der  oben  mitgetheilten  Mischung  begonnen. 
Am  7.  März  war  noch  keine  günstige  Veränderung  einge- 
treten, vielmehr  hatte  die  Abmagerung  noch  zugenommen, 
die  Urinsecretion  war  sparsamer,  die  Fluctuation  im  Unter- 
leibe deutlicher  geworden.  Da  jedoch  die  Schmerzhaftigkeit 
merklich  nachgelassen  hatte,  so  suchte  man  jetzt  durch  An- 
treibung der  Diurese  die  Resorption  der  angesammelten 
Flüssigkeit  zu  befördern.  Es  wurde  demgemäss  zum  innem 
Gebrauche  ein  Infus.  Hb.  Digital,  mit  Kali  acet.  imd  Tinct. 
Scillae  kalina,  zum  Einreiben  in  den  Unterleib  eine  Emul- 
sion aus  Ol.  Terebinth.  5 j,  Vitell.  Ovi  uuius,  Aq.  commun. 
5viij  verordnet.  Durch  diese  Behandlung  gelang  es,  bis  zum 
15.  Mai  die  hydropische  Ansammlung  im  Unterleibe  vollstän- 
dig zu  beseitigen.  Urin  wurde  reichlich  und  von  normaler 
Beschaffenheit  entleert.  Stuhlgang  erfolgte  regelmässig  und 
ohne  Schmerzen.  Doch  war  der  Unterleib  immer  noch  auf- 
getrieben und  schmerzhaft.  Man  begann  jetzt  die  Einrei- 
bungen der  Jodsalbe  von  neuem,  und  verband  damit  den 
Gebrauch  des  Ol.  Jecor.  Aselli,  wodurch  im  Laufe  des 
Sommers  vollständige  Heilung  herbeigeführt  wurde. 


135 


Die  eben  mitgethcilte  Formel  wurde  auch  solchen  Kin- 
dern verordnet,  bei  jlenen  man  eine  beginnende  Tubercu- 
1 o s e d e r M e s e n t e r i a 1 d r ü s e n vermuthen.  durfte.  Kann 
man  sich  auch  in  Fällen,  wo  bereits  fühlbare  Drüsenge- 
schwülste im  Mesenterium  vorhanden  sind , keine  Wirkung 
davon  versprechen,  so  hat  sich  doch  das  Mittel  gegen  dieje- 
nigen Symptome,  welche  den  Anfang  jener  wichtigen  Krank- 
heit zu  bezeichnen  pflegen,  oft  genug  bewährt,  um  seine  An- 
wendung liier  empfehlen  zu  können.  Sobald  bei  Kindern* 
insbesondere  scrophidösen , Abmagerung  mit  Welkheit  der 
Haut,  Unregelmässigkeiten  des  Stuhlgangs  mit  Neigung  zur 
Obstmction,  und  gegen  Abend  leichte  Fieberbewegungen  ein- 
treten,  hat  man  Grund,  eine  beginnende  Degeneration  der 
Mesenterialdrüsen  zu  vermuthen.  Bei  einigen  dieser  Kinder 
beobachtete  man  trotz  der  verminderten  Esslust  sehr  reich- 
liche Darmentleerungen,  die  aber  nicht  wässerig,  sondern 
vielmehr  breiartig  und  ausserordentlich  übelriechend  waren. 
Man  kann  in  solchen  Fällen  nur  eine  vermehrte  Absonderung 
der  Darmhäute,  eine  eigentliche  Secretio  faecalis  anneh- 
men, welche  gar  nicht  selten  mit  der  beginnenden  Tubercu- 
lose  des  Unterleibs  zusammenfällt.*)  Bei  weiter  vorgeschrit- 
tener Entartung  der  Mesenterialdrüsen  findet  man  oft  die 
Venen  der  Bauchbedeckungen  stark  injicirt,  selbst  varicös. 

*)  Ich  habe  öfters  bei  carcinomatösen  Desorganisationen  des  Dick- 
darms, ohne  vorangegangene  Stuhlverstopfung , beim  Uebergange  in  das 
Stadium  der  Erweichung  eine  übermässige  Kotlibildung  beobachtet,  welche 
sich  durch  häufigen  Abgang  copiöser,  weicher,  grünlich  oder  braun  gefärb- 
ter Massen  von  der  Form  und  dem  Ansehn  der  Kuhfladen  kund  gab. 
Unser  verewigter  Fobmey,  der  an  Carcinom  des  Mastdarms  mit  Durch- 
löcherung der  Harnblase  unter  unsäglichen  Leiden  verstorben  ist,  zeigte 
mir  oft  voll  Verwunderung  die  Menge  dieses  Abgangs  mit  den  Worten: 
„mein  Fleisch  verwandelt  sich  in  Koth.”  Auf  ähnliche  Weise,  wie  das 
Tuberkel  in  der  Lunge  die  Bronchialschleimhaut  zur  Secretion  anspornt, 
reizt  der  Scirrhus  im  absteigenden  Colon  die  Schleimhaut  des  Dickdarms 
und  untern  Theils  des  Dünndarms  zur  stärkeren  Absonderung , welche 
die  faulige  Zersetzung  in  Koth  eingeht.  Dass  aber  überhaupt  ohne  einen 
aus  Nahrungsmitteln  gewonnenen  Darmbrei  Excremente  sich  bilden 
können,  lehren  die  Sectioncn  der  in  Folge  von  scirrhöscn  Stricturcn  des 
Oesophagus  verhungerten  Menschen.  R. 


136 


Diese  Beschaffenheit  der  Venen  zeigt  sich  überhaupt  bei 
Störungen  des  Blutlaufs  im  Unterleibe,,  sei  es  nun  durch 
Ascites  oder  durch  Geschwülste,  Mcsenterialtuberkeln , De- 
generationen der  Ovarien  u.  s.  w.  Bei  reinen  Affektionen 
der  Dannschleimhaut  kommt  sie  nicht  vor. 

Bei  dieser  Gelegenheit  darf  die  sogenannte  Atrophia 
lactantium,  die. in  ihren  Symptomen  der  Atrophia  inese- 
raica  ähnlich,  doch  aus  ganz  verschiedener  Quelle  stammt, 
flicht  unerwähnt  bleiben,  da  sie  häufig  Gegenstand  der  klini- 
schen Beobachtung  war.  Ihre  Grundursache  ist  mangelhafte 
Ernährung;  mag  nun  bei  Kindern,  welche  die  Mutter- 
brust .nicht  bekommen,  die  gereichte  Nahrung,  oder  bei 
Säuglingen  die  Muttermilch  imzureichend  sein.  Diese  Krank- 
heit, eine  Atrophie  im  eigentlichen  Sinne  des  Worts, 
hervorgebracht  durch  Verhungerung  des  Kindes  , cha- 
rakterisirt  sich  durch  die  bedeutende,  schnell  zunehmende 
Abmagerung,  Verlust  des  Turgors  der  Haut,  die  schlaff  und 
welk  sich  leicht  in  Falten  legen  lässt,  ganz  besonders  aber 
durch  die  Gier  nach  Nahrung.  Säuglinge  geben  die  unge- 
nügende Beschaffenheit  der  Muttermilch  schon  dadurch  zu 
erkennen,  dass  sie  nach  dem  Genüsse  derselben,  weit  entfernt 
dadurch  befriedigt  zu  werden,  stark  zu  schreien  fortfahren. 
Im  weitern  Verlaufe  der  Krankheit  gesellen  sich  noch  Stö- 
rungen in  verschiedenen  Organen  hinzu , insbesondere  hart- 
näckige Durchfälle  und  Tuberculose  der  Mesenterialdrüsen, 
wodurch  die  im  Allgemeinen  nicht  ungünstige  Prognose  mehr 
oder  weniger  getrübt  wird.  Nächst  den  diätetischen  Maass- 
regeln (Absetzen  von  der  Brust,  Genuss  einer  bessern  Milch, 
nährenden  Brühen,  und  der  frischen  Luft)  ist  ein  Mittel  drin- 
gend zu  empfehlen,  welches  fast  spezifisch*  in  dieser  Krank- 
heit wirkt,  und  dessen  Anwendung  in  einer  grossen  Reihe 
von  Fällen  von  dem  besten  Erfolge  begleitet  war.  Dies  ist 
der  Tokaierwein.  Man  verordnet  ihn  zu  5 — 10  Tropfen 
dreimal  täglich  in  geringer  Verdünnung  zu  nehmen.  Durch 
diese  Behandlung,  die  mit  stärkenden  Bädern  aus  Malz,  Flor. 
Chamomill.,  Rad.  Calami  u.  s.  w.  verbunden  wurde , sind 


137 


Kinder,  die  bis  auf  den  äussersten  Grad  abgezehrt  waren, 
und  bei  denen  man  bereits  eine  Theilnahme  der  Mesenterial- 
drüsen vermuthen  durfte,  vollständig  wieder  hergestellt 
worden  .*) 

Entzündliche  Affektionen  des  serösen  Ueberzugs  derLe- 
ber  kamen  sowohl  für  sich,  als  auch  in  Verbindung  mit  Pleuri- 
tis und  Pneumonie  der  rechten  Lunge  besonders  während 
der  heisseren  Jahreszeit  nicht  selten  vor.  Eben  so  häufig  wie 
der  aus  dieser  Quelle  stammende  Icterus  wurde  eine  an- 
dre Art  desselben,  die  von  einer,  meist  catarrhali sehen , Hei- 
zung der  Duodenalschleimhaut  abhängig  ist,  beobachtet.  Bei 
der  in  solchen  Fällen  sein1  vermehrten  Gallenabsonderung 
hatte  die  abführende  Methode  immer  schnellen  und  sichern 
Erfolg.  TVar  aber,  was  nicht  selten  verkam,  diese  Form  des 
Icterus  von  Durchfall  begleitet,  so  wurde,  um  die  Reizung 
der  Duodenalschleimhaut  zu  mindern,  nebst  topischen  Blut- 
entleerungen eine  einfache  Oelemulsion  mit  dem  besten  Er- 
folge verordnet.  Häufiger,  als  die  acuten,  waren  die  chro- 
nischen Affektionen  der  Leber  Gegenstand  der  klinischen 
Beobachtung.  Bei  einer  grossen  Anzahl  von  Kranken,  welche 
über  „Magenkrampf”  klagend  in  der  Poliklinik  Hülfe  such- 
ten, fand  sich  bei  genauer  Untersuchung  eine  schmerzhafte 
Anschwellung  des  kleinen  Leberlappens  als  Ursache  ihrer 
Leiden.  Eine  sorgfältige  Untersuchung  ist  hier  um  so  mehr 
nothwendig,  als  die  paroxysmenweise  auftretenden,  unter  das 
Brustbein  und  in  die  obem  Extremitäten  hinaufstrahlenden 
Schmerzen  leicht  zur  Annahme  einer  neuralgischen  Affektion 
verleiten  können.  Bemerkenswerth  ist,  dass  in  mehreren  Fäl- 
len clironischer  Leberkrankheiten  ein  hoher  Grad  von  Pru- 
ritus am  ganzen  Körper  beobachtet  wurde,  ohne  dass  eine 


*)  Und  nicht  bloss  in  der  Atrophie  der  Säuglinge , auch  in  andern 
atrophischen  und  Erschöpfungszuständen  der  Kinder  nach  Diarrhöen,  pro- 
fuser Eiterung  hat  mich  eine  langjährige  Erfahrung  von  dem  Nutzen  des 
ächten  alten  Tokaierweins  (zu  20—25  Tropfen  Kindern  von  8—12  Jah- 
ren, dreimal  täglich)  überzeugt,  welcher  alle  anderen  Mittel  entbehrlich 
machte.  t> 


138 


Spur  von  Icterus,  welcher  dieses  Symptom  so  oft  zum  Be- 
gleiter hat,  oder  Prurigo  wahrzunehmen  war.  Die  Behand- 
lung dieser  Zustände  musste  bei  den  von  Zeit  zu  Zeit  ein- 
tretenden entzündlichen  Erscheinungen  die  antiphlogistische 
sein,  nach  deren  Beseitigung  man  zur  Anwendung  der  Resol- 
ventia  überging.  Mit  Uebergehung  der  gewöhnlich  in  solchen 
Fällen  versuchten  Mittel,  sei  hier  nur  der  Radix  Belladonnae 
gedacht,  welche,  in  der  Regel  mit  Pulv.  Rad.  Rhei  verbun- 
den, zu  i Gr.,  alhnählig  bis  zu  i— 1 Gran  steigend,  dreimal 
täglich  gegeben  wurde.  Der  alte  Ruf  dieses  Mittels  als  kräf- 
tiges Resolvens  ist  ein  wohlbegründeter,  und  seine  Anwen- 
dung kann  in  den  betreffenden  Fällen,  zumal  narkotische 
Wirkungen  fast  niemals  danach  beobachtet  werden,  mit  gutem 
Rechte  empfohlen  werden.  Am  wirksamsten  zeigten  sich 
jedoch  immer  die  Brunnenkuren,  welche  in  jedem  Sommer 
von  einer  Anzahl  Kranker  in  der  berühmten  Anstalt  des 
Herrn  Hofraths  Soltmann,  dessen  Liberalität  unsem  aufrich- 
tigen Dank  erheischt,  gebraucht  wurden. 

Tuberkeln,  zuweilen  eingekapselt  und  gelb  gefärbt,  fan- 
den sich  nicht  selten  in  der  Leber  bei  scrophulösen  Kindern 
in  Gemeinschaft  mit  Tuberculose  andrer  Organe,  ohne  dass 
ein  Symptom  während  des  Lebens  das  Vorhandensein  der- 
selben angedeutet  hätte. 

Unter  den  Krankheiten  der  Milz  kamen  Anschwellun- 
gen dieses  Organs  in  Folge  hartnäckiger  Wechselfieber  am 
häufigsten  vor.  Eine  fühlbare  Geschwulst  unter  den  falschen 
Rippen  der  linken  Seite  war  in  diesen  Fällen  keineswegs 
eine  constante  Erscheinung,  vielmehr  ergab  nicht  selten  we- 
der die  Manualuntersuchung  noch  die  Percussion  irgend  eine 
krankhafte  Veränderung  im  linken  Hypochondrium.  Man 
darf  indcss  nicht  übersehen,  dass  die  anschwellende  Milz  sich 
ebensowohl  in  der  Richtung  nach  oben  gegen  den  Thorax, 
als  nach  unten  gegen  die  Bauchhöhle  ausdehnen  kann,  imd 
dass  die  auf  diese  Weise  verursachte  Schmerzhaftigkeit 
der  untern  und  seitlichen  Partie  der  linken  Brust,  so  wie 


/ 


139 


die  Mattheit  des  Percussionstons  an  dieser  Stelle  leicht  zur 
irriiren  Annahme  einer  Pleuritis  verleiten  kann. 

Ein  solcher  Irrthum  ist  indess  nur  bei  Erwachsenen 
möglich;  bei  Kindern,  besonders  in  den  ersten  Lebensjahren, 
wo  ciie  AXilz  und  die  Leber  überhaupt  noch  der  mesogastri- 
schen Region  nahe  hegen,  findet  die  Anschwellung  der  Milz 
immer  in  dieser  Richtung  statt,  und  kann  deutlich  durch  die 
Bauchdecken  gefühlt  werden.  Bei  einem  eilf  Monate  alten 
Künde  begleiteten  Mangel  des  Appetits,  mit  Diarrhöe  abwech- 
selnde Verstopfung  und  ödematöse  Anschwellung  des  Ge- 
sichts imd  der  untern  Extremitäten  das  Milzleiden.  Charak- 
teristisch war  aber  in  diesem,  wie  in  einem  zweiten  ähnlichen 
Falle  das  gelblichweisse  Colorit  des  Antlitzes  und  der  gan- 
zen Körperoberfläche,  eine  wahre  Wachsfarbe,  wie  sie  sich 
bei  keiner  andern  Krankheit  findet.  Auch  bei  diesem  zwei- 
ten, ein  Jahr  alten  Kinde  zeigte  sich  Oedem  ‘des  Gesichts 
und  der  untem  Extremitäten,  ausserdem  noch  Erbrechen  sehr 
sauer  reagirender  Stoffe.  Die  Section  dieses  Kindes,  welches 
wiederholten  Anfällen  einer  mit  der  Dentition  in  Verbindung 
stehenden  Eclampsie  unterlag,  zeigte  den  Umfang  der  Milz 
dergestalt  vergrössert,  dass  sie  bis  1"  unter  den  Nabel  hinab- 
reichte, wobei  der  vordere  Rand  1|"  von  demselben  entfernt 
war.  Ihr  Gewicht  betrug  ll£  während  es  in  diesem  Al- 
ter gewöhnlich  auf  4 — 5 5,  ja  selbst  bei  Erwachsenen  nur  auf 
8 5 sich  beläuft.  Die  merkwürdigste  Erscheinung  in  diesem 
Falle  war  aber  das  Vorhandensein  zahlreicher  kleiner  Ekchy- 
mosen  auf  der  Oberfläche  verschiedener  Organe,  namentlich 
der  Lungen,  des  Herzbeutels,  des  Herzens  und  der  Nieren. 
Wenn  man  einen  Schnitt  in  die  beiden  letztgenannten  Or- 
gane durch  eine  der  gedachten  Ekchymosen  hindurchführte, 
so  konnte  man  deutlich  wahmehmen,  dass  die  kleinen  Blut- 
ergiessungen etwa  1 tief  in  die  Substanz  der  Organe  ein- 
drangen. Diese  Affcktion,  die  man  mit  vollem  Recht  als 
eine  Purpura  interna  bezeichnen  könnte,  ist  um  so  interessan- 
ter, als  sie  der  auf  der  äussem  Haut  vorkommenden  Pur- 
pura, die  zuweilen  bei  Milzkrankheiten  beobachtet  wird,  ent- 


140 


spricht.  Hierdurch  wird  ein  neuer  Beweis  geliefert,  welchen 
wichtigen  Einfluss  Affektionen  der  Milz  auf  die  Blutkrasis 
ausüben,  von  deren  krankhafter  Veränderung  ohne  Zweifel 
auch  die  erwähnten  hydropischen  Erscheinungen  abhängen. 
Denn  wollte  man  dieselben  von  dem  Drucke  der  angeschwol- 
lenen Milz  auf  die  Unterleibsvenen  herleiten,  so  hätte  bei 
vorzugsweiser  Beeinträchtigung  des  Pfortadersystems  Asci- 
tes die  Folge  sein  müssen,  während  derselbe  gänzlich  fehlte, 
und  nur  ödematöse  Anschwellung  des  Gesichts  und  der  un- 
tern Extremitäten  stattfand. 

Schliesslich  muss  noch  bemerkt  werden , dass  mehrere 
für  charakteristisch  gehaltene  Symptome,  z.  B.  der  eigen- 
tümliche Schwindel,  die  Epistaxis,  besonders  aus  dem  linken 
Nasenloche,  in  der  Mehrzahl  der  Fälle  vermisst  wurden. 


i 


Krankheiten  der  Geschlechts-  und  Ilarnorgane. 


IJ ngeachtet  der  grossen  V erbreitung  des  Lasters  der  Ona- 
n i e dürfte  sie  doch  nur  selten  einen  so  hohen  Grad  erreichen, 
als  es  bei  zwei  Brüdern,  Knaben  von  sechs  und  sieben  Jah- 
ren, der  Fall  war.  Weder  Gewalt,  noch  ärztliche  Behandlung 
vermochte  dem  Laster  Einhalt  zu  thun,  und  selbst  die  auf 
Lallemand’s  Empfehlung  vorgenommene  Kauterisation  der 
Harnröhre  mit  Lapis  infernalis  blieb  ohne  allen  Erfolg.  Beide 
Kinder  starben  -fast  gleichzeitig  unter  den  Symptomen  gänz- 
licher Erschöpfung  der  Lebenskräfte.  Bei  dieser  Gelegenheit 
darf  eine  Erscheinung  nicht  unerwähnt  bleiben,  die  man  in 
neuester  Zeit  als  ein  Hülfsmittel,  die  Onanie  bei  Kindern  zu 
entdecken,  hat  benutzen  wollen.  Man  kann  nämlich  kaum 
ein  treffenderes  Beispiel  von  Reflexbewegung  sehen,  als  wenn 
man  bei  gesunden  kleinen  Kindern  mit  den  Fingerspitzen 
über  die  Haut  an  der  innern  Fläche  der  Oberschenkel,  vor- 
zugsweise an  der  der  Fossa  ovalis  der  Schenkelbinde  ent- 
sprechenden Stelle,  hinstreicht : man  bemerkt  dann  fast  augen- 
blicklich ein  schnelles  Hinaufziehn  des  Testikels  derselben 
Seite.  Diese  Reflexerscheinung  erlischt  nun  bei  allen  Krank- 
heiten, in  denen  die  Centralorgane  des  Nervensystems  mehr 
oder  weniger  afficirt  sind,  und  soll  auch  bei  Onanie  treibenden 
Kindern  vermisst  werden,  ein  Mangel,  der  sich  aus  der  be- 
deutenden Beeinträchtigung  der  motorischen  Kraft  des  Riik- 
kenmarks  durch  die  Onanie  wohl  erklären  Hesse.  Allein  die 
in  der  Klinik  gemachten  Beobachtungen  sprechen  nicht  zu 
Gunsten  dieses  diagnostischen  Iliilfsmittels,  indem  auch  bei 
solchen  Kindern,  die  unzweifelhaft  Onanie  trieben,  eine  Re- 
flexbewegung dcutüch  beobachtet  werden  konnte. 


142 


In  der  Behandlung  primär  syphilitischer  Affektio- 
nen der  Genitalien  wurde  die  Anwendung  des  Quecksilbers 
der  einfachen  antiphlogistischen  Methode  vorgezogen.  Die 
gewöhnlich  verordneten  Präparate  waren  das  Calomel,  der 
Mercur.  solubilis  Hahnemanni  und  der  rothe  Präcipitat  in 
Verbindung  mit  Antimon,  crudum.  Gegen  Condylome  erwies 
sich  vorzugsweise  der  innere  Gebrauch  des  Sublimats  vonNutzen. 

Zur  Bekämpfung  der  in  Folge  des  Trippers  entstandenen 
E p i di  d y m i t i s dienten  besonders  warme  Breiumschläge 
in  ruhiger  Rückenlage,  bei  nicht  zu  grosser  Schmerzhaftig- 
keit aber  und  starker  Geschwulst  die  FmcKE’sche  Ein- 
wicklung. 

Bei  allen  Kranken,  die  wegen  eines  Fluor  albus  Hülfe 
in  der  Poliklinik  suchten,  wurde,  wo  es  die  Umstände  ge- 
statteten, zuvor  eine  genaue  Untersuchung  der  innem  Ge- 
schlechtstheile  mittelst  des  Speculum  vorgenommen.  Zeigte 
sich  Granulationsbildung  auf  der  Vaginalschleimhaut,  so  wurde 
dieselbe  mit  Erfolg  durch  Touchiren  mit  Höllenstein  zerstört. 
In  andern  Fällen  entdeckte  man  Excoriationen,  Geschwüre 
u.  s.  w.,  welche  sich  bei  oberflächlicher  Untersuchung  dem  Auge 
entzogen  haben  würden,  und  eine  antisyphilitische  Behand- 
lung erforderten.  Bei  Kindern  zeigte  sich  der  Fluor  albus  am 
häufigsten  auf  scropliulöser  Basis,  öder  in  schlaffen  anämischen 
Constitutionen:  antiscrophidöse  Mittel,  eine  Verbindung  des 
Aethiops  antimonial.  und  mineral,  mit  Rheum,  Eisenpräparate 
reichten  in  solchen  Fällen  zur  Heilung  hin.  Zum  Waschen 
oder  zu  Einspritzungen  diente  die  Aq.  Calcis,  in  hartnäckigen 
Fällen  eine  starke  Auflösung  des  Höllensteins.  Bei  kleinen 
Kindern  von  einem  oder  zwei  Jahren  steht  der  Fluor  albus 
zuweilen  mit  der  Dentition  in  Zusammenhang.  Bei  älteren 
Kindern  berücksichtige  man  immer  etwa  stattfindende  Onanie, 
ja  selbst  Coitus,  der  in  zwei  Fällen  Ursache  des  Fluor  albus 
war.  Uebrigens  hüte  man  sich,  einen  lange  bestehenden 
weissen  Fluss  schnell  zu  supprimiren,  indem  dann  leicht,  be- 
sonders im  kindlichen  Alter,  ein  heftiger  Catarrh,  Bronchitis, 
ja  selbst  Lungentuberculose  sich  ausbilden  kann. 


143 


Obwohl  Kranke  mit  Geschwülsten  und  Degenerationen 
der  innem  Sexualorgane,  namentlich  der  Ovarien,  fast  zu 
den  gewöhnlichen  Erscheinungen  gehören,  dürfte  doch  die 
ausführliche  Mittheilung  eines  hieher  gehörigen  Falls  durch 
seinen  seltenen  Ausgang  gerechtfertigt  sein. 

Minna  S . . .,  ein  20jähriges  Mädchen,  hatte,  abgesehn 
von  den  gewöhnlichen  Kinderkrankheiten  und  wiederholten, 
in  Eiterung  übergegangenen  Anschwellungen  der  Cervical- 
drtisen,  eine  gesunde  Kindheit  verlebt.  Im  siebzehnten  Jahre 
trat  die  Periode  ein,  die  auch  bis  zum  Tode  vollkommen  re- 
gelmässig blieb.  Ein  Jahr  nach  dem  Eintritt  der  Katamenien 
bemerkte  die  Kranke  zuerst  eine  Anschwellung  des  Unter- 
leibs, welche  alhnäblig  zunahm,  ohne  dass  jemals  Sinnen 
einer  ödematösen  Geschwulst  der  untern  Extremitäten  bemerkt 
winden.  Bei  der  Vorstellung  der  Kranken  in  der  Klinik  am 
17.  Juli  1843  zeigte  sich  der  Unterleib  beträchtlich,  aber 
gleichmässig  angeschwollen ; Fluctuation  war  durch  die  von 
stran<rartigen  Venen  durchzogenen  Bauchdecken  deutlich 
fühlbar;  die  Percussion  ergab  im  ganzen  Umfange  des  Un- 
leibs mit  Ausnahme  der  epigastrischen  Gegend  und  der  beiden 
Hypochondrien  einen  matten  Ton,  der  indess  in  der  Seiten- 
lage einem  helleren  Tone  auf  der  entgegengesetzten  Seite 
Platz  machte.  Trotz  der  sorgfältigsten  Untersuchung  liess 
sich  in  keinem  Organe  weder  des  Unterleibs  noch  der  Brust 
eine  krankhafte  Veränderung  wahrnehmen,  auf  welche  man 
die  Wasseransammlung  in  der  Bauchhöhle,  die  sich  entschie- 
den als  Ascites  aussprach,  hätte  beziehen  können ; die  innere 
Untersuchung  konnte  wegen  des  noch  vorhandenen  Hymens 
nicht  vorgenommen  werden,  und  zur  Exploration  per  rectum 
wollte  sich  die  Kranke  durchaus  nicht  entschliessen.  Die 
natürlichen  Secretionen  gingen  auf  normale  Weise  von  Stat- 
ten, und  auch  die  Reproduktion  hatte  nicht  wesentlich  ge- 
litten: doch  sprach  die  blasse  kachektische  Gesichtsfarbe  für 
ein  tiefes  organisches  Leiden,  welches  zu  entdecken  unter  den 
obwaltenden  Umständen  nicht  möglich  war.  Am  28.  Juli 
wurde  der  durch  die  Ausdehnung  des  Unterleibs  verursachten 


144 


Dyspnoe  halber  die  Paracentese  in  der  Linea  alba  vorgenom- 
men, und  vier  Quart  einer  hellgelben  Flüssigkeit  von  ölartiger 
Consistenz , wie  Leberthran , entleert.  Der  verewigte  Dr. 
Franz  Simon  erhielt  bei  der  Untersuchung  derselben  folgen- 
des Resultat:  die  entleerte  Flüssigkeit  hat  eine  dickliche,  öl- 
artige Consistenz,  und  wenn  man  das  Wasser  = 1000  ansetzt, 
ein  spezifisches  Gewicht  von  1019.  Sie  ist  geruchlos,  von 
gelblicher  Farbe,  fast  klar.  Auf  dem  Boden  des  Gefässes 
befinden  sich  zahlreiche  Flocken,  und  der  hier  abgesetzte  Theil 
ist  zugleich  röthlich  gefärbt.  Die  Reaktion  auf  Lakmuspa- 
pier  ist  deutlich  alkalisch.  Mit  dem  Mikroskope  erkennt  man 
besonders  in  den  untern  Theilen  der  Flüssigkeit  Blutkörper- 
chen, spärlich  zerstreute  Zellen,  den  Schleimkörperchen  ähn- 
lich, die  grossem  granulirten  Exsudatzellen,  und  amorphe, 
theils  zu  dichten  grauen  Massen  zusammengefügte,  theils 
leichtere  und  lichtere  Conglomerate  bildende  Partikeln,  welche 
aus  Fibrine  im  ersten  Zustande  der  Fällung  bestehen.  Die 
ölartige  Consistenz  rührt  nur  von  dieser  körnig  präcipitirten 
Fibrine  her.  Durch  chemische  Hülfsmittel  wurde  eine  sein- 
ansehnliche  Menge  Albumen,  aber  keine  dem  Kasein  ähnliche 
Materie,  ziemlich  viel  schmieriges  Fett,  die  gewöhnlichen  ex- 
traktiven Materien  und  Salze  nachgewiesen.  Plarnstoff  Hess 
sich  nicht  auffinden. 

Aus  diesen  Resultaten  schloss  Dr.  Simon,  dass  das  Ex- 
sudat, welches  zu  den  lymphatischen  gehörte,  noch  nicht 
lange  im  Körper  verweilt  haben  konnte,  und  bei  seiner  Ab- 
sonderung die  Nieren  höchst  wahrscheinlich  nicht  betheiligt 
waren.  Von  den  gewöhnlichen  hydropischen  Flüssigkeiten 
unterschied  sich  das  Exsudat  durch  ein  höheres  spezifisches 
Gewicht,  durch  eine  grössere  Menge  von  Albumen,  und  durch 
die  Gegenwart  der  präcipitirten  Fibrine. 

Die  Geschwulst  des  Unterleibs  fiel  sogleich  zusammen, 
aber  auch  jetzt  konnte  man  trotz  genauer  Untersuchung  kerne 
Abnormität  in  der  Bauchhöhle  entdecken.  Der  Zustand  der 
Kranken  blieb  indess  unverändert,  so  dass  am  24.  November 
die  zweite,  und  am  28.  Februar  1844  die  dritte  Punction  an 


145 


derselben  Stelle  gemacht  und  jedesmal  eine  grosse  Menge  Flüs- 
sigkeit von  gleicher  Beschaffenheit  entleert  wurde.  Im  März 
trat  eine  profuse,  vier  Wochen  anhaltende  Metrorrhagie  ein, 
welche  auf  den  Heerd  der  Krankheit  im  Ovarium  deutete,  nach 
deren  Beseitigung  die  Unterleibsgeschwulst  und  die  Athem- 
noth  der  Kranken  bereits  wieder  einen  so  hohen  Grad  er- 
reicht hatten,  dass  die  Wiederholung  der  Operation  beschlos- 
sen ward,  als  die  Kranke  plötzlich  am  Morgen  des  4.  April, 
während  sie  am  Brunnen  mit  der  Wäsche  beschäftigt  war, 
von  einem  so  gewaltigen  Schmerze  im  Unterleibe  befallen 
wurde,  dass  sie  ohnmächtig  zu  Boden  sank.  Die  kurz  darauf 
vorgenommene  Untersuchung  stellte  die  Entwicklung  einer 
heftigen  eonsecutiven  Peritonitis  ausser  Zweifel,  welcher  die 
Kranke  nach  21  Stunden  unter  den  fürchterlichsten  Qualen 
erlag. 

Am  folgenden  Tage  wurde  die  Section  von  Herrn  Prof. 
Schlemm  gemacht. 

Beim  Einschneiden  des  stark  aufgetriebenen  und  fluctui- 
renden  Unterleibs  ergoss  sich  eine  beträchtliche  Quantität 
Flüssigkeit  von  derselben  öligen  Beschaffenheit,  wie  die  durch 
die  Punction  entleerte.  Das  Peritonäum  war  in  seinem  gan- 
zen  Umfange  stark  injicirt,  an  manchen  Stellen  gleichmässig 
geröthet ; ein  purulentes,  flockiges,  mit  der  meinfach  erwähnten 
öligen  Flüssigkeit  vermischtes  Exsudat  füllte  die  Bauchhöhle. 
Das  rechte  Ovarium  bildete  eine  fast  mannskopfgrosse, 
schwärzlich  gefärbte,  höckrige,  aber  elastisch  anzufühlende 
Geschwulst,  welche  vom  kleinen  Becken  bis  einen  Zoll  unter 
den  Kabel  hinaufreichte,  und  dadurch,  dass  sie  sich  vor  dem 
Uterus  und  dem  gesunden  linken  Ovarium  gelagert  hatte, 
diese  Organe  ganz  verdeckte.  Bei  der  genaueren  Untersu- 
chung der  Geschwulst  ergab  sich  1)  eine  ziemlich  schlaffe 
schwärzliche  Hülle,  welche  aus  der  äussem  Haut  des  Ova- 
riums  und  dessen  Peritonäalüberzuge  zu  bestehen  schien. 
An  mehreren  Stellen  derselben  fanden  sich  Ulcerationen,  und 
nahe  der  Spitze  der  Geschwulst  eine  runde  Perforation  von 
der  Grösse  eines  halben  Silbergroschens,  die  von  einem  auf* 

10 


146 


geworfenen  entzündeten  Rande  umgeben  war.  2)  Die  ganze 
Substanz  des  Ovariums  war  in  Hydatiden  degenerirt,  welche 
concentrisch  in  einander  eingeschachtelt,  eine  ölige  Flüssig- 
keit, zum  Theil  auch  knochige  Concremente  enthielten.  Zu 
bemerken  ist  noch,  dass  auch  beim  Einschneiden  der  äussem 
Hülle  der  Geschwulst  ein  massiger  Erguss  jenes  ölartigen 
Fluidums  stattfand.  Alle  übrigen  Organe  schienen  vollkom- 
men gesund. 

Dieser  Fall  liefert  einen  neuen  Beweis,  wie  schwer  es 
zuweilen  ist,  eine  wassersüchtige  Anschwellung  des  Ovariums 
vom  Ascites  zu  unterscheiden.  In  der  That  konnte  nach  den 
während  des  Lebens  beobachteten  Erscheinungen  und  bei 
der  Unmöglichkeit,  eine  Untersuchung  per  vaginam  et  rectum 
vorzunehmen,  das  Vorhandensein  eines  Ascites  nicht  zweifel- 
haft sein,  zumal  auch  die  V eränderungen  des  Percussionstons 
je  nach  der  Lage  der  Kranken,  ein  so  chai’akteristisches 
Symptom  des  Ascites,  dafür  sprachen.  Der  Sectionsbefund 
erklärt  die  diagnostischen  Schwierigkeiten  dieses  Falls.  Die 
Geschwulst  des  Unterleibs  wurde  nämlich  vorzugsweise  durch 
die  äussere  Hülle  des  degenerirten  Ovariums,  welche  von  der 
enthaltenen  öligen  Flüssigkeit  zu  einem  enormen  Umfange 
ausgedehnt  war,  gebildet,  während  der  hydatidöse  Eierstock 
selbst  grüsstentheils  im  kleinen  Becken  verborgen  blieb.  V er- 
möge  seiner  lockern  Befestigung  konnte  der  wassergefüllte 
Sack  je  nach  der  Lage  der  Kranken  dem  Gesetze  der 
Schwere  folgen,  eine  Erscheinung,  die  bei  ^accwassersuchten 
sonst  nicht  vorzukommen  pflegt.  Auch  unterhegt  es  keinem 
Zweifel,  dass  bei  den  Functionen  eben  dieser  Sack  angesto- 
chen, und  die  ölige  Flüssigkeit,  deren  Sitz  man  in  der  Bauch- 
höhle vermuthete,  aus  der  zwischen  der  äussem  Hülle  und 
der  eigentlichen  Substanz  des  Ovariums  befindlichen  Cavität 
entleert  wurde.  Es  könnte  zwar  nocli  auffallend  scheinen, 
dass  auch  nach  der  Paracentese  die  sorgfältigste  Untersuchung 
keine  Spur  einer  Geschwulst  aufzufinden  vermochte:  wenn 
man  indess  die  schlaffen  dünnen  Wände  der  Kyste,  und  die 
weiche,  nachgiebige  Beschaffenheit  der  Hydatiden  selbst  bc- 


147 


denkt,  so  wird  auch  das  Auffallende  dieses  Umstandes 
schwinden.  Vorzugsweise  wichtig  ist  aber  dieser  Fall  durch 
seinen  ungewöhnlichen  Ausgang  in  Ruptur  der  Kyste,  die 
an  einer  der  ulcerirten  Stellen  bei  einer  heftigen  Anstrengung 
erfolo-te,  und  sofort  eine  schnell  tödthehe  Peritonitis  herbei- 
führte.  Die  mit  purulentem  Exsudat  untermischte  ölige 
Flüssigkeit,  welche  in  der  Bauchhöhle  selbst  angetroffen  wurde, 
war  offenbar  aus  dem  Sacke  in  den  Peritonealraum  ausgetreten : 
ein  Theil  derselben  wurde  noch  innerhalb  der  Ivyste  vorgefun- 
den. Bemerkenswerth  ist  endlich  noch  der  Umstand,  dass  eine 
Flüssigkeit  von  ganz  gleicher  Beschaffenheit  auch  in  den 
Hydatidenblasen  enthalten  war. 

Unter  den  Affektionen  der  Harnorgane  verdient 
besonders  die  Folgekrankheit  eines  Trippers  hervorgehoben 
zu  werden,  welche  bei  einem  32jährigen  Manne  vorkam. 
Derselbe  hatte  vor  zwei  Jahren  an  Tripper  und  Epididymitis 
der  rechten  Seite  gelitten,  nach  deren  Heilung  ein  unaufhörlicher 
lästiger  Drang  zum  Urinlassen  zurückgeblieben  war.  Die 
sein1  häufig  zur  Nachtzeit  eintretenden  Pollutionen  waren  blu- 
tig gefärbt,  und  der  Beischlaf  verursachte  schmerzhafte  Em- 
pfindungen.  Uebrigens  wurde  der  Urin  in  ununterbrochenem 
Strahle  entleert,  und  der  Katheter . konnte  mit  Leichtigkeit 
in  die  Blase  eingeführt  werden,  wobei  nur  im  hintern  Theile 
der  Harm-öhre  nahe  ihrer  Einmündung  in  die  Blase  ein  ge- 
ringer Schmerz  empfunden  wurde.  Die  Diagnose  wurde  auf 
entzündliche  Reizung  der  Urethralschleimhaut,  in  der  Gegend 
des  Colliculus  seminalis , so  wie  der  Ausführungsgänge  der 
Saamenbläschen  gestellt  , und  demgemäss  eine  antiphlogisti- 
sche Behandlung  eingeleitet:  wiederholte  Application  von 
Blutegeln  an  das  Perinäum,  Einreibungen  mit  grauer  Salbe,  der 
innere  Gebrauch  eines  Thees  aus  Semin.  Lini  mit  Sem.  Can- 
nabis bewirkten  nach  einigen  Wochen  Heilung,  womit  gleich- 
zeitig die  Neigung  zu  Pollutionen  verschwand.  Allein  schon 
nach  Ablauf  eines  Vierteljahrs  fanden  sich  die  früheren  Zu- 
fälle von  neuem  ein  und  leisteten  allen  angewandten  Mitteln 
den  hartnäckigsten  Widerstand : erst  einer  lange  fortgesetzten 

10* 


148 


Behandlung,  namentlich  lauwarmen  Bädern,  gelang  es  wieder, 
einen  Nachlass  der  Erscheinungen  herbeizuführen. 

Dieser  Fall  giebt  einen  neuen  Beweis  für  die  Abhängig- 
keit der  Saamenergiessungen  von  Reizen,  die  in  der  Sclüeim- 
haut  der  Harnröhre  ihren  Sitz  haben,  gegen  welche  Lallemakd 
die  Kauterisation  der  letztem  mittelst  des  Höllensteins  em- 
pfohlen hat.  Fälle  dieser  Art  scheinen  indess  nicht  so  häufig 
vorzukommen,  als  Lallemano  angiebt : denn  die  Mehrzahl 
der  Kranken,  welche  in  der  Klinik  Hülfe  gegen  zu  reichliche 
Pollutionen  suchten,  bot  durchaus  keine  Erscheinungen 
von  Irritation  der  Urethra  dar.  Meist  waren  es  junge,  kräftige 
Individuen,  die  an  diesem  Uebel  litten,  daher  auch  die  in  sol- 
chen Fällen  so  oft  gemissbrauchten  roborirenden  Mittel  streng 
gemieden  wurden.  Vielmehr  sah  man  von  der  entgegenge- 
setzten Behandlungsweise  fast  immer  den  besten  Erfolg : ne- 
ben dem  innern  Gebrauche  der  Mineralsäuren  verdienen  wie- 
derholte Applicationen  blutiger  Schröpf  köpfe  in  den  Nacken, 
kalte  Waschungen  und  Anwürfe  des  Nackens  und  Rückens, 
im  Sommer  Flussbäder,  dringend  empfohlen  zu  werden. 
Dieselbe  Behandlung  erwies  sich  auch  gegen  die  heftigen 
Schmerzen  im  Hinterhaupte,  die  bei  Onanisten  und  nach  zu 
reichlichen  Pollutionen  zuweilen  Vorkommen,  wirksam. 

Störungen  der  U r i n a u s s c h e i d u n g kamen  nicht 
selten  vor.  In  einigen  Fällen  schienen  dieselben  auf  einer 
entzündlichen  Affektion  der  Nieren  selbst  zu  beruhen,  und 
wichen  einer  antiphlogistischen  Behandlung.  Diese  Kranken 
klagten  gewöhnlich  über  schmerzhaftes  Drängen  zum  Urin- 
lassen, und  ein  brennendes  Gefühl  während  der  Urinentlee- 
vi mg  selbst.  Der  Urin  war  dunkel  und  etwas  trübe.  Ob- 
wohl  die  Kranken  selbst  alle  ihre  Beschwerden  auf  die  Blase 
und  Harnröhre  bezogen,  ergab  die  Untersuchung  dieser  Or- 
gane doch  nichts  Krankhaftes,  während  ein  tiefer  Druck  in 
der  Nierengegend  auf  einer  oder  beiden  Seiten  lebhafte 
Schmerzen  erregte.  Blutegel,  Mercurialeinreibungen,  schlei- 
mige Getränke  und  Oelemulsionen  waren  die  Mittel,  welche 
diese  Affektion  gewöhnlich  bald  beseitigten.  Häufiger  liess 


149 


- sich  Entzündung  des  die  Blase  bekleidenden  Peritonäurns, 
am  seltensten  sich  ein  Leiden  der  Urinblase  selbst  als  Sitz 
der  schmerzhaften  Affektion  nackweisen. 

Ein  dreijähriges  Mädchen  litt  bereits  mehrere  Wochen 
an  Unvermögen,  den  Urin  gehörig  zu  entleeren,  Avobei 
sich  gleichzeitig  heftige  Schmerzen  in  der  hypogastrischen 
Gegend  einstellten.  Seit  vier  Tagen  hatten  diese  Schmerzen 
an  Intensität  bedeutend  zugenommen : das  Kind  zeigte,  na- 
mentlich vor  dem  Urinlassen,  eine  lebhafte  Unruhe,  worauf 
der  Harn  in  starkem  Strahle  reichlich  ausfloss.  Nach  ein- 
stündigem  Intervall  trat  dann  dieselbe  Symptomenreihc  von 
neuem  auf.  Zu  bemerken  ist,  dass  seit  dem  Eintritte  dieser 
Zufälle  das  Kind  an  Stuhlverstopfung  litt,  Avelche  die  Mutter 
durch  Klystiere  vergebens  zu  heben  trachtete.  Die  Unter- 
suchung des  Unterleibs  ergab  keine  Anomalie,  so  Avie  auch 
der  allgemeine  Gesundheitszustand  des  Kindes  nichts  zu 

Avünschen  übrig  liess. 

© 

Die  erste  Frage,  die  sich  bei  Betrachtung  dieses  Falls 
aufdrängte,  betraf  den  Sitz  des  Leidens.  Waren  hier  die 
hamsecernirenden  oder  die  excernirenden  Apparate  ergriffen? 
Wären  erstere  der  Sitz  der  Krankheit  gewesen,  so  hätte  die 
Secretion  des  Urins,  der  hier  ganz  normal  Avar,  soAVohl  quan- 
titativ Avie  qualitativ  wesentlich  beeinträchtigt  sein  müssen; 
es  würden  sich  consensuelle  Symptome,  namentlich  in  der 
Sphäre  des  Digestionsapparats,  Aufstossen,  Erbrechen  u.  a.  m. 
kund  gegeben  haben.  War  man  somit  darin  übereingekom- 
men,  dass  die  Affektion  liier  in  den  harnexcernirenden  Or- 
ganen, und  zwar,  der  Topik  des  Schmerzes  nach  zu  urtheilen, 
in  der  Blase  ihren  Sitz  habe,  so  musste  nun  die  Natur  des 
Uebels  selbst  genauer  erforscht  Averden.  Wahre  Entzündung 
der  Urinblase  ist  bei  Kindern  ausserordentlirh  selten;  diese 
sind  vielmehr  vorzugsweise  folgenden  drei  Affektionen  unter- 
worfen: 1)  Einem  catarrhalischen  Zustande  der  Blasenschleim- 
haut, wobei  der  Urin  mit  sehr  vielem  Schleim  gemengt  ist, 
in  der  Regel  aber  keine  heftige  Schmerzen  vorhanden  sind. 

• 2)  Der  Steinbildung,  besonders  bei  männlichöti  Kindern. 


150 


3)  Dev  Neuralgie  der  Blase,  die  meistens  durch  Reize  im 
Darmkanale,  und  zwar  vorzugsweise  im  Mastdarme,  als  Mit- 
empfindung bedingt  wird,  und  secundär  wieder  die  Muskel- 
haut der  Blase  zu  anomaler  Thätigkeitsäusserung  anreo-t. 
Diese  Krankheitsform,  die  besonders  häufig  während  der 
Dentitionsperiode  beobachtet  wird,  war  auch  in  diesem  Falle 
vorhanden.  Die  Behandlung  bestand  in  der  Anwendung 
lauwarmer  Bäder  (von  27 0 R.),  Fomentationen  der  Blasen- 
gegend mit  einem  warmen  Kamillenaufguss,  und  Einreibun- 
gen des  Oleum  Papaveris.  Der  Causalindication  genügte  man 
durch  den  Gebrauch  des  Ricinusöls,  worauf  das  Kind  bald 
als  geheilt  vorgestellt  werden  konnte.  Sehr  häufig  wurde 
bei  weiblichen  Kranken  eine  schmerzhafte  Austreibung  des 
Urins  beobachtet,  die  nach  vorausgegangenem  heftigen  Drange 
sturzweise  erfolgt,  und  in  Berlin  unter  dem  Namen  „schnei- 
dendes Wasser”  bekannt  ist.  Diese  Affektion  ist  in  den 
meisten  Fällen  rheumatischer  Natur,  und  findet  im  Camphor 
ihr  wirksamstes  Gegenmittel.  Man  verordnet  dieses  Mittel  in 
einer  Emulsion  und  lässt  gleichzeitig  das  Oleum  camphora- 
tum  in  die  Blasengegend  einreiben. 

Bei  dieser  Gelegenheit  sei  auch  einer  bei  Kindern  sehr 
häufig  vorkommenden  Affektion,  der  sogenannten  Enuresis 
nocturna,  mit  einigen  Worten  erwähnt.  Mädchen  leiden 
daran  häufiger  als  Knaben.  Man  hielt  diese  lästige  Krank- 
heit (wenn  man  diesen  Ausdruck  gebrauchen  will)  früher  für 
die  Folge  einer  Lähmung  des  Blasenhalses,  imd  quälte  daher 
die  armen  Kinder  mit  kalter  Douche,  kalten  Waschungen, 
Chinadecocten,  Eisen  u.  a.  m.  Diese  Mittel  haben  aber  nicht 
den  geringsten  Erfolg,  und  können  es  auch  nicht,  weil  die 
Quelle  des  Uebels  eine  ganz  andere  ist.  Schon  im  gesunden 
Zustande  der  Blasenschleimhaut  zeichnen  sich  zwei  Stellen 
derselben  durch  einen  höheren  Grad  von  Sensibilität  vor  den 
übrigen  aus  : es  sind  die  Mündungen  der  Harnleiter.  Hiervon 
kann  man  sich  sowohl  bei  solchen  Individuen  überzeugen, 
avo  in  Folge  eines  Bildungsfehlcrs  die  Schambeine  vom  nicht 
o-eschlossen  und  durch  die  so  gebildete  Lücke  die  Blasen- 


) 


151 


Schleimhaut  vorliegt,  wovon  ein  Fall  bei  einem  sechsjähri- 
gen Mädchen  im  Klinikum  vorkam,  als  auch  bei  jeder  Un- 
tersuchung der  Blase,  indem  bei  Berührung  der  genannten 
Punkte  mit  dem  Katheter  sogleich  ein  lebhafter  Drang  zum 
Urinlassen  empfunden  wird.  Wird  nun  die  ohnehin  schon 
sehr  rege  Sensibilität  dieser  Region  der  Blasenschleimhaut  noch 
krankhaft  gesteigert,  so  muss  auch  der  Reiz  des  Urins  um 
so  lebhafter  gefühlt,  uud  dieser  durch  einen  schnellen  Reflex 
auf  den  Muse,  detrusor  urinae  mit  Heftigkeit  ausgetrieben 
werden,  was  um  so  leichter  während  des  Schlafs,  wo  der 
Wille  seine  Herrschaft  über  die  Reflexthätigkeit  verliert,  ge- 
schehen wird.  Von  diesem  Gesichtspunkte  ausgehend,  ver- 
dient folgende  einfache  Behandlung  als  die  beste  empfohlen 
zu  werden:  Man  lasse  die  Kinder  während  der  Nacht  auf 
dem  Bauche  liegen,  um  jene  beiden  Stellen  der  Blasenschleim- 
haut vor  der  Einwirkung  des  sich  ansammelnden  Urins  so 
lange  wie  möglich  zu  schützen;  innerlich  verordne  man 
schleimige,  demulcirende  Mittel  zur  Milderung  der  reizenden 
Beschaffenheit  des  Urins. 


Krankheiten  der  Respirationsorgane. 


Entzündliche  Affektionen  der  Larvnx-  und  Tracheal- 
schleimhaut  traten  zuweilen  als  Begleiter  der  Masern  auf; 
nur  in  einem  Falle  wurde  die  acute  Tracheitis  als  selbststän- 
dige Krankheit  beobachtet.  Die  Kranke  war  ein  sechsjähriges 
Mädchen,  welche  in  ihrem  zweiten  Lebensjahre  zum  ersten 
Male  von  der  in  ßede  stehenden  Krankheit  befallen  wurde, 
die  sich  im  Laufe  der  vier  folgenden  Jahre  fünfmal  wieder- 
holte. Die  Hauptsymptome  waren:  starke,  besonders  zur 
Nachtzeit  zunehmende  Dyspnoe,  pfeifende  Inspiration,  gewalt- 
same Aktion  aller  Athemmuskeln  bei  normaler  Frequenz  der 
Athembewegungen , sehr  rauhes  Athmungsgeräusch  in  der 
Trachea,  nebst  einem  starken  pfeifenden  Bhonchus  an  der 
Wurzel  der  Lunge.  Ein  imbedeutender  Husten  begleitete 
den  fast  fieberlosen  Zustand.  Der  merkwürdigste  Umstand  in 
diesem  Falle  war  das  wiederholte,  fast  paroxysmenartige  Auf- 
treten der  Krankheit,  welches,  hätten  die  Ergebnisse  der 
physikalischen  Untersuchung  nicht  dagegen  gesprochen,  leicht 
zur  Annahme  einer  Affektion  des  N.  vagus  hätte  verleiten 
können.  An  den  ächten  Croup  konnte  liier  nicht  gedacht 
werden,  da  die  Krankheit  ohne  wesentliche  Steigerung  der 
Symptome  bereits  zwei  Wochen  gedauert  hatte.  Alle  Erschei- 
nungen sprachen  vielmehr  für  eine  einfache,  sich  bis  auf  die 
Bifurcation  der  Luftröhre  ausdehnende  Tracheitis,  und  die 
dagegen  eingeleitete  Behandlung  mittelst  örtlicher  Blutent- 
leerungen und  starker  Dosen  des  Brechweinsteins  beseitigte 
die  Krankheit  in  kurzer  Zeit. 

Bei  weitem  dringender  gestalteten  sich  die  Symptome, 
wo  wirklicher  Croup  oder  die  ihm  ähnliche  Diphtheritis 


I 


153 


stattfanden.  Obwohl  die  letztere  in  der  Regel  der  Ausdruck 
eines  allgemeinen  Leidens  zu  sein  pflegt  , trat  sie  doch  in 
einem  Falle  bei  einem  in  jeder  Beziehung  gesunden  Knaben 
auf,  und  unterschied  sich  von  der  Laryngitis  exsudativa  vor- 
zugsweise durch  die  freien  Intervalle,  welche  die  heftigen 
Anfälle  von  Dyspnoe  trennten,  und  der  Krankheit  eine  Aehn- 
lichkeit  mit  dem  reinen  Spasmus  glottidis  gaben.  Da  in  die- 
sem Falle  Genesung  erfolgte,  so  lässt  sich  die  Gränze  des 
im  hintern  Theile  der  Mundhöhle  entwickelten  exsudativen 
Processes  uicht  bestimmen : es  ist  jedoch  wahrscheinlich,  dass 
nur  der  oberste  Theil  der  Kehlkopfsschleimhaut,  vielleicht 
nur  die  Epiglottis,  an  der  Krankheit  Theil  nahm.  Allein  auch 
ohne  diphtheritische  Erscheinungen  traten  bei  mehreren  Kin- 
dern Symptome  auf,  welche  denen  des  Croups  sehr  ähnlich 
waren.  Ausserordentlich  beschleunigte  Respiration,  gewalt- 
same Anstrengung  der  Athemmuskeln,  holder  bellender  Hu- 
sten, starkes  Fieber,  heisere  Stimme  charakterisirten  diese 
Affektion,  die  sich  aber  durch  den  Mangel  der  spastischen 
Paroxysmen,  durch  den  langsameren  Verlauf,  und  endlich 
durch  ihren  glücklichen  Ausgang  vom  ächten  Croup  unter- 
schied. Man  muss  sie  als  einfache  Laryngitis  betrachten, 
und  demgemäss  antiphlogistisch  behandeln. 

Die  wahre  Laryngitis  exsudativa  (der  Croup), 
eine  in  Berlin  nicht  gar  häufige  Krankheit,  wurde  fünfmal 
beobachtet.  Das  jüngste  der  befallenen  Kinder  war  1 1,  das 
älteste  1\  Jahr  alt;  in  keinem  einzigen  Falle  konnte  der  un- 
glückliche Ausgang  verhütet  werden.  Das  vorausgehende  ka- 
tarrhalische Stadium  dehnte  sich  von  fünf  bis  auf  vierzehn  Tao-e 
aus,  und  unterschied  sich  nur  in  einem  Falle  durch  zeitweise 
eintretende  pfeifende  Inspirationen  von  einem  gewöhnlichen 
Katarrh.  Das  erste  Auftreten  der  Croupsymptome  mit  einem 
heftigen  Spasmus  glottidis  erfolgte  fast  immer  zur  Nachtzeit, 
worauf  die  Krankheit  entweder  schnell  zunahm,  oder  auch 
nach  24  Stunden  und  länger  auf  derselben  Höhe  verharrte, 
fm  letztem  Falle  wiederholte  sich  zwar  der  Glottiskrampf 
von  Zeit  zu  Zeit,  aber  die  Respirationsstörungen  in  den  In- 


154 


tervallcn  waren  nicht  bedeutend  genug,  um  die  Eltern  zur 
schleunigen  Hinzuziehung  ärztlicher  Hülfe  aufzufordern.  Die- 
ser Umstand  hat  ehiige  Aerzte  zur  falschen  Annahme  eines 
spastischen  Croups  verleitet,  und  eben  so  hat  man  auch  viele 
Fälle  der  unter  dem  Namen  Asthma  Millari  bekannten  Krank- 
heit zu  deuten.  In  allen  von  der  Klinik  aus  behandelten 
Fällen  beschränkte  sich  die  Entzündung  nicht  bloss  auf  den 
Kehlkopf  und  die  Luftröhre , sondern  die  Schleimhaut  der 
Bronchien  nahm  wesentlichen  Antheil,  so  dass  Rasselgeräu- 
sche verschiedener  Art  im  Intrascapularraume  nie  vermisst 
wurden,  während  auf  der  Vorderfläche  der  Brust  das  puerile 
Athnumgsgeräusch  theils  wegen  des  verdeckenden  Rasseins, 
theils  wegen  des  verhinderten  Eindringens  der  Luft  nicht 
selten  ganz  fehlte.  Die  Heiserkeit  stieg  in  einigen  Fällen 
bis  zur  Aphonie,  und  der  begleitende  Husten,  der  gleich  den 
asthmatischen  Anfällen  durch  Versuche  zu  sprechen,  zu  trin- 
ken, immer  aber  durch  äussem  Druck  auf  den  Larynx  ge- 
weckt winde,  hatte  jenen  eigenth tunlichen  feinen,  krähenden 
Ton,  der  bei  weitem  mehr  zu  fürchten  ist,  als  der  in  so 
schlimmem  Rufe  stehende  bellende  Klang,  den  der  Husten 
bei  Kindern  in  gewöhnlichen  katarrhalischen  Zuständen  oft 
genug  annimmt.  Als  Hauptsymptom  erschien  aber  in  allen 
Fällen  die  ausserordentlich  erschwerte  Respiration,  wie  sie 
fast  in  keiner  andern  acuten  Krankheit  beobachtet  wird.  Dies 
beweiset  die  stürmische  Aktion  aller  Atkemmuskeln,  das  ge- 
waltsame Spiel  der  Nasenflügel,  die  tiefe  Grube,  welche  sich 
bei  jeder,  von  einem  schnarrenden  Tone  begleiteten  Inspira- 
tion zwischen  den  beiden  Mm.  stemocleidomastoidei  bildet, 
das  Rückwärtsziehen  des  Kopfs  durch  den  Cucullaris,  als 
sollte  die  Luftröhre  dadurch  verlängert  werden,  die  gewalt- 
same Contraction  des  Zwerchfells.  Als  Folgen  des  gestörten 
Athmens  und  der  dadurch  beeinträchtigten  Oxydation  des  Blu- 
tes zeigte  sich  nun  livide  Färbung  des  Antlitzes,  besonders 
um  Nase  und  Mund,  nicht  selten  aber  auch  Störung  der 
Gehirn thätigkeit.  Li  dieser  Beziehung  verdient  der  Fall  ei» 
nes  siebenjährigen  Knaben  erwähnt  zu  werden,  bei  welchem 


155 


durch  eine  energische  Behandlung  die  von  Seiten  der  Respi- 
rationsorgane  drohenden  Erscheinungen  glücklich  beseitigt 
waren,  dessen  fast  cyano  tische  Gesichtsfarbe  jedoch  auf  eine 
bedeutende  Entmischung  des  Blutes  hindeutete,  ln  der  That 
starb  der  kleine , mit  Mühe  erhaltene  Kranke  in  der  Nacht 
vom  dreizehnten  zum  vierzehnten  Tage  in  einem  heftigen 
Anfalle  von  Convulsionen , denen  schon  am  Abend  Trübung 
des  Bewusstseins  und  leichte  Delirien  vorausgegangen  waren. 

In  allen  übrigen  Eällen  erfolgte  der  Tod  schon  am  drit- 
ten oder  spätestens  am  fünften  Tage  nach  dem  ersten  Ein- 
tritte der  Croupsymptome  entweder  in  einem  heftigen  Anfalle 
von  Glottiskrampf,  oder  in  Folge  der  ausgebreiteten  Bron- 
chitis : ein  comatöser  Zustand,  auch  wohl  leichte  Zuckungen, 
fehlten  in  den  letzten  Tagen  selten.  Die  Annahme,  dass 
die  Suffocation  durch  das  plastische  Exsudat  in  den  Luft- 
wegen bedingt  werde,  ist  nicht  immer  gerechtfertigt,  da 
mitunter  Fälle  von  bedeutender  Ueberfüllung  der  Bronchien 
mit  Concrementen  Vorkommen,  ohne  dass  eine  beträchtliche 
Dyspnoe  die  Folge  davon  wäre.  Vielmehr  ist  es  entweder 
der  Spasmus  glottidis  oder  die  Heftigkeit  der  Bronchitis, 
wodurch  der  Athmungsprocess  und  die  Oxydation  des  Blutes 
so  wesentliche  Störungen  erleiden,  welche  den  Tod  in  den 
meisten  Fällen  bedingen,  woraus  auch  die  Nutzlosigkeit  der 
Tracheotomie  in  dieser  Krankheit  erhellt. 

Nur  bei  zwei  Kindern  konnte  man  den  Tod  von  dem 
mechanischen  Hinderniss  in  den  Luftwegen  herleiten.  Bei 
dem  einen  Kinde,  einem  sechsjährigen  Mädchen,  welches  am 
fünften  Tage  der  Krankheit  unterlag,  fand  man  in  der  Höhle 
des  Larynx  eine  Exsudation  von  gallertartiger  Lymphe,  wel- 
che die  Glottis  fast  zur  Hälfte  verklebte;  in  der  Luftröhre 
selbst  sass  ein  röhrenförmiges  Exsudat  von  anderthalb  Zoll 
Länge  und  vier  Linien  Dicke,  unter  welchem  die  Schleimhaut  bei 
weitern  blasser  als  an  ihren  freien  Stellen  erschien.  Dao-eo-en 

r»  Ö Ö 

fand  man  eine  sehr  starke  Iiöthung  an  der  Bifurcation,  von 
■\\o  aus  sie  sich  bis  in  die  feinsten  \ erzweigungen  der  Bron- 
chien verfolgen  liess.  In  dem  zweiten  Falle,  wo  der  Tod 


156 


schon  am  dritten  Tage  erfolgte,  waren  die  Trachea  und  die 
Bronchialschleimhaut  ganz  frei  von  krankhaften  Erscheinun- 
gen, dagegen  zeigte  sich  der  untere  Lappen  der  linken  Lunge 
im  Zustande  der  Hepatisation.  Die  Schleimhaut  des  Larynx 
war  besonders  an  der  Glottis  mit  einer  Schicht  einer  gelblich 
weissen  purulenten  Masse  bedeckt,  welche  auch  die  Mor- 
GAGNi’schen  Ventrikel  vollständig  ausfüllte.  Das  Exsudat 
Hess  sich,  besonders  in  der  Gegend  der  Stimmbänder,  leicht 
von  der  gerötheten  Schleimhaut  trennen,  und  bestand  nach 
den  Resultaten  der  mikroskopischen  Untersuchung  zum 
grossen  Tlieil  aus  Zellen,  welche  denen  des  Cylinderepithe- 
liums  glichen,  aber  mit  andern  mehr  in  die  Länge  gezogenen 
vermischt  waren,  welche  letzteren  das  Ansehn  sich  in  Fasern 
verlängernder  Zellen  hatten.  Auch  Eiterkörperchen  fanden 
sich  in  grosser  Menge  vor.  Auffallend  war  in  diesem  Falle 
noch  eine  bläschenartige  Auftreibung  der  Papillen  an  der 
Zungenwurzel,  aus  welchen  sich  eine  eiterartige  Flüssigkeit 
ausdrücken  Hess. 

In  einem  dritten  Falle,  wo  das  Exsudat  erst  unterhalb 
der  Glottis  begann,  und  vorzugsweise  fest  an  der  nicht  ge- 
rötheten Schleimhaut  der  hintern  Luftröhrenwand  haftete, 
ergab  die  von  Herrn  Dr.  IIelbert,  welcher  damals  als  Prak- 
tikant die  Klinik  besuchte,  angesteUte  Untersuchung  folgen- 
des Resultat:  Die  der  Schleimhaut  zunächst  Hegende,  also 
zuletzt  exsudirte  Schicht  zeigte  in  einem  amorphen  Cytobla- 
stem  ZeUen  mit  ziemHch  runden , grossen  dunkeln  Kernen, 
in  welchen  sich  wiederum  zwei  und  drei  Nuclei  unterscheiden 
Hessen.  Die  den  Kern  eng  umschHessende  ZeUenmembran 
war  sehr  dünn  und  löste  sich  in  Essigsäure  auf.  Die  äusserste, 
zuerst  exsudirte  Schicht  zeigte  viele  vollkommen  ausgebildete 
Fasern,  in  welchen  noch  hie  und  da  die  ZeUenkerne  sichtbar 
waren.  Zwischen  den  Fasern  lagen  geschwänzte,  mit  ihren 
Enden  sich  berührende  ZeUen,  deren  Kerne  nicht  mehr  so 
otoss  wie  die  der  vorerwälmten  ZeUen  waren,  und  daher  eine 

Ö 

weit  deutlichere  ZeUenmembran  darboten.  In  der  ganzen 
Masse  des  Exsudats  waren  viele  EpitheUumzellen  eingestreut. 


Eine  beim  Husten  ausgewogene  Croupmembran  hatte  Herr 
Dr.  Rem ak  die  Güte,  mikroskopisch  zu  untersuchen.  Die 
Membran  bestand  grüsstentheils  aus  einem  sehr  feinen  Gewebe 
von  Faserstoff,  worin  zahlreiche  Schleimkörperchen  einge- 
filzt waren.  Dagegen  Hessen  sich  weder  Epithehumzellen 
noch  Eiterkörperchen  deutlich  nachweisen,  indem  sich  die  letz- 
tem wegen  ihrer  grossen  Aehnlichkeit  mit  geplatzten  Schleim- 
zellen nicht  hinlänglich  von  diesen  unterscheiden.  Beim  Zu- 
satz von  Essigsäure  löste  sich  das  feine  Faserstoffgewebe 
auf,  und  die  eingefilzten  Körperchen  schwammen  frei  in  der 
Flüssigkeit  umher. 

Die  in  der  PoHkHnik  übliche  Behandlung  des  Croup 
bestand  hauptsächlich  in  wiederholten  Blutentleerimgen  und 
dem  innern  Gebrauche  starker  Dosen  des  Brechweinsteins. 
Aderlässe  leisten  nicht  viel,  pflegen  sogar  die  spastischen 
Zufälle  noch  zu  steigern;  man  beschränkte  sich  deshalb  auf 
die  topischen  Blutentleerungen  durch  Blutegel,  welche,  um 
die  Yorderfläche  des  Halses  für  andre  Zwecke  frei  zu  erhal- 
ten, gewöhnlich  in  der  Grube  oberhalb  des  Manubrium  sterni 
applicirt  winden.  Die  Wiederholung  der  Blutentleerung  lich- 
tete sich  vorzugsweise  nach  der  Intensität  der  begleitenden 
Bronchitis,  aus  welchem  Grunde  die  wiederholte  Auscultation 
der  Brust  in  ihrem  ganzen  Umfange  niemals  verabsäumt 
•wurde.  In  diesem  Falle  apphcirte  man  die  Blutegel  in  ge- 
höriger Menge  auf  die  Brust  selbst,  und  Hess  die  Stiche, 
reichlich  nachbluten.  Zum  innern  Gebrauche  Avurde  von  An- 
fang an  der  Tart.  stibiatus  im  brechenerregender  Dosis  ge- 
reicht, Avelchem  das  in  dieser  Krankheit  so  sehr  gepriesene 
Calomel  an  Wirksamkeit  bei  weitem  nachsteht.  Die  Reaktion 
gegen  den  Tartar,  einet,  war  aber  in  der  Regel  so  unbedeu- 
tend, dass  nach  ein-  oder  zweimaHgcm  Erbrechen  trotz  der 
verstärkten  Dosen  die  nauseöse  Wirkung  ausbHeb,  und  nur 
die  purgirende  förtdauerte ; ja  selbst  das  Cuprum  sulphuricum, 
zu  welchem  in  einigen  Fällen  übergegangen  wurde,  blieb 
ohne  Erfolg,  und  nur  die  in  voUer  Dosis  verordnete  Ipeca- 
cuanha  vermochte  starkes  Erbrechen  und  den  Auswurf  hau- 


158 


% 

tiger  Gebilde  zu  bewirken.  Obwohl  die  Ausstossung  des 
Exsudats  keineswegs  die  Hoffnung  auf  Genesung  erwecken 
darf,  so  hatte  sie  doch  bei  jenem  schon  oben  erwähnten  Kna-  • 
ben,  der  am  vierzehnten  Tage  der  Krankheit  unter  Convul- 
sionen  starb,  einen  auffallenden  Nachlass  der  gefahrdrohend- 
sten Erscheinungen  zur  Folge.  Als  Gegenreiz  ander  vordem 
Fläche  des  Halses  wurde  entweder  das  Ol.  Croton.  oder  eine 
Mischung  von  Unguent.  einer,  mit  Tart.  stibiat.,  oder  ein 
Vesicator,  zu  dessen  Offenhaltung  man  sich  der  grauen 
Quecksilbersalbe  bediente,  angewendet.  Bei  steigender  Gefahr 
sind  noch  starke  Ableitungen  an  verschiedenen  Kürpertheilen, 
im  Nacken,  an  den  Extremitäten,  zu  empfehlen.  Die  von 
Petersburg  aus  gerühmten  kalten  Begiessungen  wurden,  da 
sie  sich  in  einigen  ausserhalb  der  Klinik  beobachteten  Fällen 
durchaus  nicht  bewährt  hatten,  in  der  Klinik  nicht  in  Ge- 
brauch gezogen. 

Bei  weitem  häufiger  als  die  acuten,  kamen  die  chro- 
n i s c h e n entzündlichen  Affektionen  des  Kehlkopfs  und  der 
Luftröhre  zur  Behandlung.  Meistentheils  waren  sie  catar- 
rhalischer  Natur;  wenigstens  liess  sich  in  keinem  Falle  eine 
bestimmte  dyskrasischc  Grundlage  nachweisen,  es  müsste 
denn,  wie  es  allerdings  nicht  selten  der  Fall  war,  gleichzeitig 
Tuberkulose  der  Lungen  bestanden  haben.  Mit  Uebergehung 
der  hinlänglich  bekannten  Symptome,  mögen  hier  nur  einige 
Worte  über  die  übliche  Behandlung  dieser  Zustände  ihre 
Stelle  finden.  Nachdem  man  sich  durch  eine  sorgfältige  phy- 
sikalische Untersuchung  der  Brustorgane  von  der  Integrität 
derselben  und  der  Beschränkung  der  Affektion  auf  den  ober- 
sten Theil  der  Luftwege  überzeugt  hatte,  wurde  die  Be- 
handlung mit  topischen  Blutentleerungen,  die  von  Zeit  zu 
Zeit  wiederholt  wurden,  begonnen.  Einreibungen  mit  der 
grauen  Quecksilbersalbe,  und  der  innere  Gebrauch  einer 
Verbindung  des  Calomels  mit  Sulphur  aurat.,  die  in  solchen 
Fällen  sehr  zu  empfehlen  ist,  bewirkten  dann  gewöhnlich 
einen  baldigen  Nachlass  der  Schmerzhaftigkeit  und  des  rau- 
hen,  quälenden  Hustens.  Gegen  die  von  allen  Symptomen 


159 


am  längsten  bestehende  Heiserkeit  zeigten  sich  Einreibungen 
in  die  V orderfläche  des  Halses  mit  Ol.  Croton.  von  entschie- 
dener Wirksamkeit.  Der  Erfolg  derselben  war  nicht  selten 
so  schnell,  dass  schon  nach  dem  ersten  Erscheinen  des  ekze- 
matösen Ausschlags  eine  auffallend  günstige  Veränderung  der 
Stimme  beobachtet  wurde.  Ein  Haupterforderniss  zum  Ge- 
lingen der  Kur  ist  aber  Schonung  des  erkrankten  Organs: 
der  Kranke  muss  es  sich  zur  Pflicht  machen,  so  wenig  als 
möglich  zu  sprechen.  Durch  eine  so  geleitete,  beharrlich 
fortgesetzte  Behandlung  gelang  es  in  den  meisten  Fällen,  wo 
nicht  Complicationen  mit  einem  wichtigen  Leiden  der  Brust- 
organe stattfanden,  die  Heilung  zu  Stande  zu  bringen.  Bei 
dieser  Gelegenheit  sei  noch  eines  Mineralwassers  gedacht, 
welches  in  chronischen  Entzündungen  des  Kehlkopfs,  nament- 
lich solchen,  die  in  einer  impetiginösen  Basis  zu  wurzeln 
scheinen,  mit  vollem  Recht  empfohlen  werden  kann.  Dies 
ist  die  Weilbachcr  Schwefelquelle,  die  man  Morgens  (auch 
wohl  im  Bette)  bei  nüchternem  Magen  zu  drei  Weingläsern 
trinken  lässt.  Dieses  Schwefelwasser  zeigt  sich  nicht  selten 
auch  da  noch  erfolgreich,  wo  man  schon  beginnende  Tuber- 
kelbildung in  den  Lungen  vermuthen  darf,  und  kann  auch 
bei  nicht  nachweisbarer  impetiginöser  Grundlage  ohne  Scheu 
versucht  werden.  Doch  darf  nicht  verschwiegen  werden,  dass 
es  in  einem  in  der  Klinik  behandelten  Falle  völlig  unwirksam 
blieb,  was  freilich  durch  die  Sektion  erklärt  wurde,  da  beide 
Stimmbänder  bereits  durch  Ulceration  zerstört,  die  Lungen 
selbst  durch  und  durch  mit  Tuberkeln  angefüllt,  an  einigen 
Stellen  auch  schon  Excavationen  gebildet  waren. 

In  der  acuten  Bronchitis  und  Pneumonie  wurde 
nach  vorausgeschickten  allgemeinen  und  örtlichen  Blutentlee- 
rungen, wenn  nicht  Contraindicationen  stattfanden,  die  Be- 
handlung mittelst  des  Tartar,  emeticus  (4 — 6 Gran  in  vier 
Tnzen  Wassers,  zweistündlich  einen  Esslöffel  voll,  für  Er- 
wachsene) allen  andern  Methoden  vorgezogen.  Nur  bei  der- 
jenigen 1 orm  der  Bronchitis  kleiner  Kinder,  welche  mit  der 
Dentition  iin  Zusammenhänge  steht,  fand  das  Calomel  in 


160 


V erbindung  mit  kleinen  Dosen  der  Radix  Ipecacuanhae  seine 
Anwendung.  Die  Bronchitis  der  Kinder  erfordert  überhaupt 
die  grösste  Vorsicht  in  der  Behandlung:  sie  erträgt  starke 
Blutentleerungen  bei  weitem  nicht  so  gut,  wie  die  Pneumonie, 
und  eine  zu  energische  Antiphlogose  straft  sich  leicht  durch 
übermässige  Secretion  der  Schleimhaut  und  drohende  Suffo- 
cation.  Der  Zeitpunkt,  wo  der  Uebergang  von  der  antiphlo- 
gistischen Methode  zur  stimulirenden  gemacht  werden  muss, 
lässt  sich  freilich  nicht  mit  Bestimmtheit  angeben:  am  we- 
nigsten dürfen  aber  die  Resultate  der  physikalischen  Unter- 
suchung hier  in  Betracht  gezogen  werden.  Vielleicht  ist  dies 
der  einzige  Fall,  wo  Laennec’s  glänzende  Entdeckung  eher 
Schaden  als  Nutzen  stiften  kann,  indem  die  Ergebnisse  der 
Auscultation  leicht  zur  Fortsetzung  der  Antiphlogose  auffor- 
de'rn  können,  während  der  Allgemeinzustand  des  Kranken 
das  Vertauschen  derselben  mit  der  reizenden  Heilmethode 
dringend  erfordert.  Sobald  daher  Prostration  der  Kräfte, 
bleiche  Farbe  des  Antlitzes,  auch  wohl  kühle  Temperatur 
der  Wangen,  bei  Kindern  ein  Aufwärtsrollen  der  Augäpfel 
eintrat,  Hess  man  sich  durch  das  Fortbestehen  der  physikah- 
schen  Symptome  nicht  davon  abhalten,  bei  Erwachsenen  das 
Opium,  bei  Kindern  ein  Infusum  Radic.  Senegae  mit  kleinen 
Dosen  des  Licp  C.  C.  succin.  zu  verordnen,  worauf  in  der 
Regel  schnelle  Besserung;  eintrat.  Auch  bei  Erwachsenen 
leistete  die  Senega,  nach  vorgängiger  Anwendung  des  Opiums, 
durch  Verbesserung  und  Erleichterung  des  Auswurfs  die 
trefflichsten  Dienste. 

Unter  den  Folgekrankheiten  der  Pneumonie  verdient  be- 
sonders  ein  Fall  in  therapeutischer  Beziehung  mitgetheilt  zu 
werden.  Derselbe  betrifft  einen  55jährigen,  früher  gesunden 
Mann,  welcher  in  Folge  einer  heftigen  Lungenentzündung 
in  Phthisis  pulmonum  verfallen  war.  Dafür  sprachen  nicht 
allein  che  funktionellen  Symptome,  hektisches  Fieber  mit  pro- 
fusen Nachtschweissen,  bedeutende  Abmagerung,  Ocdem  der 
untern  Extremitäten,  Luftmangel,  und  Husten  mit  eiteri- 
gem Auswurf,  sondern  auch  die  physikaüsche  Untersuchung 


I 


161 


ergab  alle  Symptome,  welche  zur  Annahme  einer  Excavation 
im  mittleren  Lappen  der  rechten  Lunge  berechtigten.  Die 
bisher  ungetrübte  Gesundheit,  der  Mangel  jeder  erblichen 
Anlage,  und  das  Auftreten  der  Krankheit  in  Folge  einer 
vorauso-ecfanffenen  Pneumonie  machten  das  Bestehen  eines 
Lungenabscesses  in  diesem  Falle  wahrscheinlicher , als  die 
Annahme  einer  wirklichen  Phthisis  tuberculosa.  Unter  dieser 
Voraussetzung  wurde  dem  Kranken,  nach  vorausgeschicktem 
vierwöchentlichem  Gebrauch  des  schlesischen  Obersalzbrun- 
nens, die  China  im  Decoct  verordnet,  deren  mehrere  Monate 
lang  fortgesetzter  Gebrauch,  unterstützt  durch  den  Aufent- 
halt  auf  dem  Lande,  den  Kranken  vollständig  herstellte. 
Nachdem  derselbe  zur  Nachkur  noch  längere  Zeit  den  Le- 
berthran  gebraucht  hatte,  stellte  er  sich  sieben  Monate  nach 
dem  Anfänge  der  Kur  als  vollkommen  genesen  in  der  Klinik 
vor.  Zum  Beweise  der  wiedererlangten  Gesundheit  dient 
noch  der  Umstand,  dass  er  seinem  Geschäfts  ale  Frisör, 
wobei  er  viel  umherlaufen  und  Treppen  steigen  muss,  jetzt 
ohne  alle  Beschwerden  vorstehen  kann. 

Das  Emphysema  pulmonu m als  F olgekrankheit  und 
Begleiter  chronischer  Katarrhe  wurde  in  fünf  Fällen  beobachtet. 
Sein-  auffallend  war  bei  einem  dieser  Kranken  die  bereits 
von  Stokes  erwähnte  Aufwulstung  und  livide  Färbung  der 
Lippen,  die  vorzugsweise  in  den  asthmatischen  Anfällen  ihr 
Maximum  erreichte.  Eine  von  Louis  angegebene  Erschei- 
nung, die  Ausfüllung  der  Supraclaviculargruben,  zeigte  sich 
nur  in  einem  Falle,  während  in  allen  übrigen  die  genannten 
Gruben  tiefer,  als  im  gesunden  Zustande  ausgehöhlt  waren.  . 
Der  Tod  des  einen  Kranken  gab  Gelegenheit,  die  während 
des  Lebens  gestellte  Diagnose  durch  die  Section  zu  bestäti- 
gen. Bei  einem  43jährigen  Manne  hatte  sich  in  Folge  an- 
strengender Arbeiten  im  Freien  ein  chronischer  Bronchialka- 
tarrh entwickelt,  zu  welchem  sich  bald  heftige  Anfälle  von 
Athemnoth , namentlich  bei  starken  Bewegungen  und  zur 
Nachtzeit  hinzugesellten.  Von  Zeit  zu  Zeit  schwollen  die 
Füsse  ödematös  an.  Bei  der  Untersuchung  zeigte  sich  eine 

11 


lf>2 


starke  Hervorwölbung  der  ganzen  Brust;  die  Leber  war 
durch  Abwärtsdrängen  des  Zwerchfells  unter  den  falschen 
Rippen  deutlich  fühlbar.  Die  Percussion  ergab  einen  sonoren, 
an  einzelnen  Stellen  fast  tympanitischen  Ton  im  ganzen  Um- 
fange der  Brust,  während  die  Auscultation  einen  gänzlichen 
Mangel  des  vesiculären  Athmungsgeräusches,  welches  durch 
trockne  Rasselgeräusche  verschiedener  Art  ersetzt  wurde, 
nachwies.  Die  genannten  Symptome,  welche  die  Diagnose 
des  Lungenemphysems  unzweifelhaft  machten,  steigerten  sich 
im  Laufe  weniger  Jahre  zur  furchtbarsten  Qual,  welcher 
eine  sich  hinzugesellende  allgemeine  Wassersucht  ein  ersehntes 
Ende  machte.  Bei  der  Section  fand  man  ausser  den  Erschei- 
nungen des  Ascites  und  Ilydrothorax  die  vermuthete  Krank- 
heit in  beiden  Lungen.  An  verschiedenen  Stellen  derselben, 
besonders  aber  in  der  Nähe  der  vordem  Ränder,  zeigten  sich 
elastisch  anzufühlende  Hervortreibungen,  die  sich  durch  eine 
hellere  Färbung  von  ihrer  Umgebung  auszeichneten,  und  aus 
einer  lufthaltigen , atrophischen  Lungensubstanz  bestanden. 
Sie  sanken  beim  Einschnitte  schnell  zusammen,  und  aus  den 
erweiterten  Lungenzellen  entwich  die  Luft  ohne  deutliches 
Knistern.  Der  Umfang  des  Herzens  war  durch  eine  Dilata- 
tion und  Hypertrophie  des  mit  schwarzem  Blute  überfüllten 
rechten  Ventrikels  bedeutend  vergrössert. 

Die  Behandlung  des  Emphysems  war  vorzugsweise  auf 
Bethätigung  der  Nierensecretion  gerichtet,  zu  welchem  Zwecke 
man  sich  eines  diuretischen  Thees,  der  Präparate  der  Scilla 
(Tinctur.  Scill.  kalin.,  mit  Acetum  scilliticum  bereiteten  Sa- 
turation des  Natron  carbonicum)  bediente.  In  einigen  Fällen 
sah  man  vom  Gebrauche  des  Kali  sulphuratum,  für  sich  oder 
in  Verbindung  mit  Gm.  ammoniacum  in  Pillenform  gegeben, 
temporär  gute  Wirkung. 

Bei  dem  überaus  häufigen  Vorkommen  der  Phthisis 
tuberculosa  pulmonum  darf  es  nicht  Wunder  nehmen, 
dass  die  Mehrzahl  der  in  der  Klinik  behandelten  Lungen- 
kranken an  diesem  Uebel  litt,  woran  leider  alle  Heil  ver- 
suche scheiterten.  Zu  wiederholten  Malen  hatte  man  Gele- 


genheit,  die  Entwicklung  der  Tuberkeln  in  Folge  acuter 
Exantheme,  des  typhösen  Ivrankheitsprocesses,  des  Keuch- 
hustens zu  beobachten.  Bei  acut  auftretender,  schon  im  Be- 
ginne von  starker  allgemeiner  Reaktion  begleiteter  Tuberku- 
lose zeigten  sich  wiederholte  kleine  Blutentleerungen,  Molken- 
kuren, überhaupt  eine  gelind  antiphlogistische  Behandlung 
und  eine  entsprechende  Diät,  am  wirksamsten.  Von  Exuto- 
rien  an  der  dem  Sitze  der  Tuberkeln  entsprechenden  Stelle 
der  Brustwand  beobachtete  man  keine  Erfolge.  Anders  ge- 
staltete sich  die  Behandlung  in  den  Fällen,  wo  sich  eine 
anämische  Basis  der  Tuberkelbildung  nachweisen  Hess,  in 
welcher  Beziehung  vorzugsweise  zwei  Fälle  bemerkenswert!! 
sind.  Der  erste  betrifft  eine  36jährige  Frau,  welche  nebst 
einer  Reihe  hysterischer  Symptome  alle  Erscheinungen  der 
Anämie,  auch  das  anämische  Geräusch  in  der  rechten  Karotis 
darbot,  und  seit  einiger  Zeit  sichüich  abgemagert  war.  Muss 
nun  schon  bei  Hysterischen  Abmagerung  immer  Verdacht  erre- 
gen, so  war  dies  bei  dieser  Kranken  um  so  mehr  der  Fall, 
da  sich  gleichzeitig  ein  quälender  Husten  mit  geringem, 
schleimigem  Auswurfe  eingestellt  hatte,  und  die  Auscultation 
im  obem  Theile  der  rechten  Lunge  am  Rande  des  Brustbeins 
ein  auffallend  schwaches  Respirationsgeräusch  ergab.  Unter 
diesen  Umständen  wäre  eine  antiphlogistische  Behandlung 
der  beginnenden  Tuberkulose  ganz  am  imrechten  Orte  ge- 
wesen: vielmehr  wurde  eine  Auflösung  des  Extract.  Chinae 
ffig.  parat,  und  gleichzeitig  ein  Tliee  aus  Rad.  Valerianae 
mit  Herb.  Trifol.  fibrini  verordnet.  Der  günstige  Erfolg  dieser 
Mittel  veranlasste  bald  die  Verbindung  derselben  mit  dem 
Gebrauche  des  Spaawassers,  welches  mit  Milch  vermischt, 
Morgens  zu  einem  bis  zwei  Weingläsern,  getrunken  wurde,  imd 
sich  so  wirksam  zeigte,  dass  die  Kranke  nach  Verlauf  eines 
Vierteljahrs  als  vollkommen  genesen  betrachtet  werden  konnte, 
indem  nicht  allein  die  beunruhigenden  functionellen  Symptome 
ganz  verschwunden  Ayarcn , und  die  Reproduktion  sich  gebes- 
sert, sondern  auch  das  Respirationsgeräusch  an  der  verdäch- 
tigen Stelle  seinen  natürlichen  Charakter  wieder  angenommen 


11* 


164 


hatte.  Auch  im  zweiten,  dem  eben  erwähnten  ganz  ähnlichen 
Falle,  wo  die  Bildung  der  Tuberkeln  durch  übermässige 
Laktation  (die  Kranke  säugte  zwei  kräftige  Kinder  gleich- 
zeitig) bedingt  zu  sein  schien,  hatte  der  Gebrauch  der  China 
in  Verbindung  mit  einer  Milchkur  die  Besserung  des  Allge- 
meinbefindens und  gleichzeitig  ein  Zurücktreten  der  von  den 
Lungen  herrührenden  Symptome  zur  Folge. 

Eine  besondere  Betrachtung  erheischt  die  tuberkulöse 
Lungenphthise  des  kindlichen  Alters,  da  sie  in  mancher 
Beziehung  von  der  der  Erwachsenen  wesentlich  abweicht. 
Während  bei  diesen  das  Beschränktsein  der  Tuberkelbil- 
dung auf  die  Lungen  eine  häufige  Erscheinung  ist,  wurde 
bei  Kindern  fast  ohne  Ausnahme  eine  Complication  mit  tu- 
berkulöser Entartung  andrer  Organe,  namentlich  der  Mesen- 
terialdrüscn  und  der  Milz,  seltener  des  Gehirns,  beobachtet. 
Auffallend  ist  ferner  die  Vorliebe,  welche  die  Tuberkeln  im 
kindlichen  Alter  für  die  Bronchialdrüsen  zeigten,  die 
nicht  selten  zu  umfangreichen  käsigen  Massen  entartet  wa- 
ren, wenn  auch  die  Tuberkelbildung  in  der  Limge  selbst  erst 
ihren  Anfang  gemacht  hatte.  Durch  die  physikalische  Unter- 
suchung lässt  sich  die  Diagnose  dieser  Affektion  nur  selten, 
und  zwar  in  den  Fällen  feststellen,  wo  durch  den  Umfang 
der  tuberkulösen  Drüsen  die  grossen  Bronchialstämme  com- 
primirt  werden,  oder  nach  dem  Eintritt  des  Erweichungssta- 
diums eine  Communication  des  Abscesses  mit  einem  Bronchus 
entsteht,  wobei  indess  das  stattfindende  Rasseln  leicht  zur 
Annahme  einer  Excavation  in  den  Lungen  selbst  verleiten 
kann.  In  einem  Falle  fand  man  in  der  Bifurcation  der  Luft- 
röhre und  an  der  Wurzel  der  Lunge  ein  hühnereigrosses 
Paket  tuberkulöser  Drüsen,  welches  mit  dem  rechten  Bronchus 
verwachsen,  denselben  so  comprimirte,  dass  der  Eintritt  der 
atmosphärischen  Luft  in  die  rechte  Lunge  dadurch  gehindert 
wurde.  Dieser  Befund  erklärte  den  während  des  Lebens 
beobachteten  Mangel  des  vesiculären  Athmungsgeräusches  in 
der  rechten  Brusthälfte.  Auch  die  grossen  Venenstämme  der 
Brust  sind  in  solchen  Fällen  der  Compression  ausgesetzt, 


165 


wovon  li viele  Färbung  des  Gesichts,  ödematöse  Anschwellung' 
der  Hände,  der  untern  Augenlider  u.  s.  w.  die  Folge  ist. 
Am  merkwürdigsten  und  in  diagnostischer  Hinsicht  am  wich- 
tigsten sind  indess  diejenigen  Symptome,  welche  von  einer 
C'ompression  des  N.  vagus  oder  seiner  Aeste  abhängen,  und 
noch  nicht  nach  Gebühr'  gewürdigt  worden  sind.  Anfälle 
von  Beklemmung,  welche  auf  jede  Anstrengung  sich  einstel- 
len, und  bei  Versuchen,  tief  zu  inspiriren,  an  Intensität  bis 
zur  drohenden  Erstickung  zunehmen,  geräuschvolles,  zischen- 
des Athmen,  flüsternde,  rauhe,  heisere  Stimme,  Hustenstösse, 
die  wegen  des  gellenden  oder  schrillenden  Schalles  beim  Ein- 
athmen  mit  der  Tussis  convulsiva  Aehnlichkeit  haben,  Ras- 
selgeräusche in  den  Lungen,  welche  oft  schon  in  einiger 
Entfernung  hörbar  sind,  bei  mangelnder  Empfindung  der 
Ueberfüllung  der  Bronchien,  — sind  Symptome,  welche  der 
tuberkulösen  Phthisis  der  Lungen  nicht  zukommen , und 
jederzeit  den  Verdacht  einer  tuberkulösen  Entartung  der 
Bronckialdriisen  und  Beeinträchtigung  des  N.  vagus  erwecken 
müssen.  Diese  Diagnose  wurde  auch  durch  die  Section  in 
allen  Fällen  bestätigt.  Man  fand  den  Vagus,  den  Stamm 
oder  seine  abtretenden  Bündel,  von  der  entarteten  Drüsen- 
masse umgürtet,  comprimirt,  abgeplattet,  dünn,  atrophisch, 
oder  dergestalt  mit  ihr  verschmolzen,  dass  es  unmöglich  war, 
die  Nervenfasern  weiter  zu  verfolgen. 

Einige  ausgewählte  Fälle  mögen  als  Beispiele  des  Ge- 
sagten dienen. 

1.  Ein  vierjähriger  Knabe  wurde  mit  lividem,  ödematös 
angeschwollenem  Gesicht,  heftigem,  mit  B eklemmungs- 
anfällen  und  pfeifender  Inspiration  verbundenem 
Husten  in  die  Klinik  gebracht.  Dieser  Zustand  bestand  be- 
reits seit  mehreren  Monaten,  hatte  sich  aber,  nachdem  das 
Kind  von  den  Masern  befallen  worden,  bedeutend  verschlim- 
mert. Rasselgeräusche  verschiedener  Art,  besonders  aber 
feuchte,  Hessen  sich  im  ganzen  Umfange  des  Thorax  hören. 
Die  bedeutende  Abmagerung  und  Erschöpfung  der  Kräfte 
machte  die  Prognose  höchst  ungünstig,  und  nach  dem  bald 


1GG 


erfolgten  Tode  des  Kindes  fand  man,  nebst  den  Zeichen  einer 
chronischen  Bronchitis  in  beiden  Lungen,  die  Tracheal-  und 
Bronchialdrüsen  stark  angeschwollen,  viele  tuberkulös.  Die 
beiden  N.  recurrentes'  wurden  von  diesen  Drüsen  dergestalt 
umschlossen,  dass  es  nicht  möglich  war,  sie  aus  denselben 
heraus  zu  präpariren. 

2.  Bei  einem  fünfjährigen  Mädchen  stellte  sich  drei 
Monate  vor  dem  Tode  ein  kurzer  Husten,  abendliches  Fieber 
und  vollkommene  Aphonie  ein,  so  dass  man  anfangs  zur 
Annahme  einer  chronischen  Laryngitis  geneigt  war.  Bald  ge- 
sellten sich  jedoch  die  charakteristischen,  von  schrillenden 
Inspirationen  b e gleitet enE r stickun  gs anfäll  e hinzu, 
die  Abmagerung  machte  reissende  Fortschritte  und  copiöse 
Durchfälle  beschleunigten  den  Tod  des  Kindes.  Bei  der 
Section  fand  man  vor  der  Luftröhrentheilung,  besonders  nach 
der  rechten  Seite  hin,  ein  ovales,  anderthalb  Zoll  langes  und 
einen  Zoll  dickes  Convolut  angeschwollener  Bronchialdrüsen,  die 
beim  Einschnitt  theils  einfache  Hypertrophie,  theils  Ablagerung 
von  zum  Theil  schon  in  Erweichung  übergegangenen  Tuber- 
keln zeigten.  Der  N.  recurrens  der  rechten  Seite  war  mit 
dieser  Masse  fest  verwachsen  und  durch  dieselbe  dergestalt 
comprimirt,  dass  seine  normale  Structur  sich  durchaus  nicht 
mehr  erkennen  liess. 

3.  Ein  anderthalbjähriges , aufgefüttertes  Mädchen  litt 
seit  sechs  Monaten  an  einem  trockenen  Husten,  zu  welchem 
sich  ein  starkes  Röcheln  beim  Athemholen  gesellte.  Als  das 
Kind  in  der  Klinik  vorgestellt  wurde,  war  es  bereits  in 
hohem  Grade  abgemagert,  der  Bauch  stark  aufgetrieben 
und  bei  der  Percussion  tympanitisch  tönend,  der  Stuhlgang 
bald  hartnäckig  verstopft,  bald  sehr  copiös  und  wässrig. 
Auffallend  war  der  Contrast  des  starken  Röchelns  mit  den 
langsamen  Respirationsbewegungen  und  dem  ruhigen  Gesichts- 
ausdruck des  Kindes.  Von  Zeit  zu  Zeit  traten  Anfälle  von 
Orthopnoe  ein,  wobei  nach  der  Beschreibung  der  Mutter 
ein  pfeifender  Ton,  wie  in  der  Tussis  convulsiva,  gehört 
wurde.  Die  Vorderfläche  der  rechten  Brust  gab  bei  der  Per- 


167 


cussion  einen  matten  Ton,  und  das  Respirationsgeräusch 
fehlte  auf  dieser  Seite  gänzlich.  Auch  bemerkte  die  Mutter, 
dass  das  Kind  nur  auf  der  rechten  Seite  liegen  konnte.  Drei 
Monate  später  erfolgte  der  Tod.  Die  rechte  Limge  aclhä- 
rirte  mit  ihrem  obern  und  mittlern  Lappen  an  der  Costal- 
pleura.  Eine  tuberkulöse  Excavation  von  der  Grösse  eines 
Hühnereies,  mit  zerflossener  Tuberkelmasse  zum  Theil  ange- 
füllt, hier  und  da  von  Strängen  obliterirter  Gefässe  und  ver- 
ödeter Lungensubstanz  brückenartig  durchzogen,  hatte  den 
obem  Lappen  fast  vollständig  zerstört  und  erstreckte  sich 
noch  in  den  mittlern  hinein.  Der  untere  Lappen  und  die 
linke  Lunge  waren  der  Sitz  einer  zahllosen  Menge  cruder 
Tuberkeln.  Die  Cervicaldrüsen  längs  des  Verlaufs  des  N. 
vagus  waren  auf  beiden  Seiten  mässig  angeschwollen.  Vor 
der  Bifurcation  der  Trachea,  mit  dem  obern  Lappen  der  rech- 
ten Lunge  und  dem  Pericardium  fest  verwachsen,  lag  ein 
hühnereigrosses  Convolut  tuberkulöser  Bronchialdrüsen,  wel- 
ches den  rechten  Bronchus  comprimirte,  und  den  Vagus  und 
Recurrens  derselben  Seite  so  fest  umschloss,  dass  ihre  nor- 
male Textur  in  der  rings  umgebenden  käsigen  Entartung 
völlig  untergegangen  war. 

Entzündungen  der  Pleura  kamen  sowohl  im  acu- 
ten, als  chronischen  Zustande  sehr  häufig  zur  Behandlung. 
Die  Lnterscheidung  derselben  von  rheumatischen  Aifektionen 
der  Brustmuskeln  und  des  Periosteumist  indess  nicht  in  allen 
Fällen  so  leicht,  als  man  gewöhnlich  zu  glauben  geneigt  ist, 
und  selbst  die  physikalische  Untersuchung  giebt  nicht  immer 
genügenden  Aufschluss.  Zum  Beweise  des  Gesagten  diene 
der  Fall  eines  kräftigen  Tagelöhners,  welcher  nach  einer  star- 
ken Anstrengung,  wobei  er  dem  Zugwinde  ausgesetzt  war, 
heftige  Schmerzen  in  der  linken  Seite  mit  erschwertem 
Athemholen  bekam.  Nachdem  dieser  Zustand  drei  Wochen 
hindurch  bestanden  hatte,  meldete  sich  der  Kranke  in  der 
Klinik.  Er  empfand  noch  immer  lebhafte  Schmerzen  im 
untern  seitlichen  Theile  der  linken  Brust,  die  durch  äussern 
Druck  noch  bedeutend  gesteigert  wurden,  und  wenn  auch 


168 


dieser  letzte  Umstand  im  Verein  mit  der  Schmerzhaftigkeit 
bei  Bewegungen  des  linken  Arms  eine  Affektion  der  Brust- 
muskeln vermuthen  liess , . so  schien  doch  andrerseits  der 
dumpfe  Percussionston,  und  die  auffallende  Schwäche  des 
cellularen  Athmungsgeräusches  an  der  genannten  Stelle 
eine  circumscripte  Pleuritis  mit  massigem  Exsudat  anzuzei- 
gen. Die  nach  dieser  Ansicht  eingeleitete  antiphlogistische 
Behandlung  hatte . indess  nicht  den  geringsten  Erfolg,  viel- 
mehr nahm  trotz  wiederholter  Blutentleerungen  und  der  Applica- 
tion eines  Vesicators  die  Empfindlichkeit  gegen  äussem  Druck, 
besonders  im  Verlaufe  der  Kippen  selbst,  auffallend  zu,  so 
. dass  der  Verdacht  einer  rheumatischen  Affektion  der  Mus- 
keln, und  selbst  des  Periostcum  der  Rippen  immer  festeren  Fuss 
fasste.  In  dieser  Voraussetzung,  wurde  zum  innern  Gebrauch 
der  Sublimat  verordnet,  und  in  die  schmerzhafte  Stelle  die 
Sublimatsalbe  (Hydrarg.  mur.  corros.  Jß,  Axung.  Pore.  3ß) 
bis  zur  Blasenbildung  eingerieben,  worauf  schon  nach  acht 
Tagen  bedeutende  Besserung  eintrat,  und  nach  dreiwöchent- 
licher Fortsetzung  dieser  Kur  der  Kranke  als  vollständig 
geheilt  entlassen  werden  konnte.  Der  dumpfe  Ton  bei  der 
Percussion  und  die  Schwäche  des  Respirationsgeräusches  an 
der  schmerzhaften  Stelle  sind  wahrscheinlich  als  Folgen  die- 
ser Schmerzhaftigkeit  zu  deuten,  wodurch  die  freie  Ausdeh- 
nung der  Brustwandung  und  des  entsprechenden  Theils  der 
linken  Lunge  beschränkt  wurde,  eine  durch  Schmerz  bedingte 
Immobilität,  die  überhaupt  nicht  selten  vorkommt. 

Auch  Fälle  von  E m p y e m gehörten  zu  den  häufiger 
beobachteten  Krankheiten.  Nirgends  zeigte  sich  der  Werth 
der  physikalischen  Untersuchungsmethode,  in  einem  glänzen- 
deren Lichte,  als  bei  solchen  Kranken,  deren  Beschwerden 
zuweilen  nur  in  einem  lästigen,  trocknen  Husten,  und  einem 
geringen  Grade  von  Dyspnoe  bestanden,  gegen  welche  indess 
von  andern  Aerzten  nach  blosser  Erwägung  der  functionei- 
len und  reactionellen  Symptome  eine  Reihe  der  verschieden- 
sten Mittel  ohne  Erfolg  gebraucht  worden  war,  während  schon 
die  erste  in  der  Klinik  angestellte  Exploration  der  Brust  das 


0 ' 


169 


Vorhandensein  eines  Empyems  nachwies.  Vor  allen  verdient 
liier  der  Fall  eines  sechszigjäluigen  Mannes  Erwähnung, 
welcher  einige  Monate  vor  seiner  Anmeldung  in  der  Polikli- 
nik an  einer  acuten  Brustaffektion,  die  durch  eine  antiphlo- 
gistische Behandlung  bekämpft  worden,  gelitten  hatte,  seit 
dieser  Zeit  aber  von  einem  anhaltenden  trockenen  Husten  und 
Athembeschwerden,  die  sich  vorzugsweise  bei  Bewegungen 
kund  gaben,  gequält  wurde.  Alle  bisher  verordneten  Mittel 
waren  erfolglos  geblieben,  und  die  stete  Zunahme  seiner  Lei- 
den veranlasste  den  Kranken  endlich,  in  der  Klinik  Hülfe  zu 
suchen.  Die  Untersuchung  liess  an  dem  Vorhandensein  ei- 
nes Empyems  in  der  buken  Brusthälfte  keinen  Zweifel  auf- 
konnnen : Stillstand  der  Athembewegungen  auf  dieser  Seite? 
Mangel  der  Vibration  beim  Sprechen,  stärkere  Wölbung  der 
linken  Brust,  deren  Umfang  den  der  rechten  um  zwei  Zoll 
übertraf,  matter  Percussionsschall  auf  der  hintern  und  vordem 
Fläche,  und  gänzheher  Mangel  des  Atlnnungsgeräusches  wa- 
ren die  imzweideutigen  Symptome.  Das  Herz  war  nach  der 
rechten  Seite  dislocirt.  Der  Allgemeinzustand  des  Kran- 
ken, das  abencUich  exacerbirende  Fieber,  die  ödematöse  An- 
schwellung der  untern  Extremitäten  und  des  Scrotums  Hessen 
eine  zweifelhafte  Prognose  stellen,  und  nur  die  früher  kräftige 
Gesundheit  des  Mannes,  zumal  seine  Versicherung,  bisher 
niemals  an  Krankheiten  der  Brustorgane  gelitten  zu  haben, 
gab  ein  einigermassen  günstiges  Moment  ab.  Die  Behandlung 
bestand  in  dem  inneren  Gebrauche  eines  Infus.  Hb.  Digital, 
purp,  mit  Terr.  fobat.  Tart.,  und  in  Aufpinselungen  der  Tinct. 
Jodi  auf  die  leidende  Brusthälfte.  Trotz  einer  reicldich  ver- 
mehrten Diurese  bewirkte  aber  die  Digitalis  narkotische  Er- 
scheinungen, Schwindel,  Flimmern  vor  den  Augen,  und  ein 
eigentümliches  Gefühl  der  Formication  längs  des  Rückens, 
so  dass  sie  nach  acht  Tagen  mit  Pillen  aus  Gummi  Guttae 
und  Extr.  Rad.  Scillae  vertauscht  werden  musste.  Die  öde- 
matöse Geschwulst  des  Scrotums  und  der  untem  Extremitä- 
ten war  vollständig  verschwunden,  da«  Exsudat  in  der  Brust- 
höhle jedoch  ungeachtet  eines  starken,  durch  die  Jodtinctur 


170 


bewirkten  Erythems  noch  nicht  vermindert.  Acht  Tage  später 
jedoch  gab  der  obere  Theil  der  linken  Brust  bis  zur  vierten 
Rippe  hinab  schon  einen  hellen  Ton  bei  der  Percussion  und 
auch  das  vesiculäre  Athmungsgeräusch  stellte  sich  in  diesem 
Umfange  wieder  her;  der  Kranke  konnte,  was  bisher  nicht 
möglich  gewesen,  ohne  Beklemmung  auf  der  linken  Seite 
liegen,  und  auch  sein  Allgemeinbefinden  hatte  sich  wesentlich 
gebessert.  Um  die  Abschilferung  der  gebräunten  Oberhaut 
abzuwarten,  waren  die  Aufpinselungen  der  Jodtinctur  mehrere 
Tage  ausgesetzt  worden.  Diese  wurden  nun  wiederum  be- 
gonnen, und  zum  innern  Gebrauche  von  neuem  die  Digitalis 
verordnet.  Unter  dieser  Behandlung  besserte  sich  der  iGanke 
von  Tag  zu  Tag,  die  Resorption  der  ergossenen  Flüssigkeit  ging 
kräftig  von  Statten,  und  so  konnte  man  nach  vierzehn  Tagen 
mit  Rücksicht  auf  das  Daniederliegen  der  Kräfte  denUeber- 
gang  zur  roborirenden  Methode  machen : es  wurde  ein  Decoct. 
Chinae,  animalische  Kost,  und  der  Genuss  eines  bittem  Biers  mit 
so  gutem  Erfolge  verordnet,  dass  der  Kranke  zwei  Monate, 
nachdem  er  sich  in  der  Klinik  gemeldet,  sein  gesundes  blü- 
hendes Aussehn  wiedererlangt  hatte ; Husten  und  Beklemmung 
waren  verschwunden ; das  Herz  pulsirte  wieder  an  der  normalen 
Stelle,  und  nur  ein  matter  Ton  am  untersten  seitlichen  Theile 
der  linken  Brust,  wo  auch  noch  das  Athmungsgeräusch  vermisst 
wird,  so  wie  der  tiefere  Stand  des  linken  Schulterblatts,  und 
die  schwächeren  respiratorischen  Bewegungen  der  linken  Brust- 
hälfte geben  noch  Kunde  von  der  wichtigen  Krankheit. 

In  ganz  ähnlicher  Weise  wurde  die  Behandlung  auch  in 
den  übrigen  Fällen  geleitet,  nur  statt  der  Jodtinctur  öfters 
Einreibungen  des  Unguent.  Kali  hydriodici  täglich  zu  einer 
bis  zwei  Drachmen  verordnet.  Zur  Paracentese  der  Brust 
war  niemals  eine  Indication  vorhanden:  doch  verdient  der 
Fall  eines  jungen  Mannes  erwähnt  zu  werden,  welcher  vor 
mehreren  Jahren  durch  die  Operation  vom  Tode  errettet 
worden  war,  und  mehrmals  in  der  Klinik  vorgestellt  wurde, 
um  an  demselben  die  allmählig  wiederkehrende  Permeabilität 
des  Lungengewebes  anschaulich  zu  machen. 


171 


Bei  einem  sehr  kräftigen  30  jährigen  Maurer  war  in  Folge 
einer  verkannten  und  homöopathisch  behandelten  Pleuritis  ein 
Erguss  in  die  rechte  Brusthöhle  eingetreten.  Da  die  Consti- 
tution des  Kranken  durch  ein  schon  sechs  W ochen  bestehen- 
des Tertianfieber  gelitten  hatte,  bildeten  sich  nach  einiger  Zeit 
Anasarca  und  Ascites,  womit  die  Atlnnungsbeschwerden  den 

i 

höchsten  Grad  erreichten , und  nur  durch  die  wiederholten 
Einreibungen  der  Sublimatsalbe  gemildert  werden  konnten. 
Die  Diurese  war  fast  ganz  unterdrückt  und  konnte  selbst 
durch  die  stärksten  urintreibenden  Mittel  nicht  vermehrt 
werden.  Die  Anschwellung  nahm  trotz  wiederholter  Punc- 
tion  des  Scrotums  und  der  untern  Extremitäten  von  Tag  zu 
Tag  zu,  und  war  bereits  bis  zu  den  Winkeln  der  Schulter- 
blätter gestiegen,  als  das  Wildunger  Wasser  (eine  Flasche 
täglich)  imd  der  im  Ascites  überhaupt  sehr  wirksame  Syrup. 
Spinae  cervinae  verordnet  wurde  (Syr.  dornest.,  Aq.  Menth, 
pip.  ää  5üj>  Spir.  nitr.  dulc.  3j.  M.  D.S.  dreistündlich  einen 
Esslöffel  voll  zu  nehmen).  Es  erfolgten  sehr  reichliche  Stuhl- 
entleerungen, zuweilen  mit  eiterähnlichen  Massen  vermischt, 
die  Diurese  wurde  allmählig  vermehrt,  imd  in  demselben 

!Maasse  nahm  auch  die  hydropische  Anschwellung  der  untern 
Extremitäten,  des  Rumpfs  und  des  Unterleibs  ab.  Selbst  nach 
dem  Aussetzen  des  Purgirmittels  dauerten  reichliche  brei- 
artige Stuhlgänge  noch  fort.  Jetzt  nach  einer  drei  Monate 
fortgesetzten  Behandlung  sind  die  hydropischen  Erscheinun- 
gen bis  auf  ein  leichtes  Oedem  der  Unterschenkel  ganz 
geschwunden,  und  zugleich  ist  der  pleuritische  Erguss  in  der 
rechten  Brusthöhle  vollständig  resorbirt.  Sehr  auffallend  ist 
jedoch  die  während  der  Kur  stattgefundene  Bildung  eines 
ähnlichen  Exsudats  in  der  linken  Brusthälfte,  gegen  welche, 
bei  der  übrigens  guten  Gesundheit  des  Kranken,  nur  die 
Aufpinselungen  der  Jodtinctur,  mit  Ausschluss  aller  innern 
Mittel,  angewendet  werden. 


Unter  clen  organischen  Krankheiten  des  Herzens  kamen 
Hypertrophieen  des  linken  Ventrikels  mit  Erweiterung 
am  häufigsten  vor.  In  einigen  Fällen,  namentlich  im  kind- 
lichen Alter  und  in  der  Periode  der  Pubertät,  liess  sich  die 
Entstehung  der  Krankheit  auf  kein  bestimmtes  Causalmoment 
zurückführen : im  vorgerückteren  Lebensalter  wurde  nicht 
selten  ein  entzündliches  Brustleiden  oder  besonders  ein  vor- 
ausgegangener Gelenkrheumatismus  als  Ursache  nachgewie- 
sen. Beispiele  der  letztem  Art  fehlten  incless  auch  bei  Kin- 
dern nicht.  Ein  zwölfjähriger  Knabe  hatte  ein  Jahr  vor 
seiner  Meldung  in  der  Klinik  einen  heftigen  Anfall  von  Ge- 
lenkrheumatismus überstanden,  welcher  Palpitationen,  Dyspnoe, 
die  bei  Bewegungen  zunahm,  Schmerzen  in  der  Herzgegend 
zurückliess.  Bei  der  Untersuchung  zeigte  sich  der  Impuls 
des  Herzens  ausserordentlich  verstärkt  und  über  einen  grossen 
Theil  der  linken  Brustwand  verbreitet.  Die  Percussion  er- 
gab eine  grössere  Ausdehnung  des  dumpfen  Schalles  als  im 
Normalzustände,  besonders  nach  der  linken  Seite  hin,  die 
Auscultation  einen  sehr  gedämpften  ersten  Herzton,  der  von 
einem,  dicht  unterhalb  der  linken  Brustwarze  am  deutlichsten 
wahrnehmbaren  Blasebalggeräusche  begleitet  war.  Nächtliches 
Aufschrecken  aus  dem  Schlafe  mit  lautem  Schreien  und  An- 
fällen von  Orthopnoe,  Schwindel,  und  wiederholt  eintretendes 
Nasenbluten,  Flimmern  vor  den  Augen  vervollständigten  das 
Bild  der  Krankheit,  deren  Diagnose  auf  Hypertrophie  des 
linken  Ventrikels  mit  Insufficienz  der  Mitralklappe  gestellt 
wurde.  Ein  halbes  Jahr  später  erfolgte  unter  grossen  Qua- 
len und  unter  Hinzutritt  allgemeiner  hydropischer  Erschei- 


173 


mmgen  der  Tod  des  kleinen  Kranken.  Bei  der  Section  fand 
man  nebst  einem  bedeutenden  Ascites  und  Ilydrotborax,  den 
anderthalb  Linien  dicken  Herzbeutel  in  seinem  ganzen  Um- 
fange so  fest  mit  dem  Herzen  verwachsen,  dass  eine  Tren- 
nimg  mittelst  des  Messers  nicht  möglich  war.  Das  ITerz 
war  um  das  Doppelte  vergrössert,  beide  Ventrikel  erweitert, 
die  Wände  des  linken  beträchtlich  hypertrophisch.  Die  Val- 
vula  mitralis  war  ebenfalls  verdickt,  corrugirt,  und  unfähig 
das  Ostimn  venosum  des  linken  Ventrikels  bei  der  Systole 
vollständig  zu  schliessen.  Li  diesem  Falle  hatte,  wie  man 
mir  Gewissheit  annehmen  kann,  der  vor  einem  Jahre  statt- 
gehabte Anfall  von  acutem  Gelenkrheumatismus  eine  entzünd- 
liehe  Affektion  des  Peri-  und  Endocardiums  zur  Folge  gehabt, 
woraus  sich  die  Verwachsung  des  Herzbeutels  mit  dem  Her- 
zen imd  die  Desorganisation  der  Mitralklappe  erklären  lässt, 
zwei  Zustände,  wovon  schon  ein  jeder  für  sich,  vollends  aber 
beide  im  Verein,  Hypertrophie  der  Herzsubstanz  nach  sich 
ziehen  müssen. 

Hypertrophieen  des  Herzens,  die  sich  im  kindlichen  Le- 
bensalter bilden,  gleichen  sich  nicht  selten  in  der  Pubertäts- 
periode wieder  aus.  Als  das  wichtigste  Mittel,  diese  Rück- 
bildung zu  fördern,  welches  auch  bei  reinen  Herzhypertro- 
phieen  im  Jünglings-  und  Mannsalter  dringend  zu  empfehlen 
ist,  bewährt  sich  das  Haarseil  in  der  Herzgegend.  Nur  er- 
warte man  keine  schnelle  Wirkung  von  demselben,  vielmehr 
muss  es  Jahrelang  getragen  werden,  ehe  der  Einfluss  auf  das 
erkrankte  Organ  sich  deutlich  kund  giebt.  Auf  diese  Weise 
gelang  es  in  zwei  Fällen  nicht  allein  eine  wesentliche  Mil- 
derung der  Zufälle  zu  erzielen,  sondern  bei  einem  dieser 
Kranken,  einem  jungen  Manne  von  siebenzehn  Jahren,  kann 
auch  schon  durch  die  physikalische  Untersuchung  eine  Ab- 
nahme des  Herzumfanges  nachgewiesen  werden.  *) 

*)  Auch  meine  Erfahrung  in  der  Privatpraxis  bestätigt  die  treffliche 
Wirkung  des  lange  unterhaltenen  Haarseils  in  Herzkrankheiten.  Den 
besten  Erfolg  sah  ich  in  reinen  Hypertrophieen,  zumal  im  jugendlichen 
Lebensalter.  Gegenwärtig  ist  ein  18jäliriger  Fremder  von  scrofulöser 


174 


Bei  S ä u f e r n wurden  zuweilen  Erscheinungen  beobach- 
tet, welche  mit  denen  der  Hypertrophie  des  Herzens  grosse 
Aehnlichkeit  hatten.  Die  Kranken  klagten  nämlich  überPal- 
pitationen  und  heftige  Schläge  in  der  linken  Brust,  die  sich 
vorzugsweise  beim  Liegen  auf  der  linken  Seite  zu  grosser 
Qual  steigerten,  im  Stehen  aber  und  durch  starke  Bewegun- 
gen gemildert  wurden.  Drückendes  Angstgefühl,  besonders 
zur  Nachtzeit,  schwere  Träume,  Aufschrecken  aus  dem 
Sclilafe,  Dyspnoe  beim  Treppensteigen,  Schwindel  und  Flim- 
mern vor  den  Augen,  wurden  nicht  vermisst.  Diese  beun- 
ruhigenden Symptome  werden  indess  immer  von  anderen  in 
der  Sphäre  der  Digestionsorgane  begleitet,  welche  über  die 
wahre  Natur  der  Affektion  Aufschluss  geben.  Mangel  des 
Appetits,  heftiger  Durst,  Ekel,  Vomituritionen,  gewöhnlich 
auch  heftige  Schmerzen  in  der  Magengrube  fehlen  nie,  und 


Constitution  hier  wieder  zum  Besuche,  dessen  Herz,  mit  dem  Plessimeter 
gemessen,  einen  noch  einmal  so  grossen  Umfang  hatte  wie  im  normalen 
Zustande.  Der  Impuls  war  erschütternd,  die  Palpitationen  stiegen  be- 
sonders bei  Bewegungen  zu  einer  ausserordentlichen  Intensität.  Durch 
ein  zweijähriges  Tragen  des  Ilaarseils  hat  sich  das  Volumen  des  Her- 
zens auf  die  Hälfte  verringert,  der  Herzstoss  unterscheidet  sich  fast  nicht 
von  dem  gewöhnlichen,  und  Bewegungen  haben  so  wenig  Einfluss,  dass 
selbst  anhaltendes  Tanzen  keine  Palpitationen  hervorruft.  Bei  fortbe- 
stehender rheumatischer  Diatliesis  verhütet  das  Haarseil  als  Exutorium 
schlimmere  Folgen,  Veränderung  der  Klappen  u.  s.  f.  Allein  auch  wo 
dieselben  schon  eingetreten  sind,  lässt  sich  hei  jugendlichen  Individuen 
vom  Setaceum  noch  Gutes  erwarten.  Vor  sieben  Jahren  war  ich  von 
meinem  verewigten  Collcgen  Df.  Thaer  zur  Behandlung  eines  sechszehn- 
jährigen Predigersohns  hinzugezogen  worden,  bei  welchem  sich  nach  vor- 
angegangenem aentem  Rheumatismus  eine  heftige  Entzündung  der  fibrös- 
serösen Herzmembranen  entwickelt  hatte.  Durch  energische  Antiplilogose 
wurde  zwar  die  Lebensgefahr  abgewandt,  jedoch  das  Zustandekommen 
einer  Insuffieienz  der  Mitralklappe  und  Hypertrophie  des  linken  Ventri- 
kels nicht  verhindert.  Rauhes  Aftergeräusch,  unregelmässiger  Rhythmus, 
Palpitationen,  Dyspnüe  nahmen  bei  Bewegungen  des  Körpers  zu.  Vier 
Jahre  wurde  das  Haarseil  getragen,  mit  solchem  Erfolge,  dass  der  Kranke, 
jetzt  Prediger,  allen  Anstrengungen  gewachsen  ist,  zu  turnen,  schwim- 
men ohne  alle  Beschwerden  vermag.  So  empfehlenswert!)  das  Setaceum 
in  diesen  Zuständen  ist,  so  wenig  leistet  es  bei  Dilatationen  der  rechten 
Herzhälfte,  und  ist  bei  Theilnalime  der  Leber,  bei  gesunkenen  Kräften, 
und  im  höheren  Alter  zu  widcrratlien.  R. 


175 


dienen  zur  Unterscheidung  von  einem  organischen  Herzlei- 
den, die  noch  durch  das  periodische  Auftreten  der  Symptome, 
durch  das  freiere  Intervall , durch  den  Mangel  aller  krank- 
haften Erscheinungen  bei  der  Localuntersuchung  des  Herzens 
erleichtert  wird.  Die  Behandlung  dieser  Indigestio  po- 
ta  torum  bestand  in  dem  Gebrauche  eines  Infus.  Hb.  Digi- 
talis mit  Jj  Extr.  Trifol.  fibrini,  worauf  die  Palpitationen 
nachliessen,  und  der  Rhythmus  der  Herzbewegung  regelmässig 
wurde.  Nach  vollendeter  Heilung  wurde  zur  Stärkung  der 
Digestion  die  Hb.  Trifol.  fibr.  noch  längere  Zeit  fortge- 
braucht. 

Auch  die  sogenannte  Hypochondria  c a r d i a c a wurde 
in  mehreren  Fällen,  vorzugsweise  bei  jungen  kräftigen  Indi- 
viduen, die  eine  sitzende  Lebensweise  führten,  beobachtet. 
Am  ausgeprägtesten  waren  ihre  Erscheinungen  bei  einem 
22jährigen  Seidenwirker,  welcher  nicht  allein  die  funktionel- 
len Merkmale  einer  organischen  Herzkrankheit,  sondern  auch 
eine  vermehrte  Stärke  und  grössere  Verbreitung  des  Herz- 
impulses darbot.  Die  Erleichterung  nach  erfolgtem  Stuhl- 
gänge, die  auffallende  Milderung  aller  Zufälle  nach  starken 
Bewegungen,  die  Zunahme  derselben  während  der  Ruhe,  so 
wie  die  ängstliche  Aufmerksamkeit,  mit  welcher  der  Kranke 
sieh  selbst  beobachtete,  machten  die  Annahme  einer  consensuel- 
len  Steigerung  der  Herzthätigkeit  sehr  wahrscheinlich,  was 
auch  durch  den  guten  Erfolg  der  auf  den  Unterleib  gerich- 
teten Behandlung  (mittelst  drastischer  Abführmittel)  bestätigt 
wurde. 

Desorganisation  der  Aorta  wurde  nur  bei  einem  Kran- 
ken gefunden.  Ein  39jähriger  Tischler  hatte  zuei’st  vor  vier 
Mouaten  über  einen  fixen  Schmerz  in  der  Mitte  der  Brust 
geklagt,  der  sich  bis  in  die  Schultern  und  den  linken  Arm 
hinein  erstreckte.  Zu  diesen  Symptomen  gesellte  sieh  bald 
Husten  mit  geringem  klebrigem  Auswurf,  und  starke  Dyspnoe, 
welche  die  Rückenlage  unmöglich  machte.  Bei  der  Unter- 
suchung zeigte  sich  eine  pulsirende,  bei  der  Percussion  matt 
tönende  Hervortreibung  am  obem  Theile  der  rechten  Brust 


i 


176 


dicht  am  Sternalrande , in  welcher  mittelst  des  Stethoskops 
der  Doppelton,  wie  im  Herzen,  jedoch  kein  Aftergeräusch, 
zu  hören  war,  während  das  Herz  selbst  keine  Abnormitäten 
ergab.  Das  Schlucken  war  erschwert,  und  jede  Inspiration 
von  einem  schnarrenden,  tief  aus  der  Brust  hervortönen- 
den Geräusche  begleitet.  Die  genannten  Zufälle  steigerten 
sich  im  Laufe  der  nächsten  Monate  zur  furchtbarsten  Qual, 
die  Beklemmung  ging  in  Orthopnoe  über,  es  trat  vollstän- 
dige Dysphagie  ein , Oedem  des  Gesichts  und  der  obem 
Extremitäten  gesellte  sich  hinzu,  und  reissende,  bis  in  die 
Fingerspitzen  der  linken  Hand  hinabschiessende  Schmerzen 
tobten  von  Zeit  zu  Zeit  in  der  Brust  des  Kranken.  Die  2-4 
Stunden  nach  dem  Tode  angestellte  Sektion  ergab  eine  massige 
Hypertrophie  des  linken  Ventrikels,  imd  eine  sackartige  Er- 
weiterung der  aufsteigenden  Aorta  von  ihrem  Ursprünge  an 
bis  zur  Mitte  des  Bogens.  Der  Sack,  etwa  anderthalbmal  so 
gross,  als  das  Herz,  war  rechterseits  mit  den  Knorpeln  der 
zweiten  und  dritten  ßippe,  und  mit  dem  Sternoclaviculargelenk 
leicht  verwachsen,  seine  Wandungen  stark  verdickt,  die  innere 
Fläche  mit  Auflagerungen  und  frischen  Faserstoffgerinnungen 
bedeckt.  Nur  der  Ursprung  der  Aorta,  etwa  anderthalb  Zoll 
über  dem  Herzen,  zeigte  gar  keine  Auflagerung,  buchtete 
sich  aber  nach  hinten  zu  einem  secundären  Aneurysma  aus, 
welches  mit  frischen  Concretionen  bedeckt  und  mit  dem 
rechten  Bronchus  fest  verwachsen  war.  Die  Ursprünge  der 
grossen  Arterien,  so  wie  die  absteigende  Aorta  waren  normal, 
der  Oesophagus  aber  comprimirt,  seine  Muskelhaut  an  der 
betreffenden  Stelle  in  der  Länge  von  zwei  Zollen  verdickt  und 
blass.  Der  obere  Lappen  der  rechten  Lunge  enthielt  vor- 
zugsweise an  der  Spitze  zahlreiche  Tuberkeln,  welche  zum 
Theil  schon  in  Erweichung  übergegangen  waren. 

Bemerkungswerth  ist,  dass  in  diesem  Falle  die  ste- 
thoskopische  Untersuchung  der  pulsirenden  Geschwulst  nur 
den  Doppelton  des  Herzens,  nicht  das  gewöhnliche  aneu- 
rysmatische Geräusch  ergab.  Der  schnarrende,  keuchende 
Ton  der  Inspiration  liess  eine  Beeinträchtigung  des  N.  vagus 


177 


durch  die  Geschwulst  vermuthen,  die  bei  Aneurysmen 
nicht  selten  .vorkommt.  Allein  eine  sorgfältige  anatomische 
Untersuchung  stellte  den  Ungrund  dieser  Vermuthung  her- 
aus. Der  rechte  Vagus  und  Recurrens  lagen  ganz  ausser 
dem  Bereich  der  Geschwulst.  Der  linke  Recurrens  aber 
schlang  sich  gerade  an  derselben  Stelle  um  den  Aortenbo- 
gen  herum,  wo  die  aneurysmatische  Erweiterung  ihr  Ende 
erreichte,  war  mithin  dem  Drucke  derselben  nicht  ausgesetzt. 
Die  Ursache  des  schnarrenden  Einathmens  lag  vielmehr  in 
der  Compression  des  rechten  Bronchus  durch  das  secundäre 
Aneurysma,  dessen  Wandungen  an  dieser  Stelle  bis  zur  Durch- 
sichtigkeit verdünnt  waren.  Wahrscheinlich  hätte  bei  längerer 
Dauer  der  Krankheit  liier  eine  Ruptur  stattgefunden.  Endlich 
ist  noch  auf  die  Complication  des  Aneurysma  mit  Lungen- 
tuberkulose aufmerksam  zu  machen,  ein  Befund,  welcher  mit 
Rokitansky’s  Erfahrungen  im  Widerspruche  steht. 


1 2 


Krankheiten  der  Haut. 


lb  ür  die  Behandlung  der  chronischen  HautafFektionen  musste 
das  Causalverhältniss  die  Hauptindication  abgeben,  und  dem- 
gemäss wurde,  zumal  bei  Kindern,  die  antiscrophulöse  Me- 
thode , nächst  derselben  die  antisyphilitische  am  häufigsten 
angewendet. 

Die  häufigste  Form,  unter  welcher  die  Syphilis  bei 
neugeborenen  Kindern  auftrat,  war  die  eines  maculösen 
Exanthems.  Diese  Form  erhielt  sich  indess  nur  selten  in 
ihrer  ganzen  Reinheit,  ging  vielmehr  im  weitem  Verlaufe 
mannigfache  Veränderungen  ein,  wodurch  sie  sich  zur  squa- 
mösen  oder  ulcerösen  umgestaltete.  Die  Flecke  selbst  waren 
in  der  Regel  rund,  von  einer  dunkelrothen , ins  Gelbliche 
spielenden  Farbe,  standen  an  den  Gliedmassen,  auf  den  Wan- 
gen, der  Stirn,  dem  Rumpfe  mehr  isolirt,  flössen  aber  in  der 
Gegend  der  Genitalien,  des  Afters,  der  Lippen  und  Gelenk- 
biegungen  zu  grösseren  erythemartigen  Ausschlägen  zusam- 
men. Auf  den  isolirt  stehenden  Flecken  sah  man  häufig  eine 
massige  kleienförmige  Abschilferung,  die  erste  Andeutung 
eines  Uebergangs  dieser  Form  in  die  Psoriasis  syphili- 
tica: in  diesem  Falle  erheben  sich  die  Flecke  gewöhnlich 
über  das  Niveau  der  umgebenden  Haut,  fangen  an  zu  nässen, 
und  werden,  vorzugsweise  an  den  der  äussern  Luft  ausge- 
setzten Stellen,  schuppig,  während  sich  in  den  Hautfalten, 
am  After,  an  den  Genitalien,  m den  Weichen,  durch  die 
stete  gegenseitige  Reibung  der  nässenden  Stellen  Geschwüre, 
nicht  selten  auch  condylomatöse  Excrescenzen  entwickeln. 
Diese  Psoriasis  syphilitica  neonatorum  unterscheidet  sich 
schon  durch  ihre  fahlrothe  blässere  Farbe,  durch  die  feinen, 


179 


mehr  gelblichen  Schuppen  wesentlich  von  der  aus  andern  Ur- 
sachen stammenden  Psoriasis,  die  überhaupt  in  so  zartem 
Alter  fast  nie  beobachtet  wird. 

Unter  diesen  beiden  Formen  kam  die  Syphilis  bei  wei- 
tem am  häufigsten  im  kindlichen  Lebensalter  vor:  seltener 
waren  andere  Exantheme,  wofür  folgender  Fall  als  Beispiel 
thenen  maff.  Bei  einem  neun  Monate  alten  Kinde  hatte-  sich 
seit  sechs  Wochen  ein  Ausschlag  entwickelt  und  unter  ver- 
schiedenen Formen  über  den  ganzen  Körper  verbreitet.  Auf 
dem  behaarten  Theile  des  Kopfes  sah  man  auf  geröthetem 
Grunde  gelblich  - grüne , feuchte,  weiche  Grinde,  die  einen 
dem  Katzenurin  ähnlichen  Geruch  verbreiteten.  Nase  und 
Oberlippe  waren  erodirt,  das  linke  Ohr  erythematös,  die  Mu- 
schel desselben  Sitz  eines  kleinen  runden  Geschwürs  mit 
gelbem,  speckigem  Grunde.  Ein  papulöser  Ausschlag,  dem 
Lichen  lividus  ähnlich,  zeigte  sich  auf  dem  Rücken  der  Hände 
imd  Füsse,  während  die  Haut  der  Sexualtheile  dunkel  gerö- 
thet,  mit  kleinen  Bläschen  besetzt,  und  die  grossen  Schaam- 
lippen  bedeutend  angeschwollen  waren.  Auf  den  untern  Ex- 
tremitäten sah  man  zahlreiche  mit  Papeln  untermischte  dun- 
kelrothe  Flecke,  hie  und  da  abschilfernd,  an  einzelnen  Stellen 
tiefe,  runde,  scharf  ausgeschnittene  Geschwüre  mit  speckigem 
Grunde  und  lebhaft  gerötheten,  stark  verhärteten  Rändern. 
Zwei  dieser  Geschwüre  zeigten  sich  auch  am  Daumen  und 
in  der  V ola  der  rechten  Hand.  Das  ganze  Ansehn  des  Aus- 
schlags, die  Anamnese,  so  wie  der  schnelle  günstige  Erfolg 
der  eingeleiteten  spezifischen  Behandlung  setzten  die  syphi- 
litische Natur  desselben  ausser  Zweifel.  Bei  einem  andern, 
zehn  Wochen  alten  Kinde  gab  sich  die  syphilitische  Haut- 
affektion nur  durch  drei  runde  Geschwüre  mit  speckigem 
Grunde  und  rothen  callösen  Rändern  kund,  die  an  der  hintern 
Fläche  des  rechten  O bersch enk eis  ihren  Sitz  hatten. 

Ausser  den  genannten  Exanthemen  findet  man  die  Haut 
der  Lippen  eigentlnimlich  gespannt,  roth,  oft  rissig  und  ge- 
spalten, die  Fusssohlen  glänzend  roth  mit  Spannung  der  Flaut, 
wie  sie  auch  am  Perinäum,  Scrotum,  an  den  Nates  und  an 
/ 12  * 


% 


180 

der  innern  Fläche  der  Oberschenkel  vorkommt,  und  von 
Goejlis  unter  dem  Namen  Cutis  tensachronica  beschrie- 
ben worden  ist.  Fast  in  allen  Fällen  schnüffeln  die  Kinder,  als 
ob  die  Nase  verstopft  wäre,  in  Folge  einer  Coryza  syphilitica, 
die  nicht  selten  das  erste  Symptom  der  drohenden  Syphilis 
bei  Neugeborenen  ist,  und  sich  erst  nach  acht-  oder  vierzehn- 
tägigem Bestehen  mit  Ilautaffektionen  verbindet.  Gewöhnlich 
ist  dabei  die  Nasenwurzel  eingesunken,  was  im  Verein  mit  der 
erwähnten  Spannung  und  rissigen  Beschaffenheit  der  Lip- 
pen der  Physiognomie  des  Kindes  einen  charakteristischen 
Ausdruck  giebt.  Fast  alle  an  Syphilis  leidende  Neugeborene 
sind  bedeutend  abgemagert:  ihre  Haut  ist  welk,  schlaff,  von 
blassem,  kachektischem  Anselm.  Die  sorgfältige  Beachtung 
dieser  Neigung  zur  Atrophie,  die  man  als  eine  Folge  der 
Blutentmischung  betrachten  muss,  ist  um  so  wichtiger,  als 
die  therapeutische  Berücksichtigung  derselben  dringend  erfor- 
dert wird. 

Primäre  syphilitische  Geschwüre  wurden  nur  bei  einem 
Kinde  auf  der  Lippen-  und  Mundschleimhaut  beobachtet: 
sie  waren  durch  das  Saugen  an  einer  schankrösen  Brustwarze 
entstanden.  Von  der  Syphilis  connata,  die  beim  Durchgänge  ' 
durch  die  inficirten  Geburtstheile  der  Mutter  entstehen  soll, 
kam  kein  Beispiel  vor.  Die  hereditäre  Syphilis  erschien 
meistens  im  zweiten,  dritten  Monate  nach  der  Gekurt ; nur 
bei  einem  Kinde  zeigte  sich  von  der  Geburt  an  auf  der  hin- 
tern Fläche  des  rechten  Oberschenkels  ein  Convolut  dunkel- 
rother,  etwas  erhabener  Flecken,  die  sich  im  Anfänge  des 
dritten  Monats  allmählig  in  Schankergeschwüre  verwandelten. 
Weit  seltener  ist  die  Entwickelung  der  hereditären  Syphilis 
zur  Zeit  der  zweiten  Dentition.  Wenn  auch  die  Möglichkeit 
einer  frischen  Lifection  Beobachtungen  dieser  Art  immer  et- 
was zweifelhaft  macht,  so  scheint  doch  der  Fall  eines  acht- 
jährigen Mädchens  hierher  zu  gehören,  welches  sich  im  De- 
zember 1844  mit  schmerzhaften  Empfindungen  im  Mimde, 
vorzugsweise  beim  Schlucken , in  der  Klinik  meldete.  Auf 
der  Schleimhaut  des  harten  Gaumens  sass  ein  breites,  ober- 


181 


flächlich  cxulcerirtes  Condylom  von  der  Grösse  eines  halben 
SilberoTOschens ; ein  zweites  kleineres  befand  sich  an  der 
vordem  Fläche  des  Gaumensegels  oberhalb  der  Uvula.  Ue- 
brigens  liess  sich  am  ganzen  Körper  kein  syphilitisches  Symp- 
tom wahmehmen.  In  diesem  Falle  war  die  Annahme  der 
hereditären  Syphilis  um  so  wahrscheinlicher,  als  auch  die 
Mutter  vor  einem  halben  Jahre  an  syphilitischen  Anschwel- 
lungen des  Stirn-  und  Schienbeins  in  der  Klinik  behandelt 
worden  war.  Die  primäre  Affektion  der  Mutter  lag  wohl 
zehn  Jahre  zurück,  doch  ging  aus  ihren  Aussagen  hervor, 
dass  sie  während  der  Schwangerschaft  mit  diesem  Kinde  an 
secundären  Symptomen  gelitten  hatte.  Hätte  das  Kind  Ge- 
schwüre im  Munde  gehabt,  so  würde  man  noch  eher  zur 
Annahme  einer  neuen  unmittelbaren  Ansteckung  versucht 
gewesen  sein;  allein  Condylome  pflegen  nur  der  Ausdruck 
der  Lues  zu  sein,  und  so  blieb  die  Annahme  einer  ererbten, 
hier  aber  erst  im  achten  Lebensjahre  auftretenden  Syphilis 
immer  noch  das  Wahrscheinlichere. 

Die  in  der  Poliklinik  übliche  Behandlung  bestand  in  der 
Darreichung  der  mildern  Mercurialpräparate,  des  Calomeis 
oder  des  Mercur.  solubil.  Hahnemanni,  zu  | bis  i Gr.  Mor- 
gens und  Abends.  In  einem  Falle  bewirkte  jede  Dosis  des 
letztem  einmaliges  Erbrechen,  doch  ohne  schlimme  Folgen. 
Gleichzeitig  wurden,  um  der  Atrophie  zu  begegnen,  tonisi- 
rende  Mittel,  besonders  ein  Decoct.  Chinae,  und  lauwarme, 
mit  aromatischen  Kräutern  oder  Malz  bereitete  Bäder  verord- 
net. In  einigen  Fällen,  wo  Abmagerung  und  Erschöpfung 
bereits  einen  sehr  hohen  Grad  erreicht  hatten,  bediente  man 
sich  mit  trefflichem  Erfolge  des  Tokayenveins  zur  Unter- 
stützung der  Kur.  In  der  Kegel  genügten  wenige  Wochen 
zur  Heilung,  doch  wurde  durch  Recidive  eine  Wiederholung 
der  Behandlung  nicht  selten  nothwendig. 

Die  Kur  der  scrophu lösen,  meist  in  Pustelform  auf- 
tretenden Exantheme  wurde  in  der  Regel  durch  einige  Ab- 
führpulver aus  Calomel  mit- Rad.  Jalapac  eingcleitet,  welchen 
man  die  Antimonpräparate  (besonders  eine  Verbindung  des 


182 


Aethiops  antimonialis  und  mineralis)  oder  das  Oleum  Jecoris 

Aselli  folgen  Hess. 

0 ♦ 

Es  kommen  indess  nicht  selten  Ausschlagsformen  vor, 
für  welche  man  trotz  einer  sorgfältig  angestellten  Anamnese 
kerne  bestimmte  Dyskrasie  als  Grund  auffinden  kann.  Dazu 
gehören  besonders  die  verschiedenen  Formen  des  Ekzema, 
der  Prurigo,  oft  auch  der  Psoriasis.  In  diesen  Krank- 
heiten wird  mit  den  Abführmitteln  ein  grosser  Missbrauch 
getrieben : sie  nützen  nicht  allein  nichts , sondern  schaden 
auch  noch  durch  Störung  der  Funktionen  des  Darmkanals. 
Bei  weitem  angemessener  erscheint  in  solchen  Fällen  die  Be- 
thätigung  eines  andern  Secretionsorgans,  der  Nieren,  die  schon 
von  der  Natur  zur  Ausscheidung  fehlerhafter  Stoffe  aus  der 
Blutmischung  bestimmt  sind.  Dieser  Idee  gemäss  wurde  in 
der  Klinik  die  diuretische  Behandlung,  und  zwar  meh- 
rentheils  mit  glücklichem  Erfolge  angewandt.  Die  verordne- 
ten  Mittel  waren  ein  einfacher  diuretischer  Thee  (aus  Bad. 
Levist..,  Bacc.  Junip.),  womit  in  hartnäckigeren  Fällen,  um  un- 
mittelbar auf  die  Blutmischung  einzuwirken,  der  Gebrauch 
des  Acidum  muriaticum,  in  steigender  Dosis  von  acht  bis 
sechszehn  Tropfen  in  Zuckerwasser  (bei  Kindern  von  drei 
bis  sechs  Tropfen)  dreimal  täglich,  verbunden  wurde. 

Diese  Methode  ist  um  so  mehr  zu  empfehlen,  als  sie 
die  Ausschläge  nie  schnell  unterdrückt,  was  namentlich  bei 

u 

Kindern  von  der  grössten  Wichtigkeit  ist.  So  wurde  z.  B. 
ein  dreijähriges  Kind  behandelt,  welches  seit  zwei  Jahren  an 
einem  über  den  ganzen  Körper  verbreiteten  Ekzema  litt. 
Der  Ausschlag  war  bereits  mehrmals  spontan  abgetrocknet, 
worauf  indess  jedesmal  Anfälle  von  Eclampsie  eintraten, 
die  erst  mit  dem  Wiedererscheinen  des  Exanthems  verschwan- 
den. Mit  Rücksicht  auf  diesen  Umstand  wurde  gleichzeitig 
mit  der  diuretischen  Behandlung  das  Unguent.  Tartan  eme- 
tici  in  den  Nacken  und  Rücken  des  Kindes  bis  zur  Pocken- 
bildung eingerieben,  und  nach  vierzehn  Tagen  war  der  Aus- 
schlag, ohne  dass  sich  ein  beunruhigendes  Symptom  zeigte, 
vollständig  verschwunden. 


183 


Eine  andere  Modification  des  angegebenen  Verfahrens 
lehrt  der  Fall  eines  19jährigen  Mädchens,  welches  erst  drei- 
mal, imd  zwar  sehr  schwach  menstruirt  gewesen.  Seit  einem 
halben  Jahre  litt  sie  an  einem  Ekzema  des  Gesichts,  welches 
alle  vier  Wochen  unter  Hinzutritt  von  Kreuz  schmerzen  und 
Völle  des  Unterleibs  eine  bedeutende  Steigerung  verrieth. 
Hier  winde  zu  dem  cliuretischen  Thee  ein  Zusatz  von  Herb. 
Sabinae  gemacht,  und  der  innere  Gebrauch  der  Pilulae  ape- 
rientes  Stahlii  verordnet,  worauf  die  Periode  bald  regelmässig 
eintrat,  und  der  Ausschlag  nach  kurzer  Zeit  für  immer  ab- 
trocknete. 

Es  muss  jedoch  bemerkt  werden,  dass  diese  einfache 
Behandlung  keineswegs  stets  den  erwünschten  Erfolg  hatte. 
Unzureichend  zeigte  sie  sich  vorzugsweise  gegen  Psoria- 
sis inveterata.  In  solchen  Fällen  bewährte  sich  der  Ge- 
brauch eines  bisher  noch  wenig  benutzten  Mittels,  des  Theers 
(Pis  liquida),  welcher  in  der  Mehrzahl  der  Fälle  Heilung 
herbeiführte.  Man  lässt  in  einer  Schüssel  ein  Pfund  Theer 
mit  einem  Quart  kalten  Wassers  übergiessen,  24  Stunden 
an  einem  kühlen  Orte  ruhig  stehen,  davon  jeden  Morgen  ein 
Bierglas  abschöpfen,  durch  Löschpapier  filtriren,  und  dasselbe 
nüchtern  trinken;  gleichzeitig  werden  die  von  der  Psoriasis 
befallenen  Theile  mit  diesem  Wasser  zwei-  bis  dreimal  tag- 
lieh  gewaschen.  Der  Gebrauch  dieses  Mittels  ist  im  Anfänge 
dem  Kranken  allerdings  widerlich:  er  gewöhnt  sich  indess 
bald  daran,  und  das  Mittel  kann  dami  Monate  lang  olme 
nachtheilige  Folgen  fortgesetzt  werden.  Die  einzige  Wir- 
kung, die  man  in  Gelen  Fällen  beobachtet,  ist  eine  massig 
vermehrte  Diurese.  Folgende  Fälle  mögen  als  Beispiele  der 
Heilkraft  der  Aqua  picea  in  dieser  Krankheit  dienen. 

1.  Eine  26  jährige  Frau  hatte  schon  als  Kind  an  Pso- 
riasis guttata  gelitten;  nach  ihrer  Verheirathung  verschwand 
dieselbe,  trat  aber  nach  dem  Wochenbette  beim  Wiederer- 
scheinen der  Katamenien  von  neuem  auf,  und  bestand  zur 
Zeit  der  \ orstellung  der  Kranken  bereits  seit  zwei  Monaten, 
vorzugsweise  an  den  untern  Extremitäten.  Nach  dem  acht- 


184 


wöchentlichen  Gebrauche  des  Theer wassere  war  die  Kranke 
vollständig  geheilt. 

2.  Eine  48jährige  Frau  wurde  nach  dem  Aufhören 
der  Katamenien  von  vagen  Gliederschmerzen  befallen:  gleich- 
zeitig entwickelte  sich  eine  Psoriasis,  die  zur  Zeit  ihrer  Vor- 
stellung in  der  Klinik  seit  sechs  Monaten  bestand.  Ein 
fünfwöchentlicher  Gebrauch  des  Theerwassers  genügte,  den 
Ausschlag  für  immer  zu  beseitigen. 

3.  Ein  20jähriges  Mädchen  litt  seit  sechs  Jahren  an 
einer  Psoriasis  diffusa  der  Unterschenkel  und  des  Rückens. 
Bemerkenswerth  ist,  dass  die  vor  zwei  Jahren  cingetretenen 
Katamenien  auf  den  Ausschlag  durchaus  keinen  Einfluss 
gehabt  hatten.  Durch  den  Gebrauch  des  Theers  wurde  sie 
in  zwei  Monaten  völlig  davon  befreit. 

4.  Ein  Mann  von  48  Jahren  litt  schon  zehn  Jahre  an 
einer  Psoriasis  diffusa  der  obern  und  untern  Extremitäten 
und  des  Rückens.  Nach  drei  Monaten  war  durch  das  Theer- 
wasser,  wenn  auch  noch  keine  radicale  Heilung,  doch  eine 
entschiedene  Besserung  herbeigeführt  worden:  die  Schup- 
penbildung wdr  vollständig  verschwunden,  und  nur  noch  ge- 
röthete,  zuweilen  juckende  Flecken  als  Spuren  des  Ausschlags 
zurückgeblieben. 

5.  Ein  23jähriges  Mädchen,  seit  sechszehn  Jahren  an 
einer  sehr  starken  Psoriasis  diffusa  der  untern  Extremitäten 
leidend,  welche  den  bewährtesten  Mitteln  Trotz  geboten  hatte, 
wurde  durch  den  neunmonatlichen  Gebrauch  des  Theerwassers 
vollständig  hergestellt.  Sie  ist  jetzt  verheirathet,  und  bietet 
keine  Spur  des  Ausschlags  mein-  dar. 

6.  Eine  50jährige  Frau  litt  bereits  seit  zwanzig  Jahren 
an  Psoriasis  gyrata  des  rechten  Oberarms  und  Rückens, 
welche  besonders  in  der  Bettwärme  heftiges  Jucken  imd 
Brennen  erregte.  Alle  angewandten  Mittel  waren  erfolglos 
geblieben,  und  erst  dem  beharrlichen,  fünf  Monate  hindurch 
fortgesetzten  Gebrauch  der  Aqua  picea  gelang  es,  die  Krank- 
heit gründlich  zu  heilen.  In  diesem  Falle  hatte  das  Mittel 
eine  sehr  vermehrte  Diurese  zur  Folge,  und  der  bisher  braun- 


185 


rothe,  nicht  selten  stark  sedimentirende  Urin  wurde  klar  und 
hellgelb. 

Diese  Andeutungen  mögen  genügen,  um  die  Aufmerk- 
samkeit einem  Mittel  zuzuwenden,  welches  in  Betracht  seiner 
Wirksamkeit  und  völligen  Unschädlichkeit  grosses  Zutrauen 
verdient,  zumal  in  einer  Krankheit,  gegen  welche  die  ver- 
schiedensten, und  keineswegs  indifferenten  Mittel,  wie  die 
Cantharidentinctur  und  die  FovvLEii’sche  Solution,  oft  ohne 
allen  Nutzen  angewendet  werden.  Es  darf  jedoch  nicht  uner- 
wähnt bleiben,  dass  auch  das  Theerwasser  in  einem  Falle, 
wo  die  Psoriasis  seit  sieben  Jahren  bestand,  ganz  erfolglos 
blieb. 

Von  den  übrigen  schuppenförmigen  Ausschlägen  kam 
die  Pityriasis  am  häufigsten  vor.  In  dem  sechsten  der 
unter  Psoriasis  angeführten  Fälle  bestand  sie  gleichzeitig  mit 
der  Psoriasis  gyrata,  und  nahm  hier  unter  der  Form  der  von 
Willaiv  benannten  Pityriasis  versicolor  die  vordere  Fläche 
der  Brust  und  des  Halses  ein.  Das  Theerwasser,  welches 
sich  gegen  die  Psoriasis  so  wirksam  zeigte,  hatte  auch  auf 
die  Pityriasis  einen  heilsamen  Einfluss : sie  verschwand  mit 
der  Psoriasis,  und  machte  einer  gelinden  Prurigo  Platz,  die 
durch  den  Gebrauch  der  Salzsäure  und  eines  diuretisehen 
Thees  beseitigt  wurde. 

Ichthyosis  ward  nur  einmal,  und  zwar  in  gelindem 
Grade,  an  den  untern  Extremitäten  beobachtet.  Eine  Be- 
handlung wurde  bei  der  Geringfügigkeit  der  Affektion  nicht 
eingeleitet , da  der  jugendliche  Kranke  nur  im  Sommer,  wo 
die  schuppenförmige  Abschilferung  vorzugsweise  stark  von 
Statten  ging,  an  einem  massigen  Jucken  litt. 

Was  die  vesiculärcn  Exantheme  betrifft,  so  ist  das  Ekzema 
bereits  oben  erwähnt  worden. 

Scabies  kam  nicht  minder  häufig  vor,  und  zeigte  sich 
vorzugsweise  bei  Kindern  in  einer  degenerirten  Gestalt  an 
den  untern  Extremitäten.  Es  fanden  sich  hier  thcils  die  cha- 
rakteristischen Geschwüre,  theils  blau-  und  braunrothe  runde 
I lecken,  mit  Bläschen  und  Pusteln  untermischt.  Starke 


186 


Ableitungen  auf  den  Dannkanal  und  Bäder  mit  Kali  sulphu- 
ratum  wurden  in  solchen  Fällen  mit  gutem  Erfolge  ange- 
wendet. 

Obwohl  die  Ansichten  über  die  Natur  des  Zoster  noch 
sein-  gethcilt  sind,  möge  derselbe  dennoch,  in  Betracht  seiner 
Bläschenform , hier  eine  Stelle  finden.  Man  hat  in  neuerer 
Zeit  den  Zoster  zn  den  rosenartigen  Affektionen  rechnen 
wollen,  weil  man  beobachtet  haben  wollte,  dass  Störungen  des 
Digestionsapparats  demselben  in  der  Regel  zu  Grunde  lägen. 
So  viele  Fälle  dieser  Krankheit  nun  auch  in  der  Poliklinik 
zur  Behandlung  kamen,  konnte  doch  nur  in  sehr  wenigen 
eine  derartige  Basis,  die  Gelleicht  richtiger  als  Complication 
zu  deuten  ist,  aufgefunden  werden. 

In  den  meisten  Fällen  war  das  Exanthem  ohne  alle  fie- 
berhafte Reaktion  hervorgebrochen,  und  die  Kranken  befanden 
sich  vollkommen  frei  von  allen  gastrischen  Symptomen.  Der 
Sitz  des  Ausschlags  war  am  häufigsten,  sowohl  auf  der  rechten 
als  linken  Seite,  die  eine  Hälfte  des  Unterleibes,  demnächst 
der  Brust  und  des  Rückens,  seltener  die  Extremitäten ; indess 
kamen  doch  mehrere  Fälle  vor,  wo  der  Oberarm  und  der 
Oberschenkel  befallen  .waren,  so  dass  der  Ausschlag  einem 
Gürtel  ähnlich  dieselben  vollständig  umkreiste.  Nur  in  zwei 
Fällen  zeigte  sich  der  Zoster  im  Gesichte : Beide  gehörten 
dem  weiblichen  Geschlechte  an ; bei  der  einen  brachen  grup- 
penweis zusammenstehende  Bläschen  auf  rothem  Grunde  an 
der  linken  Seite  der  Stirn  hervor,  nachdem  in  der  Nacht  fieberhafte 
Symptome  vorausgegangen  waren.  Bei  der  zweiten  waren  die 
rechte  Seite  der  Stirn,  die  rechte  Wange,  imd  die  rechte  Seite 
des  Halses  und  Nackens  der  Sitz  des  Ausschlags,  so  dass 
vorn  die  Mittellinie  des  Halses,  hinten  die  Processus  spino- 
si  der  Cervicalwirbel  die  Gränze  desselben  bildeten.  Bei 
einem  zweijährigen  Knaben  entwickelte  sich  der  Zoster  auf 
dem  linken  Oberschenkel  während  des  Verlaufs  der  Tussis 
convulsiva,  ohne  auf  dieselbe  irgend  einen  Einfluss  auszu- 
üben. 

Wenn  man  den  gastrischen  Ursprung  des  Zosters  in  der 


187 


Wahrheit  nicht  begründet  findet,  so  möchte  vielleicht  eine 
andre  Anschauungsweise  mehr  Aufklärung  über  diese  noch 
dunkle  Aftektion  versprechen.  Bei  Neuralgieen  kommt  Röthung 
der  befallenen  Theile  öfters  vor : auch  sind  Fälle  beobachtet 
worden,  wo  bei  Nervenverletzungen  Röthung  und  Bläschen- 
bildung in  der  Bahn  des  Nerven  erfolgte.  Dem  Zoster  gehen 
nicht  selten  schmerzhafte  Empfindungen  an  der  betreffenden 
Stelle  voraus ; die  den  Ausschlag  selbst  begleitenden  Schmer- 
zen sind  von  ungemeiner  Heftigkeit,  so  dass  sie  sich  aus  der 
äussem  Erscheinung  des  Leidens  kaum  erklären  lassen ; end- 
lich bleiben  auch,  nachdem  Bläschen  und  Röthe  längst  ver- 
schwunden sind,  nicht  selten  sehr  lebhafte  Schmerzen  in  dem 
befallenen  Theile  zurück,  die  ganz  den  Charakter  der  neural- 
gischen tragen,  und  gegen  welche  der  Gebrauch  des  kohlen- 
sauren Eisens,  des  Oleum  Terebinth.  aeth.  sich  wirksam  zeigt. 
In  einem  Fall  blieb  nach  dem  Abtrocknen  der  Bläschen  nicht 
Schmerz,  sondern  ein  auffallendes  Kältegefühl  an  der  betref- 
fenden Stelle  zurück.  Soll  nun  auch  damit  noch  nicht  aus- 
gesprochen sein,  dass  man  den  Zoster  als  Neuralgie  zu  be- 
trachten habe,  so  fordern  doch  solche  Betrachtungen  dazu  auf, 
der  Beziehung  des  Nervensystems  zu  jener  Krankheit  eine 
grössere  Aufmerksamkeit  zuzuwenden,  als  bisher  geschehen  ist. 

Pemphigus  wurde  mehrmals  beobachtet.  In  zwei 
Fällen  trat  er  bei  halbjährigen  aufgefütterten  Kindern  auf. 
Bei  dem  ersten  erschienen  die  Blasen  an  den  Händen  und 
Füssen,  bei  dem  zweiten  am  Rumpf  und  Kopf,  und  zwar 
vorzugsweise  auf  der  rechten  Seite,  so  dass  der  Ausschlao- 

# Ö 

sich  vom  rechten  Oberschenkel  bis  zur  rechten  Seite  der 
Stirn  erstreckte.  Das  erste  Kind  wurde  das  Opfer  einer 
gleichzeitig  bestehenden  Enteritis,  deren  anatomische  Erschei- 
nungen auch  bei  der  Section  gefunden  wurden  : die  Nieren, 
deren  Beziehung  zum  Pemphigus  unverkennbar,  boten  jedoch 
keine  wahrnehmbaren  Veränderungen  dar.  Im  zweiten  Falle 
veranlasste  der  strenge,  scharfe  Geruch  und  die  schwärzliche 
Färbung  der  Windeln  eine  genaue  Untersuchung  des  Urins, 
welche  Herr  Dr.  IIeintz  zu  übernehmen  die  Güte  hatte. 


188 


Die  einzige  Abnormität,  die  sich  im  Urin  vorfand,  war  eine 
geringe  Menge  eines  blauen  Pigmentes,  welches  sich  abfil- 
triren  liess,  und  den  Alkohol,  mit  welchem  es  digerirt  wurde, 
schwach  bläulich  färbte.  Dr.  Heintz  ist  geneigt,  diesen 
Färbestoff  für  das  schon  öfter  aufgefundene  Cyanurin  zu 
halten.  Um  nicht  durch  Medicamente  die  Beschaffenheit  des 
' Urins  zu  verändern,  war  die  Behandlung  dieses  Falls  ganz 
indifferent  geblieben,  zumal  ein  früher  stattgehabtes  Erbre- 
chen nach  dem  Erscheinen  des  Ausschlags  verschwunden 
war.  Auch  verlor  sich  derselbe  nach  Verlauf  von  zwei  bis 
drei  Wochen  von  selbst  und  der  Urin  nahm  seine  normale 
Beschaffenheit  wieder  an:  zugleich  aber  zeigte  sich  eine  pa- 
pulöse, mit  dunkelrothen  Flecken  imtermischte  Eruption  auf 
der  linken  Körperhälfte,  welche  in  V erbindung  mit  glänzender 
Röthe  und  Spannung  der  Fusssohlen  den  Verdacht  einer 
syphilitischen  Basis  zu  rechtfertigen  schien,  wenn  auch  die 
Eltern  bei  ihrer  Aussage,  niemals  krank  gewesen  zu  sein, 
beharrten.  Der  Gebrauch  des  Calomel  veranlasste  ein  bal-  • 
diges  Schwinden  des  Ausschlags,  und  nachdem  das  wieder 
eingetretene  Erbrechen  durch  eine  V erbindung  von  Aq.  Calcis 
mit  Aq.  Foeniculi  beseitigt  worden,  konnte  man  das  Kind  als 
geheilt  aus  der  Behandlung  entlassen. 

Die  dritte  Beobachtung  betrifft  ein  erwachsenes , am 
Pemphigus  chronicus  leidendes  Frauenzimmer,  welches 
bereit  s von  dem  verewigten  Prof.  Osann  in  der  Klinik  behandelt 
worden  war.  Dr.  Schulze  hat  diesen  merkwürdigen  Fall 
zum  Gegenstände  seiner  Inauguraldissertation  gewählt,  und 
auch  die  Resultate  der  vom  verstorbenen  Dr.  Simon  ange- 
stellten  Analyse  des  Contentum  der  Pemphigusblasen  mitge- 
theilt  (Observationes  et  disquisitiones  pathologicae  et  chemi- 
cae  circa  pemphigum  hystericum.  1840). 

M.  R.  ein  26jähriges  Mädchen  von  zartem  Körperbau, 
dunklem  Haar  und  Auge,  und  kleiner  Statur,  stammte  aus 
einer  im  Ganzen  gesunden  Familie:  nur  gab  sie  an,  dass  die 
Mutter  vor  sechs  Jahren  in  einem  Anfall  von  Manie  verschie- 
den sei,  und  ihre  einzige  Schwester  an  einem  chronischen 


189 


Flechtenausschlage  leide.  In  ihrer  frühesten  Jugend  wurde 
sie  von  den  gewöhnlichen  Kinderkrankheiten,  und  nach  den- 
selben von  einer  Tinea  capitis  befallen,  welche  trotz  der  An- 
wendung der  bewährtesten  Mittel,  sowohl  im  eigenen  Hause, 
als  auch  im  Charite  - Krankenhause,  hartnäckig  fortbestand 
imd  erst  um  ehe  Zeit  der  Pubertät  von  selbst  verschwand. 
Vierzehn  Jahre  alt,  verfiel  sie  in  Chlorose,  und  wurde  beson- 
ders von  heftigen  Palpitationen  belästigt ; nach  einem  Jahre 
stellte  sich  auf  den  Eintritt  der  Menstruation  die  Gesundheit 
•wieder  her.  Schon  damals  aber  gab  sich  eine  Neigung  zu 
Unregelmässigkeiten  der  Menses  kund,  die  bald  mehr  bald 
weniger  bis  zum  heutigen  Tage  fortbestand.  Dunkele  Farbe 
des  Menstruationsbluts  wechselte  mit  blasser,  geringer  Menge, 
fast  Suppression  desselben  mit  profusem,  einer  Metrorrhagie 
ähnlichem  Ausflusse  ab,  wobei  sich  nicht  selten  hysterische 
Erscheinungen  (Globus  u.  s.  w.)  geltend  machten.  In  den 
folgenden  Jahren  wurde  der  Gesundheitszustand  auf  mannig- 
fache Meise  getrübt:  sie  überstand  ein  gastrisch  - nervöses 
Fieber,  verfiel  später  in  die  Influenz,  endlich  auch  in  die 
Cholera  asiatica,  wobei  die  hysterischen  Symptome,  Krämpfe, 
zuweilen  selbst  ecstatische  Zufälle  mehr  oder  minder  fortbe- 
standen. Trotz  dieser  vielfachen  Leiden  concipirte  die  Kranke 
imd  gebar  in  ihrem  siebzehnten  Jahre  eine  Tochter,  wovon 
sich  eine  noch  jetzt  bestehende  mässige  Induration  des  Mut- 
terhalses herschreibt.  Sei  es  nun,  dass  der  gesunkene  Kräf- 
tezustand eine  Rückwirkung  auf  die  psychische  Energie 
ausübte,  ;oder  dass  erbliche  Anlage  und  Uterinstörungen 
begünstigend  hinzutraten,  gewiss  ist,  dass  die  Kranke,  nach- 
dem sie  im  22sten  Jahre  durch  eine  profuse  Hämoptysis 
noch  mehr  erschöpft  worden  war,  Störungen  der  geistigen 
Funktionen  verrieth.  Nach  einer  starken  Gemiithsbeweguhg 
und  darauf  folgender  Suppression  der  Katamenien  empfand 
sie  dumpfe  drückende,  mit  dem  Gefühl  der  Schwere  und 
heftigem  Jucken  verbimdene  Schmerzen  in  allen  Gliedern 
und  längs  der  \\  irbelsäule,  wobei  ein  starker  Andrang  des 
LI  utes  nach  dem  Kopfe  unverkennbar  war,  und  heftige  Pal- 


190 


pitationen  des  Herzens  stattfanden.  Damit  verbanden  sich 
die  der  Hysterie  angehörenden  Erscheinungen,  Globus,  Con- 
vidsionen,  endlich  Anfälle  von  Mania  furibunda,  in  denen 
die  Kranke  gegen  sich  und  ihre  Umgebung  wüthete,  und 
welche  sich  täglich  zwischen  sieben  und  zehn  Uhr  Abends 
wiederholten.  Nachdem  dieser  Zustand  drei  Wochen  ge- 
dauert hatte,  trat  eine  neue  Reihe  nervöser  Symptome  auf, 
die  sich  deutlich  als  Catalepsie  aussprachen:  die  Kranke 
wurde  plötzlich  des  Bewusstseins  beraubt,  und  blieb  mit  stie- 
rem Blick  unbeweglich  in  derselben  Stellung,  die  sie  beim 
Eintritt  des  Anfalls  einnahm.  Simulation  war  in  diesem 
Falle  nicht  wohl  anzunehmen,  da  sie  in  einem  solchen  Pa- 
roxysmus,  der  sie  auf  der  Strasse  befiel,  fast  übergefahren 
worden  wäre,  und  ein  anderes  Mal  sich  mit  einem»  heissen 
Eisen,  welches  sie  im  Moment  des  Anfalls  in  der  Hand  trug, 
stark  verbrannte,  ohne  das  mindeste  Zeichen  von  Empfindung 
zu  geben.  Allem  auch  diese  Zufälle  hinderten  die  Kranke 


nicht,  von  neuem  schwanger  zu  werden  und  ein  zweites  Kind 
in  die  Welt  zu  setzen,  welches  sich  gleich  dem  ersten  bisher 
einer  trefflichen  Gesundheit  zu  erfreuen  hatte.  Während  ei- 
nes Jahrs  blieb  sie  von  neuen  Zufällen  verschont,  und  nur 
Stuhlverstopfung,  zu  welcher  sie  immer  Neigung  gehabt  hatte, 
erforderte  von  Zeit  zu  Zeit  die  Anwendung  eröffnender  Mit- 
tel. Plötzlich  erfolgte  im  Jahre  1S37  ohne  alle  Veranlassung 
eine  allgemeine  Eruption  des  Pemphigus,  die  sich  bis  zum 
Jahre  1840  achtmal  und  zwar  in  nachstehender  Reihenfolge 
wiederholte  : 


erste  Eruption 

zweite 

dritte 

vierte 

fünfte 

sechste 

siebente 

achte 


September  1837 
October 
November 
December 

gegen  Ende  dess.  Mon. 
Januar  1838 

März 

Juni  1839 


Die  Dauer  der  einzelnen  Eruptionen  wechselte  von  vier  bis 


191 


vierzehn  Tagen,  doch  so,  dass  sechs  bis  sieben  Tage  die  ge- 
wöhnliche Frist  bildeten.  In  der  dritten  waren  die  Pemphi- 
gusblasen am  grössten,  und  enthielten  ein  dickeres,  dunkleres 
imd  eiweisshaltigeres  Fluidum,  als  in  den  übrigen  Anfällen. 
Im  Januar  1S4Ü  erfolgte  die  neunte  Eruption  des  Ausschlags. 

Gastrische  Störungen,  heftige  Kopfschmerzen,  Abgeschla- 
genlieit  der  Glieder  und  Schmerzen  in  der  Lendengegend, 
die  theils  aufwärts  bis  zum  Nacken,  theils  dem  Laufe  der 
Ureteren  entsprechend  abwärts  strahlten,  gingen  etwa  acht 
Tage  lang  der  Eruption  voraus.  Die  Haut  war  trocken,  der 
Urin  sehr  sparsam,  dick,  roth  gefärbt,  mit  weisslichem  Sedi- 
mente. Die  Katamenien  waren  supprimirt.  Zu  diesen 
Symptomen  gesellten  sich  Fieberbewegungen,  leichte  Zuckun- 
gen und  intensive  Schmerzen  in  den  Gliedern , wobei  die 
Kranke  das  Gefühl  hatte,  als  würde  siedendes  Wasser  über 
ihre  Knochen  gegossen.  Vier  und  zwanzig  Stunden  nach 
dem  Eintritte  des  Fiebers  entstanden  auch  an  der  Oberfläche 
des  Körpers,  da,  wo  später  der  Pemphigus  erschien,  die 
heftigsten  Schmerzen  brennender  Art,  das  Fieber  steigerte 
sich,  exacerbirte  bedeutend  gegen  Abend,  und  verband  sich 
mit  Schlaflosigkeit  und  Delirien.  Am  folgenden  Tage  zeigte 
sich  bereits  eine  fleckige  Ilöthe  in  der  Magengrube,  die 
Heftigkeit  des  Fiebers  Hess  etwas  nach  und  zwölf’  Stun- 
den später  war  der  Pemphigus  auf  der  Brust  entwickelt. 
Die  Blasen  hatten  meistens  eine  runde,'  seltener  eine  ovale 
Gestalt,  und  variirten  von  der  Grösse  einer  Erbse  bis  zu  der 
eines  Hühnereies  und  darüber:  ja  eine  Blase,  die  durch  das 
Zusammenfliessen  mehrerer  entstanden  war,  erstreckte  sich 
von  der  Pars  acromialis  des  einen  Schlüsselbeins  bis  zu  der 
des  andern  und  von  der  halbmondförmigen  Incisur  des  Brust- 
beins abwärts  bis  zur  Gegend  der  Brustwarzen,  so  dass  sie 
wohl  ein  Viertelpfund  Flüssigkeit  entleerte.  An  den  fol- 
genden Tagen  verbreitete  sich  nim  der  Ausschlag  über  den 
Nacken,  den  Rücken  und  die  obera  Extremitäten , während 
die  zuerst  entstandenen  Blasen  auf  der  Brust  bereits  im  Ab- 
trocknen begriffen  waren.  Auf  diese  Weise  hatte  man  Gele- 


192 


genlieit,  die  verschiedenen  Entwickelungsstufen  des  Pemphigus 
zu  gleicher  Zeit  zu  beobachten.  Die  im  Gesicht  aufschiessen- 
den  Blasen  standen  den  übrigen  an  Grösse  nach , eben  so 
diejenigen,  welche  die  Schleimhaut  der  Mundhöhle  zu  ihrem 
Sitze  wählten.  Allmählig  wurden  auch  die  untern  Körper- 
theile  befallen,  die  Haut  des  Bauches,  der  Schenkel,  endlich 
auch  der  Füsse;  nicht  einmal  die  Schleimhaut  der  Genitalien 
blieb  verschont;  in  der  Vagina  bildeten  sich  mehrere  Blasen, 
eine  von  der  Grösse  eines  Hühnereies,  so  dass  sie  von  Flüs- 
sigkeit strotzend  aus  der  Scheide  heraushing.  Schon  glaubte 
man  die  Krankheit  abgelaufen,  als  am  siebenten  Tage  nach 
dem  Erscheinen  der  ersten  Blasen  auf  der  Brust  plötzlich  ein 
neuer  Ausbruch  im  Gesicht  erfolgte.  Jetzt  beschränkte  sich 
der  Pemphigus  aber  nicht  blos  auf  Wangen  und  Lippen, 
sondern  ergriff  noch  die  untern  Augenlider,  die  behaarte  Haut 
des  Kopfs,  und  erregte  vorzugsweise  in  der  Mundhöhle  die 
peinigendsten  Beschwerden.  Die  Schleimhaut  der  Wangen, 
des  Gaumens,  der  Zunge  waren  mit  grossen,  von  Flüssigkeit 
strotzenden  Blasen  besetzt,  welche  eine  profuse  Salivation 
zur  Folge  hatten.  Das  Fieber  hatte  während  des  Ausschlags 
bedeutend  nachgelassen,  die  Schmerzen  waren  verschwunden, 
und  m den  letzten  Tagen  war  eine  bedeutende  Photophobie, 
als  Folge  der  Affektion  der  Augenlider  und  Conjunctiva, 
nebst  der  Salivation  das  einzige  lästige  Symptom,  worüber 
die  Kranke  zu  klagen  hatte.  Am  zehnten  Tage  zeigte  sich 
endlich  ein  Stillstand  des  Ausschlags,  und  die  Stellen,  welche 
der  Sitz  desselben  gewesen  waren,  desquamirten. 

Dr.  Franz  Simon’s  Untersuchung  der  in  den  Blasen 
enthaltenen  Flüssigkeit  ergab  folgendes  Resultat: 

Die  Flüssigkeit  ist  durchsichtig,  gelblich  gefärbt,  ohne 
eigentliümlichen  Geruch;  beim  Erwärmen  entwickelt  sich  in- 
dess  ein  solcher,  und  zwar  säuerlicher  Art,  der  ohne  Zweifel 
von  freier  Essigsäure  herrührt.  Das  auf  dem  Boden  des 
Gefässes  befindliche  schleimige  Sediment  zeigt  bei  der  mi- 
kroskopischen Untersuchung  zahlreiche  Schleimkörperchen. 

Das  spezifische  Gewicht  der  Flüssigkeit  ist  1,018,  also 


193 


schwerer  als  dasjenige  ähnlicher  Fluida,  wo  es  zwischen  1,006 
und  1,014  variirt. 

Gegen  die  verschiedenen  Reagentien  verhält  sich  diese 
Flüssigkeit  nicht  anders,  wie  lymphatische  Flüssigkeiten  über- 
haupt; besonders  bemerkenswerth  ist  ein  bedeutender  Gehalt 
an  Albuinen,  welches  sich  beim  Zusatz  von  Salpetersäure, 
Sublimat,  essigsaurem  Blei,  schwefelsaurem  und  essigsaurem 
Kupfer  und  salpetersaurem  Quecksilber  ergab.  Beim  vor- 
sichtigen Einträufeln  von  Essigsäure  oder  Liquor  Ammonii 
caustici  zeigte  sich  keine  Trübung,  vielmehr  wurde  die  Flüs- 
sigkeit noch  klarer  als  zuvor.  Das  Cyaneisenkalium  bewirkte 
einen  reichlichen,  weissen  Niederschlag;  das  Vorhandensein 
des  Globulins  liess  sich  jedoch  nicht  nachweisen. 

Beim  Erhitzen  der  Flüssigkeit  coagulirte  das  Eiweiss,  und 
es  blieb  ein  weisses,  salzig  schmeckendes  Residuum  zurück, 
welches  das  blaue  Lakmuspapier  nicht  röthete,  ein  Beweis, 
dass  die  Säure  durch  das  Kochen  ausgetrieben  war. 

Das  trockne  Residuum  wurde  nun  in  Aether  aufgelöst, 
und  um  das  F ett  zu  entfernen,  mit  Spiritus  Vini  alcoholisatus 
so  lange  gekocht,  als  es  noch  von  diesem  aufnahm:  dann 
wurde  es  abermals  mit  Wasser  gekocht,  und  auf  diese  Weise 
der  Rückstand  an  Eiweiss  erhalten.  Nachdem  das  Decoct 
bis  zum  geringsten  Rückstände  abgedampft  war,  wurde  so 
lange  Spir.  Vini  alcohol.  zugesetzt,  als  sich  noch  ein  Boden- 
satz bildete,  den  man,  um  die  Quantität  der  Salze  zu  be- 
stimmen, verbrannte.  Nach  dieser  Untersuchung  enthielten 
mm  100  Theile  der  Flüssigkeit: 

Cholesterinhaltiges  Fett  0,260 

Extractivstoff,  in  Spiritus  löslich,  mit  milchsaurem  und 

salzsaurem  Natron  und  chlorsaurem  Kali  . . . 0,650 

In  Wasser  lösliche  und  dem  Speichel  ähnliche  Materie  0,190 

Eiweiss  mit  phosphorsauren  Salzen 4,800 

Wasser 92,000 

Essigsäure  und  Schleimkörperchen  unbestimmt. 

Die  Pemphigusfiüssigkeit  zeichnet  sich  mithin  aus: 

1)  durch  eine  grosse  Menge  von  Schleimkürperchen, 

2)  durch  freie  Säure, 


13 


194 


3)  durch  eine  so  grosse  Menge  fester  Bestandteile,  wie 
sich  in  keinem  andern  pathischen  Secrete  findet. 

Harnstoff  liess  sich  trotz  der  sorgfältigsten  Untersuchung 
in  der  Flüssigkeit  nicht  auffinden. 

Bereits  vierzehn  Tage  nach  dem  Abtrocknen  der  Blasen 
erfolgte  plötzlich  ein  neuer  Ausbruch,  der  vorzugsweise  die 
Mundschleimhaut  zum  Sitze  wählte.  Die  Zunge  war  in  ih- 
rem ganzen  Umfange  von  einer  Blase  umgeben,  welche  den 
Raum  der  Mundhöhle  bedeutend  verengte,  und  suffocatorische 
Zufälle  hervorrief.  Fast  gänzliche  Suppression  der  Urinab- 
sonderung, heftige  Congestionen  nach  dem  Kopfe,  starkes 
Fieber  mit  sehr  vollem  Pulse  begleiteten  diesen  Zustand,  und 
machten  eine  antiphlogistische  Behandlung,  selbst  ein  Aderlass 
nothwendig.  Im  Stadium  der  Desquamation  fielen  nicht  al- 
lein die  Haare  der  Augenbrauen  und  die  Cilien,  sondern  auch 
fast  alle  Kopfhaare  aus. 

Ganz  ähnlich  war  der  eilfte  Airfall  der  Krankheit,  der 
im  Jahre  1841  eintrat.  Die  bisher  angewandte  Behandlung 
hatte  weniger  eine  Radicalkur,  als  vielmehr  eine  palliative 
Linderung  der  einzelnen  Ausbrüche  bezweckt,  und  bestand 
daher  meistens  in  der  Darreichung  secretionsbefördernder,  na- 
mentlich diuretischer  und  abführender  Mittel.  Im  Juni  1842 
meldete  sich  die  Kranke  von  neuem  in  der  Klinik.  Nach 
vorausgegangenen  Fieberbewegungen  und  ähnlichen  Sympto- 
men, wie  sie  bereits  geschildert  worden  sind,  hatte  sich  vor 
einigen  Tagen  der  Pemphigus  zum  zwölften  Male,  und  zwar 
vorzugsweise  im  Gesicht,  der  Mundhöhle  und  an  den  obem 
Körpcrtheilen  entwickelt.  Aussehn  und  Verlauf  des  Aus- 
schlags unterschieden  sich  nicht  von  dem  des  neunten  und 

O 

zehnten  Anfalls.  Die  kleineren  Blasen  schrumpften  gewöhn- 
lich durch  Verdunstung  ihres  flüssigen  Inhalts  zusammen, 
die  grösseren  platzten  und  entleerten  ein  nicht  corrodirendes 
Fluidum,  worauf  sich  schon  nach  wenigen  Tagen  eine  neue 
zarte  Epidermis  bildete.  Bei  der  Unwirksamkeit  aller  bisher 
gebrauchten  Mittel  und  dem  völligen  Mangel  jeder  Kausal- 
indication,  entschloss  man  sich,  im  Vertrauen  auf  die  gute 


195 


Wirkung  des  Mittels  bei  inveterirter  Psoriasis,  zur  Anwen- 
dung der  Aqua  picea.  Mit  Hintenansetzung  jedes  andern 
Mittels  wurde  das  Theerwasser,  in  der  bereits  näher  ange- 
gebenen Weise , von  der  Kranken  fast  sechs  Monate  lang 
gebraucht.  Seit  dieser  Zeit  hat  sich  der  Pemphigus  nur 
einmal,  und  zwar  in  sehr  milder  Form  gezeigt,  indem  um1 
auf  der  Zunge  und  dem  rechten  obern  Augenlide  Blasen 
aufschossen,  der  übrige  Körper  aber  völlig  verschont  blieb. 
Dieser  leichte  Anfall  fand  im  Winter  1843  statt  und  veran- 
lasste  die  Wiederholung  der  Theerkur,  welche  so  guten  Er- 
folg hatte,  dass  sich  bis  jetzt  keine  Spur  der  lästigen  Krank- 
heit wieder  gezeigt  hat. 

Ein  andei’er  Krankheitsfall  reihe  sich  hier  an,  dessen 
ausführlichere  Darstellung  durch  die  Seltenheit  der  Krank- 
heit gerechtfertigt  wird.  Herr  Dr.  Becker,  welcher  als 
Praktikant  der  Klinik  den  Kranken  behandelte,  hat  in  seiner 
Dissertation : Commentatio  inauguralis  de  Lepra  Arabum  tu- 
berculosa.  Marburgi  1843.,  eine  gelungene  Beschreibung 
desselben  geliefert. 

Georg  F l esch neu,  56  Jahre  alt,  aus  Berlin  gebürtig,  und 
von  gesunden  Eltern  abstammend,  hatte  in  seiner  Kindheit  und 
Jugend  an  scrophulösen  Geschwülsten  der  Cervicaldrüsen, 
welche  nicht  selten  in  Abscesse  übergingen,  gelitten.  Wie 
gering  seine  Disposition  zu  Hautkrankheiten  war,  ging  aus 
dem  Umstande  hervor,  dass  er,  ohne  je  geimpft  worden  zu 
sein,  mit  seinem  von  den  Blattern  befallenen  Vetter  bis  zu 
dessen  Tode  in  einem  Bette  schlief,  und  dennoch  von  der 
Krankheit  verschont  blieb.  Während  der  Feldzüge  bekam  er 
im  südlichen  Frankreich  die  Krätze,  welche  schnell  unter- 
drückt wurde.  Obwold  den  Freuden  der  Liebe  und  des 
Weins  ergeben,  leugnet  er  doch  jede  syphilitische  Infection ; 
auch  liess  die  wiederholte  Untersuchung  der  Genitalien  und 
der  Rachenschleimhaut  nicht  die  geringste  Spur  früherer  sy- 
philitischer Affektionen  entdecken.  Nach  der  Rückkehr  aus 
dem  Felde  setzte  er  die  gewohnte  ausschweifende  Lebens- 
weise fort.  Eine  mit  seiner  sonst  gesunden  Frau  erzeugte 

13* 


196 


Tochter  starb  in  ihrem  23sten  Jahre  an  Phthisis  pulmonaliß. 
F.  trat  nnn  in  das  Amt  eines  Kassendieners,  und  erfreute 
sich  bis  vor  anderthalb  Jahren  einer  ungetrübten  Gesundheit, 
als  er  einen  kleinen  Knoten  in  der  Gegend  der  rechten  Sub- 
maxillardrüse  bemerkte , welcher  nach  seiner  Aussage  durch 
einen  Schnitt  beim  Rasiren  entstanden  sein  sollte.  Dass  dies 
jedoch  nicht  der  Fall  gewesen,  erhellt  schon  daraus,  dass 
gleichzeitig  in  der  rechten , später  auch  in  der  linken  Knie- 
kehle ähnliche  Knoten  zum  Vorschein  kamen,  die  sich  nach 
kurzer  Zeit  auch  auf  den  Armen,  der  Brust  und  im  Gesichte 
zeigten,  schnell  an  Umfang  Zunahmen,  und  den  Kranken  so  beun- 
ruhigten, dass  er  am  12.  Mai  1842  in  der  Poliklinik  Hülfe  suchte. 

Die  gelb-röthliche  Gesichtshaut  war  durch  zahlreiche 
grössere  und  kleinere,  in  Gruppen  beisammenstehende  und 
verschiebbare  Hauttuberkeln  uneben,  hart  und  knotig ; tiefe 
Längsfurchen  durchzogen  die  Stirn  und  erstreckten  sich  zu 
beiden  Seiten  der  Nasenflügel  bis  hinab  zu  den  Mundwinkeln. 
Hierdurch,  so  wie  durch  die  schlaffen,  lang  herabgezogenen 
Ohren,  durch  die  kleinen,  in  unstetem  Feuer  glühenden  Au- 
gen, in  welchen  sich  der  Ausdruck  der  Lüsternheit  nicht 
verkennen  liess,  durch  die  struppig  hervorstehenden  Bart- 
haare bekam  das  Gesicht  einen  satyrartigen  Ausdruck.  Aber 
auch  der  behaarte  Theil  der  Kopfhaut  war  nicht  verschont 
geblieben;  auf  dem  Hinterhaupte  zeigte  sich  eine  den  be- 
schriebenen ähnliche  Geschwulst,  welche  von  Haaren  fast 
entblösst,  grauweiss  und  von  tiefen  gewundenen  Furchen 
durchzogen,  fast  das  Anselm  des  Gehirns  darbot,  zumal  sie 
von  weisslicher,  nicht  wie  die  Knollen  im  Gesicht  von  gelb- 
rother  Farbe  war.  Auf  der  rechten  Seite  des  Halses,  vom 
Ohrläppchen  bis  in  die  Nähe  des  Kinns  lag  eine  harte,  kno- 
tige, 4 Zoll  lange  und  an  ihrem  obern  Ende  2 Zoll  breite 
Anschwellung,  welche  von  gelbröthlicher  Farbe  war,  aus  ei- 
nem Convolut  von  Hauttuberkeln  bestand,  und  so  wie  eine 
ähnliche  kleinere  und  flachere  Geschwulst  auf  der  linken  Seite 
des  Halses , allnfählig  in  die ' lederartige  knollige  Metamor- 
phose der  Halshkut  überging.  Auf  der  Oberfläche  dieser 


197 


Knoten,  vorzugsweise  der  linken  Seite,  zeigte  sich  eine  feine, 
weisse  Abschilferung.  *) 

Die  Untersuchung  des  von  Kleidungsstücken  entblössten 
Körpers  ergab  eine  Broncefarbe  des  ganzen  Rumpfes  und  der 
Extremitäten,  mit  Ausnahme  der  von  der  Krankheit  völlig 
verschonten  Hände  und  Füsse.  Farbe,  Temperatur,  Sensi- 
bilität und  Motilität  derselben  waren  unverändert,  an  den  Na- 
gelgliedem  der  Finger  und  Zehen  nicht  die  geringste  Abnor- 
mität wahrzunehmen.  Nur  über  anhaltende  und  nicht  zu 
beseitigende  Kälte  der  Hände  und  Füsse  wurde  oft  geklagt. 
An  allen  andern  Theilen  war  die  Haut  lederartig  verhärtet ; 
hier  imd  da  zeigten  sich  Knoten  in  derselben,  vorzugsweise 
aber  in  den  zur  Achselhöhle  sich  hinziehenden  Falten  und 
an  den  Gelenken,  wo  man  ganze  Convolute  wahrhafter,  nicht 
verschiebbarer  Hautknollen  wahrnahm.  Die  Achsel-  und 
Leistendrüsen , vorzugsweise  die  erstem,  waren  bedeutend 
vergrössert,  von  fast  scirrhöser  Härte,  und  standen  durch  sehr 
entwickelte  Lymphgefässe  mit  ähnlichen  Geschwülsten  an 
den  Ellbogen-  imd  Kniegelenken  in  Verbindung.  Mit  Aus- 
nahme der  normal  beschaffenen  Eichel  und  Vorhaut  nahm 
auch  die  Haut  der  äussem  Geschlechtstheile  an  der  allge- 
meinen krankhaften  Färbung  und  Entartung  Theil.  Achsel- 
höhle, Brust  und  Schaamberg  zeigten  keine  Spur  der  ihnen 
zukommenden  Behaarung,  indem  nach  Aussage  des  Kranken 
seit  dem  Beginne  der  Krankheit  die  Haare  nach  und  nach 
sämmtlich  ausgefallen  waren. 

Trotz  dieser  Entartimg  der  Haut  war  doch  die  Sensi- 
bilität derselben  nicht  im  geringsten  beeinträchtigt.  Ihre  Se- 
cretion  war  bedeutend  vermehrt , klebrig  imd  von  so  saurer 
Beschaffenheit,  wie  sie  kaum  im  Rheumatismus  acutus  ge- 
funden wird.  Diesem  Umstande  muss  man  wahrscheinlich 
den  heftigen  Pruritus  zuschreiben,  welcher  dem  Kranken  keinen 
Augenblick  Ruhe  gönnte  und  sich  zur  grössten  Qual  steigerte, 
sobald  er  die  entblösste  Haut  dem  unmittelbaren  Einflüsse 


*)  Vergl.  das  Portrait  des  Kranken  auf  der  zwntcn  Tafel. 


198 


der  Luft  aussetzte,  während  die  Wärme  seine  Leiden  min- 
derte. Aus  diesem  Grunde  pflegte  er  sich  selbst  im  heissen 
Sommer  übermässig  warm  zu  kleiden. 

Bei  genauerer  Untersuchung  bemerkte  man  auf  der  Haut 
des  Rückens  livide  Flecke,  welche  mit  der  allgemeinen  gelb- 
rothen  Farbe  ab  wechselten.  Die  Ursache  dieses  Farbenspiels 
lag  in  der  grossem  oder  geringem  Entwicklung  der  venösen 
Capiüargefässe,  welche  vorzugsweise  im  Umkreise  der  entste- 
henden Hauttuberkeln  schon  mit  dem  unbewaffneten  Auge,  noch 
mehr  aber  mit  Hülfe  einer  Lupe  wahrgenommen  werden  konnten. 

In  naturgemässem  Verhältniss  zu  der  gesteigerten  Haut- 
thätigkeit  stand  die  Menge  des  entleerten  Urins.  Der  Kranke 
urinirte  nur  sehr  wenig,  höchstens  3 — 4 ^ täglich,  der  Ham 
selbst  war  sehr  dunkel,  nicht  sedimentirend,  und  von  auffal- 
lend saurer  Beschaffenheit.  Die  Functionen  des  Genitalien- 
systems waren  wesentlich  gestört,  indem  nicht  allein  vollkom- 
mene Impotenz,  sondern  sogar  entschiedener  Widerwille  gegen 
die  Ausübung  des  Beisclüafs  stattfand.  In  Widerspruch  mit 
der  kräftigen  Muskulatur  und  dem  starken  Knochenbau  des 
Kranken  stand  die  grosse  Abgeschlagenheit  und  Trägheit, 
die  sich  in  allen  seinen  Handlungen  aussprach.  Mit  Aus- 
nahme einer  bedeutenden  Abnahme  des  Gedächtnisses,  die  sich 
seit  dem  Beginne  der  Krankheit  eingefunden,  und  einer 
ungewöhnlichen  Reizbarkeit,  waren  keine  andre  krankhafte 
Symptome  aufzufinden. 

Schon  der  erste  Anblick  des  Kranken  genügte,  um  die 
Diagnose  sofort  auf  Lepra  Arabum  tuberculosa  (Ele- 
phantiasis) zu  stellen.  Damit  war  zugleich  auch  die 
Prognose  gegeben:  denn  wenn  auch  die  Krankheit  an  sich 
nicht  den  Tod  herbeiführt,  so  gesellte  sich  doch  in  den  mei- 
sten bisher  beobachteten  Fällen  allgemeiner  Hydrops,  oder 
Phthisis  laryngea  hinzu. 

Die  von  andern  Aerzten  bisher  versuchten  Mittel,  meist 
urintreibende  und  abführende,  waren  ganz  erfolglos  geblieben. 
Um  daher  sogleich  kräftig  auf  die  Constitution  des  Kranken 
einzuwirken,  wurde  in  der  Poliklinik  der  Gebrauch  des 


199 


ZiTTMANN’schen  Decocts  verordnet  und  vier  Wochen  fortge- 
setzt. Diese  Kur  bewirkte  nicht  allein  einen  Nachlass  der 
starken  Schweisse  und  des  so  lästigen  Juckens,  wobei  gleich- 
zeitig die  Quantität  des  stark  sedimentirenden  und  noch  immer 
sehr  sauren  Urins  beträchtlich  zunahm,  sondern  hatte  auch 
ein  Schwinden  der  Hauttuberkeln  an  den  Extremitäten  und 
ein  Abschwellen  der  Achsel-  und  Leistendrüsen  bis  fast  zu 
ihrem  normalen  Umfange  zur  Folge.  Auch  die  Abschilferung 
der  Hautknollen  im  Gesicht  und  am  Halse  verlor  sich.  Da- 
o-eo-en  liess  sich  nicht  verkennen,  dass,  während  die  Krankheit 

o o 

an  den  Extremitäten  sich  zurückzubilden  schien,  die  auf  dem 
Kopfe,  im  Gesicht  und  am  Halse  befindlichen  Knoten  an 
Umfang  bedeutend  Zunahmen,  imd  an  mehrern  Stellen  näs- 
sende Einrisse  bekamen,  so  dass  die  Entstellung  des  Gesichts 
imd  das  Volumen  des  Kopfes  um  ein  Bedeutendes  vermehrt 
wurde.  Auffallend  war  dabei  die  Trägheit  des  Darmkanals, 
indem  in  der  letzten  Zeit  der  Kur  das  Decoct  und  die  stärk- 
sten Dosen  Calomel  (es  wurden  einmal  acht  Gran  pro  dosi 
gegeben)  kaum  im  Stande  waren,  einmalige  Leibesöffnung 
hervorzurufen.  Erst  einer  Verbindung  des  Calomel  mit  star- 
ken Dosen  Sapo  jalappin.  gelang  es,  einige  breiartige,  saure, 
die  Umgebung  des  Afters  corrodirende  Stuhlgänge  zu  be- 
wirken. Nach  achttägiger  Kühe  wurde  nun  zu  Ende  des 
Monats  Juni  die  Solutio  Fowleri  in  folgender  Form  verordnet: 
Solut.  Fowleri,  Acp  destill.  ää  5j  , Tinct.  thebaicae  3j. 
M.  D.  S.  zweimal  täglich  sechs  Tropfen  zu  nehmen,  womit 
der  Gebrauch  eines  Thees  aus  Spec.  pro  Decoct.  Lignor.  ver- 
bunden wurde.  Kaum  war  jedoch  der  Gebrauch  des  Arseniks 
begonnen,  als  eine  beunruhigende  Steigerung  aller  Krankheits- 
erscheinungen das  Wiederaussetzen  desselben  dringend  gebot. 
Die  Geschwülste  im  Gesicht  und  am  Halse  erreichten  das 
Doppelte  ihres  frühem  Umfangs,  so  dass  das  rechte  Auge  und 
der  Gehörgang  derselben  Seite  ganz;  geschlossen  wurden ; eine 
von  brennendem  Gefühl  begleitete  Röthe  überzog  die  Ge- 
schwülste, deren  nässende  Falten  und  Risse  Fliegen  und 
anderes  Ungeziefer  herbeilockten,  welches  die  Leiden  des 


200 


Kranken  auf  den  höchsten  Grad  steigerte.  Das  heftige  Jucken 
veranlasste  den  Kranken,  mehrere  sich  bildende  Knoten  auf- 
zukratzen, wobei  sich  eine  geringe  Menge  dünner,  zäher, 
gelblich- weisser  I lüssigkeit  ergoss.  Bei  der  mikroskopischen 
Untersuchung  derselben  fand  Herr  Dr.  Becker  Epidermis- 
zellen  imd  eine  beträchtliche  Menge  von  Blut-  und  Fettkü- 
gelchen. Die  Vervollständigung  der  Untersuchung  durch  die 
chemische  Analyse  war  bei  der  geringen  Quantität  der  er- 
haltenen Flüssigkeit  unmöglich.  Da  der  Kranke  den  Mund 
nicht  mehr  öffnen  konnte,  so  musste  man  sich  zur  Unter- 
suchung der  rissigen  lederartigen  Zunge  des  Fingers  bedienen, 
den  man  nach  Art  eines  Keils  in  den  Mund  hineindrängte. 
Gleichzeitig  schwoll  der  ganze  rechte  Arm  an,  gab  aber  der 
untersuchenden  Hand  überall  nur  das  Gefühl  einer  gleich- 
mässigen  Härte.  Trotz  aller  dieser  Erscheinungen  blieb  der 
ganze  Zustand  auch  jetzt  noch  vollkommen  fieberlos.  Ein 
starkes  Abführmittel  aus  Infus.  Fol.  Sennae  mit  Syr.  domestic. 
ermässigte  zwar  die  Hitze  und  Röthe  des  Gesichts,  so  dass 
nach  dreitägigem  Intervall  der  Gebrauch  des  Arseniks  wieder 
begonnen  werden  konnte;  allein  alle  Bemühungen  blieben  nun 
erfolglos : die  Gesichtsgeschwülste  nahmen  mehr  und  melfr 
zu,  die  jauchige  Secretion  ihrer  Furchen  wurde  stärker, 
neue  Knollen  bildeten  sich  am  Rumpf  und  an  den  Extremi- 
täten, die  Leisten-  und  Axillardrüsen  schwollen  von  neuem 
an,  die  Schleimhäute  der  Augenlider  und  der  Mundhöhle 
bedeckten  sich  mit  einem  dicken,  weissgelben  Schleim,  so  dass 
nach  acht  Tagen,  zumal  da  heftige  Leibschmerzen  eintraten, 
die  Solut.  Fowleri  mit  dem  Kali  hydriodicum,  in  einem  Inf. 
Fol.  Sennae  aufgelöst,  vertauscht  wurde.  Allein  auch  dieses 
Mittel  vermochte  nicht  die  Fortschritte  der  Krankheit  aufzuhal- 
ten: die  Mitleidenschaft  der  Schleimhäute  trat  von  Tag  zu 
Tag  mehr  hervor,  so  dass  ein  dicker  eiterartiger  Scldeim  fort- 
während aus  dem  Munde  floss,  und  ein  entschieden  blennor- 
riioischer  Zustatid  der  Conjunctiva,  vorzugsweise  auf  dem 
rechten  Auge,  sieh  entwickelte.  Eine  mühsame,  beschleunigte, 
sonore  Respiraticn  und  starke  Schlingbeschwerden  bekunde- 


201 


ten  die  Theilnahme  der  Bronchial-  und  Schlundschleimhaut. 
Die  Stimme  hatte  einen  rauhen,  heisem  Ton  angenommen. 
Ein  fötider  Geruch  umgab  das  Lager  des  Kranken,  dessen 
Bett  durch  die  anhaltenden  sauren  Schweisse  im  eigentlichen 
Sinne  des  Worts  durchnässt  wurde.  Bemerkenswerth  war 
der  Mangel  aller  febrilen  Symptome  und  die  Integrität  der 
psychischen  Functionen.  Die  unerträglichen  Leiden  Hessen 
den  Kranken  selbst  seinen  Tod  sehnlichst  herbeiwünschen. 
So  blieben  die  Erscheinungen  der  Krankheit  bis  zum  21.  Juli, 
als  sich  plötzlich  die  Geschwulst  des  Gesichts  verminderte, 
der  Mund  wieder  geöffnet  werden  konnte,  und  die  jauchende 
Secretion  der  Geschwülste  abnahm:  dafür  entwickelte  sich 
aber  Anasarca  der  rechten  Körperhälfte  und  Ascites:  auch 
im  Thorax  schien  sich  seröses  Exsudat  zu  bilden;  doch  liess 
sich  dies  nicht  mit  Sicherheit  ermitteln,  da  der  Kranke  sich 
der  Anwendung  der  physikalischen  Untersuchungsmethoden 
hartnäckig  widersetzte.  Auch  Fieber  mit  starken  abendlichen 
Exacerbationen  bildete  sich  jetzt  aus,  und  ein  tief  eindringen- 
der Decubitus  beschleunigte  die  Auflösung  des  Kranlien, 
die  unter  suffocatorischen  Zufällen  am  30.  Juli  erfolgte. 

Am  folgenden  Tage  wurde  die  Section  von  Herrn  Prof 
Schlemm  gemacht. 

Beim  Einschneiden  der  Brustbedeckungen  zeigte  sich 
das  Fett  im  Unterhautzellgewebe  total  geschwunden  und  durch 
eine  seröse  Flüssigkeit  ersetzt.  Dieselbe  Bemerkung  gilt 
von  dem  Fettzellgewebe  an  allen  übrigen  Körpertkeilen.  Die 
Haut  selbst  war  verdickt  und  verhärtet,  so  dass  sie  erst  durch 
wiederholte  Incisionen  getrennt  werden  konnte.  Im  vordem 
Mediastinum  fand  sich  eine  bedeutende  Menge  milchig -se- 
röser Flüssigkeit.  Die  Lungen  adhärirten,  besonders  in  der 
linken  Thoraxhälfle  und  mit  ihrer  hintern  Fläche  mehr  oder 
weniger  fest  an  der  Costalpleura : auch  zeigte  sich  im  hintern 
obem  Theile  der  Anken  Brusthöhle  eine  ziemlich  beträchtliche 
Menge  coagulirter  Lymphe.  Beide  Brusthöhlen  enthielten 
viel  wässrige  gelbliche  Flüssigkeit,  deren  Menge  in  der  linken 
wohl  zwanzig  Unzen  betragen  mochte.  Die  peripherischen 

14 


i 




Berlin,  gedruckt  bei  J.  F.  Stare  lce. 


Z,JÄ  . FuaZ  p.S.Dei&niejrs  in,J3&r&rz/.